„Was könnte Wladimir Putin von uns wollen?“

Sachsens Ministerpräsident rüttelt gern an Tabus. Nun fordert er einen neuen Umgang mit der AfD – und hat eine Idee, wie sich Gespräche mit Russland anbahnen ließen.

Michael Kretschmer ist seit 2017 Ministerpräsident des Freistaats Sachsen – und der Kampf gegen eine erstarkende AfD ist die Konstante seiner Amtszeit. Seit Kurzem steht Kretschmer, der einer der fünf stellvertretenden Vorsitzenden der Bundes-CDU ist, einer Minderheitsregierung aus CDU und SPD vor. Gerade muss der Ministerpräsident ohne Mehrheit einen Haushalt aufstellen. Zwischen Gesprächen darüber empfängt er in seinem funktionalen Zweitbüro im Sächsischen Landtag, am Dresdner Elbufer.

ZEIT ONLINE: Herr Kretschmer, im Bundestag sitzt nun erstmals eine sehr große AfD-Fraktion. Hier im Landtag in Dresden kennen Sie das längst: Die AfD stellt schon seit 2019 grob jeden dritten Abgeordneten. Wie lernt man, mit diesem rechten Block im Parlament umzugehen?

Michael Kretschmer: Wir wissen seit ihrem Einzug 2014 in den Landtag in Sachsen und seit 2017 in den Bundestag ganz genau, mit wem wir es zu tun haben – dass diese Partei kein Interesse an ehrlicher, inhaltlicher Auseinandersetzung hat und dass sie ihren radikalen Populismus ohne Rücksicht auf Verluste ins Netz trägt. All das wissen wir in Deutschland, nur haben Medien, Politik und Gesellschaft bislang keinen richtigen Umgang gefunden.

ZEIT ONLINE: Haben Sie einen Rat für die Kollegen im Bundestag, wo nun erstmals 151 AfD-Abgeordnete im Parlament sitzen?

Kretschmer: Eines ist klar: Das Konzept, sich nicht mit den Inhalten der AfD zu beschäftigen, hat einen großen Anteil daran, dass diese Partei heute so viel mehr Zuspruch und mehr Mandate hat, als noch vor wenigen Jahren.

ZEIT ONLINE: Was soll dann den Kurs gegenüber der AfD ausmachen?

Kretschmer: Wir müssen die Realitäten in unserem Land anerkennen und wahrnehmen, was die Mehrheit der Menschen einfordert von der Politik – allem voran beim Thema Migration. Es ist uns gemeinsam mit der SPD in den Koalitionsverhandlungen im Bund gelungen, wirklich einen Politikwechsel zu organisieren, und zwar entlang dessen, was die Menschen für notwendig halten: mit den Zurückweisungen an den Grenzen gehen wir gegen illegale Migration vor. Zweitens ist es wichtig, dass wir dem Land wieder mehr Freiheit geben. Klimaschutz ja, aber nicht mit Verboten, sondern mit Instrumenten, die den Bürgern und den Betrieben mehr Freiheit ermöglichen. Die Wirtschaftsministerin Katherina Reiche ist da sehr klar.

ZEIT ONLINE: Reicht das, um den Gefahren zu begegnen, die eine große radikalisierte Partei darstellt?

Kretschmer: Es ist zumindest ein wichtiger Schritt, um ihr den Nährboden zu entziehen – wohl wissend, dass das Wesen dieser Partei nun mal der radikale Populismus ist und das allem voran in den sozialen Medien auch immer wieder verfangen wird. Wir können unseren Beitrag leisten, indem es weniger reale Probleme gibt, auf deren Basis sie ihr Geschäft betreiben kann.

ZEIT ONLINE: Und was gilt im direkten Umgang mit der AfD: normalisieren oder ausgrenzen? Die Union im Bundestag hat keinen AfD-Abgeordneten für den Vorsitz von Ausschüssen gewählt. Ist das die richtige Entscheidung?

Kretschmer: Zunächst war es ja nicht die Union allein, sondern der große Teil des Parlaments, der so entschieden hat. Und ja, ich finde das falsch. Denn da gibt es schon eine falsche Prämisse: Es geht doch nicht darum, ob wir der AfD die gleichen Rechte wie den anderen Fraktionen zugestehen. Nein, sie hat diese Rechte nun mal. Und wir sollten die AfD nicht in einer Märtyrerrolle stärken.

ZEIT ONLINE: Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat die AfD als gesichert rechtsextremistisch eingestuft, auch in Ihrer CDU fordern einige ein Parteiverbotsverfahren.

Kretschmer: Bundesinnenminister Alexander Dobrindt hat deutlich gemacht, dass die Tatbestände für ein Verbotsverfahren nicht ausreichen. Und man sollte ein Parteiverbotsverfahren nur dann einleiten, wenn man den Antrag rechtlich eindeutig begründen kann.

ZEIT ONLINE: Was verändert die Einstufung in Ihren Augen?

Kretschmer: Ich bin froh, dass wir eine Institution wie das Bundesamt haben, das uns darauf hinweist. Und vielleicht hilft es, dass noch mehr Menschen daraus ein zusätzliches Argument ziehen, um diese Partei abzulehnen. Zugleich sehen wir, dass ein großer Teil der Bevölkerung sich davon wenig beeindrucken lässt. Ein Grund dafür ist, dass sich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für viele Menschen durch die Ergebnisse legitimieren. Auf diesen Zusammenhang habe ich in den Sondierungsgesprächen in Berlin immer wieder hingewiesen, und ich habe den Eindruck, dass wir in dieser Hinsicht heute tatsächlich ein Stück weiter sind. Die neue Bundesregierung hat verstanden: Wir machen die Sorgen der Leute zu unseren Themen und müssen greifbare Ergebnisse liefern.

„Wir erleben eine besorgniserregende Entwicklung“

ZEIT ONLINE: Die Gewalt von rechts nimmt zu, unter Jugendlichen ist rechtsextremes Gedankengut wieder sehr präsent, gerade gab es eine Razzia gegen ein junges Neonazinetzwerk. Erleben Sie das als eine Wiederkehr der Neunzigerjahre – oder passiert da etwas ganz Neues?

Kretschmer: Wir erleben derzeit eine besorgniserregende Entwicklung. Rechtsextremismus, insbesondere unter jungen Menschen, ist wieder sichtbarer geworden – auch durch die jüngsten Razzien. Natürlich erinnern sich viele an die Neunzigerjahre, in denen es massive Gewalt durch rechtsextreme Gruppen gab. Damals ist es mit einer Kombination aus konsequenter Strafverfolgung und sozialpädagogischer Arbeit gelungen, wichtige Erfolge zu erzielen.

ZEIT ONLINE: Und heute?

Kretschmer: Heute ist die Situation komplexer. Die Sicherheitsbehörden handeln entschieden, und das ist richtig so. Gleichzeitig sehen wir, dass viele der Demokratieprojekte, die in den vergangenen Jahren entstanden sind, zwar wertvoll sind, aber oft keinen Zugang zu jungen Menschen mit extremistischen oder autoritätskritischen Einstellungen finden. Wir dürfen es nicht allein linken Initiativen überlassen, rechtsextremen Tendenzen zu begegnen. Es braucht eine breite gesellschaftliche Mitte, die Orientierung bietet und junge Menschen wieder für unsere freiheitliche Demokratie gewinnt.

ZEIT ONLINE: Warum halten Sie die Projekte für untauglich?

Kretschmer: Viele dieser Programme sind gut gemeint, aber sie erreichen oft nicht die Menschen, um die es eigentlich geht. Es braucht glaubwürdige Akteure, die Zugang zu diesen Milieus haben. Ein pädagogischer Ansatz, der von vornherein ideologisch aufgeladen ist, schafft oft mehr Distanz als Nähe. Wir brauchen Träger, die Vertrauen genießen – und das funktioniert nicht mit Gendersprache und Regenbogenfahne.

ZEIT ONLINE: Sozialarbeiter, die nicht gendern, das soll die Lösung sein?
Kretschmer: Natürlich nicht allein – aber es ist ein Teil des Problems, wenn bestimmte kulturelle Codes mehr im Vordergrund stehen als die eigentliche Aufgabe: Menschen erreichen, bevor sie vollständig ins extremistische Lager abgleiten. In den Neunzigerjahren wurde mit Streetwork, Sportprojekten und direkter Ansprache vor Ort viel erreicht. Es ging um Nähe, um Vertrauen, um konkrete Alternativen. Heute brauchen wir wieder diesen pragmatischen Ansatz.

ZEIT ONLINE: Wie setzen Sie den konkret um?

Kretschmer: In Sachsen setzen wir gezielt auf Projekte in Sportvereinen, Jugendclubs oder Heimatinitiativen – Orte, an denen junge Menschen sich zugehörig fühlen und wo man mit ihnen ins Gespräch kommen kann. Wer diese Gruppen für Demokratie gewinnen will, muss auch Begriffe wie Heimat oder Nation nicht automatisch problematisieren. Berlin sollte stärker anerkennen, dass wir mit einseitig geprägten Kulturprojekten bestimmte Zielgruppen schlicht nicht erreichen. Umgekehrt würde ja auch niemand auf die Idee kommen, Vertreter konservativer Vereine in linksextreme Szenen zu schicken – das funktioniert genauso wenig.

ZEIT ONLINE: Friedrich Merz definiert sich stark als außenpolitischer Kanzler, ist in diesen ersten Wochen viel in der Welt unterwegs. Wie groß ist die Sorge, dass die großen Herausforderungen im Inland unter seiner Kanzlerschaft in den Hintergrund rücken?

Kretschmer: Es gehört sich so, dass man sich als Erstes mit Nachbarn und Partnern austauscht. Und dass der Kanzler das zerrüttete Verhältnis zu den europäischen Partnern kittet, ist allerhöchste Zeit. Friedrich Merz hat ein gutes Team, mit dem er seine Agenda umsetzt, ich mache mir da keine Sorgen.

ZEIT ONLINE: Merz steckt zunächst viel Energie in Versuche, Russland und die Ukraine an einen Tisch zu bringen. Sie treten seit Langem für Gespräche mit Russland ein. Nur: Wladimir Putin will partout nicht verhandeln.

Kretschmer: Das höre ich seit drei Jahren, dass Russland nicht reden wolle. Hat man es denn ausreichend versucht?

ZEIT ONLINE: Merz und die Europäer haben es gerade mit einem Ultimatum versucht, Trump ebenfalls, nur auf seine Art. Sogar der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat es versucht. Russland scheint dagegen eine Sommeroffensive vorzubereiten. Woher nehmen Sie den Glauben, Russland habe ein Interesse an Verhandlungen?

Kretschmer: Nun, es gibt zwei unterschiedliche Arten, ins Gespräch zu kommen. Entweder man versucht, Russland zu zwingen, wie es bislang der Fall war, oder man versucht einen positiven Ansatz. Wir müssten uns fragen, unter welchen Bedingungen Russland überhaupt mit uns reden wollte. Was könnte Wladimir Putin von uns wollen? Was in einem Dialog mit Deutschland und Europa wäre für ihn interessant? Solange wir sagen: Wir wollen nichts, wir wollen keine Gaslieferungen, wir verhängen nur noch Sanktionen, muss man auch nicht mit uns reden.

ZEIT ONLINE: Sie haben vorgeschlagen, Nord Stream, die Ostseepipeline, eines Tages wieder zu aktivieren. Ist das für Sie ein Mittel, um mit Putin ins Gespräch zu kommen?
Kretschmer: Energie ist jedenfalls ein Hebel. Dass Putin Gespräche mit China, mit Indien und mit anderen Brics-Staaten führt, liegt doch an den wirtschaftlichen Interessen Russlands. Nord Stream ist eine mögliche Eröffnung für ein Gespräch mit Russland. Nicht umsonst ist so etwas im Kreise von Diplomaten in Brüssel vor einigen Monaten sehr intensiv besprochen worden …

ZEIT ONLINE: … und wurde dann wieder verworfen. Jetzt plant die EU weitere Maßnahmen, um genau das zu verhindern: dass Nord Stream wieder in Betrieb genommen werden kann.

Kretschmer: Das ist der Status quo der Russlandpolitik, ja. Können wir uns erlauben, daran festzuhalten? Nord Stream hätte auch für uns eine starke wirtschaftliche Komponente: Ich sehe die wirtschaftliche Lage – und mache mir Sorgen, wie wir wirtschaftlich stark bleiben können. Die Produktionskosten sind zu hoch. Ich warne seit Langem vor einer Abwanderung von Firmen, die bei uns nun tatsächlich beginnt. Die Frage der Energiepreise ist dabei so zentral, die kann man nicht beiseiteschieben.

ZEIT ONLINE: Es war doch gerade auch die Abhängigkeit von russischem Gas, die Deutschland in solche Schwierigkeiten gebracht hat. Zudem hat Russland auch Deutschland mit Sabotageakten ins Visier genommen – und da wollen Sie wieder mitten hinein in eine neue Abhängigkeit?

Kretschmer: Es würde keine Abhängigkeit in diesem Maße von russischem Gas geben. Aber: Es würde unsere Situation schon sehr verbessern, wenn man etwa 20 Prozent des Gases aus Russland holt. Ich sehe allerdings, dass es momentan keine Bereitschaft zu einem Strategiewechsel gibt. Ich bin mir allerdings sicher: Wenn die wirtschaftliche Entwicklung so voranschreitet, werden wir in ein, zwei Jahren gezwungen sein, unseren Kurs zu ändern.