„Viele Betroffene scheuen Gang in die Praxen“: Der Medibus versorgt Obdachlose in Leipzig

Auf mobiler Basis Menschen ohne festen Wohnsitz niedrigschwellig versorgen und beraten – mit diesem Ziel fährt der Medibus in Leipzig Standorte an, an denen sich Obdachlose aufhalten. Ein Projekt, in dem nicht nur medizinische Kompetenz gefragt ist.
Das linke Schienbein von Enrico ist eine Fläche aus geschwollenem Rot und Blau. Eine Infektion unter der Haut, die durch Risse nach außen dringt. Behutsam entfernt Daniel Lange den alten, fleckigen Verband. „Das ist nicht dramatisch, muss aber im Auge behalten werden“, sagt der Krankenpfleger zu seinem Patienten.
Enrico freut sich über die Behandlung, denn sie gehört nicht zu den
Selbstverständlichkeiten seines Lebens. Der 47-Jährige, obdachlos und derzeit ohne Krankenversicherung, sitzt nicht in einer Praxis, sondern in einem Bus. „Super, dass es diese Möglichkeit gibt“, sagt er.
Bewährte Kombination in Reudnitz
Auf mobiler Basis Menschen ohne festen Wohnsitz niedrigschwellig zu versorgen und zu beraten, das ist das Ziel des Projekts. Mehrmals in der Woche und an Wochenenden macht diese Praxis auf Rädern, ein umgebauter Rettungswagen, an verschiedenen Leipziger Standorten Halt.
So wie an diesem Tag im Stadtteil Reudnitz. Daniel Lange parkt sein Fahrzeug am Koehlerplatz, in Nachbarschaft zum Team der „Mobilen Alternative“. Eine Kombination, die sich bewährt hat: Die Streetworker vom Zentrum für Drogenhilfe können auf das medizinische Angebot hinweisen und umgekehrt.
Im Spätsommer 2022 startete das Projekt. Damals noch ohne Fahrzeug, mit Rucksäcken und kleinen Kisten für die nötigste medizinische Ausstattung, bei Wind und Wetter. Ein Jahr darauf stellte das Sozialamt den Bus zur Verfügung. „Eine wichtige Unterstützung“, betont Lange, „so sind Hygiene und Privatsphäre gewährleistet.“
Mittlerweile ist die Initiative ein fester Bestandteil bei der Versorgung oder Beratung von obdachlosen Menschen in Leipzig. 2024 verzeichnete der 29-Jährige 895 Behandlungen an den Haltepunkten, „doch der Bedarf ist höher als unser Angebot“.
Ärzte helfen auf ehrenamtlicher Basis
15 Stunden pro Woche arbeitet Lange im Medibus, 16 als Pfleger im St. Elisabeth-Krankenhaus im Leipziger Süden. Die 2023 für das CABL-Projekt eingerichtete Personalstelle teilt er sich mit Koordinatorin Malika Autorkhanova.
Alles andere funktioniert auf rein ehrenamtlicher Basis: Ein Dutzend Ärztinnen und Ärzte sowie Sanitäter engagieren sich aus der gemeinsamen Überzeugung, dass jedem Menschen eine medizinische Versorgung zusteht.
Zum ersten Mal macht an diesem Tag Kianush Dräger mit, Rettungssanitäter im kassenärztlichen Notdienst. „Ich möchte ehrenamtlich etwas möglichst Sinnvolles tun“, sagt der 23-Jährige.
Der Medibus gehört zum Projekt „Umfeldnahe medizinische Versorgung von Menschen ohne festen Wohnsitz“ (UVO). Dessen Träger ist CABL, Kurzform für „Clearingstelle und Anonymer Behandlungsschein Leipzig e. V.“ – eine Sozialberatungsstelle für Menschen, die keinen regulären Zugang zum Gesundheitssystem haben.
Aus Schamgefühl nicht in die Arztpraxis
Das Hauptanliegen: das Ermöglichen kostenfreier ärztlicher Behandlungen und einer Anbindung an die Regelversorgung. Dafür vergibt der Verein anonyme Behandlungsscheine, um ärztliche Versorgung zu ermöglichen.
Doch auch das ist nicht unbedingt einfach. „Viele Betroffene scheuen den Gang in die Praxen, entweder weil sie schon mal Diskriminierung erfahren haben oder aus Schamgefühl“, erklärt Lange. „Dadurch besteht die Gefahr, dass sich unbehandelte Wunden und leichte Erkrankungen verschlimmern.“
Hier greift das Angebot – mit einem niedrigschwelligen Zugang durch Sprechstunden in Übernachtungshäusern oder Treffs. Hinzu kommt der Medibus. Er steht freitags 10–12 Uhr am Koehlerplatz, an der Bahnhofsmission am selben Tag von 14 bis 16 Uhr sowie mittwochs ab 18.30 Uhr und sonntags ab 20 Uhr am Hauptbahnhof.
Melden Streetworker medizinischen Bedarf in der jeweiligen Nähe, werden flexibel auch andere Orte angefahren. In vielen Fällen geht es um Infektionen und parasitäre Erkrankungen.
Nicht alle erscheinen zur Nachsorge
Auch diesmal, im kleinen Park an der Dresdner Straße, haben Lange und Kianush Dräger gut zu tun. Patient Enrico benötigt eine Wundversorgung am linken Bein. „Das ist schon zweimal operiert worden, aber da ist was schiefgelaufen.“
Ein Satz, der Raum für Interpretationen lässt. „Schiefgelaufen“, das kann medizinische Fehler beinhalten wie mangelnde Kooperation der Versorgten: Nicht alle erscheinen zur vereinbarten Nachsorge. Hinzu kommen häufig schlechte hygienische Lebensumstände, die eine Heilung be- oder verhindern.
Lebenserwartung unter 50 Jahren
Fehlende medizinische Betreuung von auf der Straße Lebenden gehört zu den Faktoren, die sich deutlich auf die Lebenserwartung auswirken: Laut mehrerer Studien liegt sie bei Menschen ohne Obdach bei unter 50 Jahren. Das Risiko, vorzeitig zu sterben, ist also drei- bis viermal höher.
Sehr offen geht Enrico mit seiner Situation um. „Ich bin Alkoholiker“, sagt er. Sechs bis acht Flaschen Bier trinke er pro Tag. Obdachlos sei er nach dem Tod seiner Partnerin geworden, für die er nach Leipzig gezogen sei, aber keinen Wohnsitz angemeldet hatte. „Zurzeit übernachte ich in einer Gartenanlage.“
Psychiatrischer Dienst am Bahnhof in Leipzig
Zum nächsten Verbandswechsel soll Enrico am Sonntag wiederkommen, wenn der Medibus an der Bahnhofsmission steht. Übrigens noch eine bewährte Konstellation: Die aufsuchende Sprechstunde wird gekoppelt mit dem mobilen sozialpsychiatrischen Dienst für Menschen mit psychischer Erkrankung. Beide Projekte sind mit dem Klinikum St. Georg gekoppelt.
Hier am Koehlerplatz zeigt sich gerade, wie effizient die temporäre Nachbarschaft unterschiedlicher Angebote sein kann: Nach der Behandlung im Medibus hilft Sozialarbeiterin Katja von der „Mobilen Alternative“ dem frisch verbundenen Enrico beim Beantragen von Sozialleistungen. Bezieht er die, kann er wieder auf seine Krankenversicherung zurückgreifen.
Der nächste Patient möchte sich Verbandszeug abholen, um sich selbst zu versorgen. Lange gibt ihm das Gewünschte, die beiden wechseln einige Sätze. Der Mann hat Angst vor einem Gerichtstermin am selben Tag, obwohl er nur als Zeuge geladen ist. „Hoffentlich stecken die mich nicht in den Knast“, sagt er. Daniel Lange beruhigt ihn.
Und so geht das weiter, bis kurz nach 12. Bustür auf, Bustür zu. Am Ende seines ersten Einsatzes ist Kianush angetan. „Mir gefällt sehr, dass man mehr Zeit hat und sich mit den Leuten unterhält“, so sein Fazit. „Es geht hier nicht so eng getaktet zu wie im Notdienst.“
Auch ein Stück Sozialarbeit
Daniel Lange bestätigt: „Einfach mal reden zu können, ist für unsere Klientel sehr wichtig.“ Keine Frage, hier wird auch ein Stück Sozialarbeit geleistet. Doch wie nachhaltig ist all das? Ja, Lange hat schon erlebt, dass ihm eine frühere Klientin strahlend berichtete, jetzt einen Job und eine Wohnung zu haben.
Doch der Ausbruch aus dem fatalen Zusammenspiel von Obdach-, Arbeits- und Zukunftslosigkeit ist selten. Wie verteidigt Daniel Lange die Zufriedenheit über eine sinnstiftende Arbeit gegen die Frustration, nicht genug gegen das zunehmend wachsende Elend ausrichten zu können?
„Beides ist präsent“, sagt der junge Mann. „Natürlich ist es traurig, dass es in unserem wohlhabenden Land keine soziale und gesundheitliche Gerechtigkeit gibt, obwohl es sich um ein Grundrecht handelt.“ Auf der anderen Seite wiegt der Wert der Begegnung viel, die Dankbarkeit der Leute.
Da ist zum Beispiel Enrico, der das Team vom Medibus wertschätzt. Am Sonntag nach dem Verbinden seines Beins ist er übrigens nicht am Hauptbahnhof erschienen. „Er wird wiederkommen“, vermutet Daniel Lange. „Und dann werden wir für ihn da sein.“