Durchs Raster gerutscht: Daniel lebt in Leipzig ohne Krankenversicherung
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Wer krank ist, geht zum Arzt. Aber was passiert, wenn man nicht versichert ist? In Deutschland haben trotz Verpflichtung viele keine Krankenversicherung. So auch dieser Mann in Leipzig.
Daniel* steht am Lindenauer Markt. Er ist öfter hier, trinkt einen Kaffee und plaudert mit den Leuten von „Safe“, der Straßensozialarbeit für Erwachsene, eines Bereichs der gemeinnützigen Gesellschaft SZL Suchtzentrum Leipzig. Zwischendurch hört man immer wieder sein Lachen. Er hat einen schwarzen Rucksack mit einigen Habseligkeiten dabei, außerdem sein Cap und mehrere Jacken, damit er nicht friert. Von außen sieht man nicht, wie die vergangenen Jahre ihn krank an Körper und Seele gemacht haben.
Wie es Daniel geht? „Scheiße“, erklärt er und zuckt mit den Schultern. Er habe dauerhaft Fieber, Schmerzen in Knien und Füßen und eine Verbrennung an der Hand. „Irgendwelche Idioten haben eine Dose explodieren lassen.“ Schuld seien Unfälle, teilweise noch von alten Arbeitsstellen, die nie medizinisch behandelt wurden.
Noch schlimmer aber als sein körperlicher Zustand ist sein psychischer. Mit einer Hand deutet er auf seinen Kopf: „Der ist kaputt.“ Denn Daniel ist depressiv. Sein bester Freund stirbt vor einigen Jahren an einer Überdosis Heroin. In Leipzig auf einer Party. Weil Daniel nicht dabei ist, kann er nichts tun. Mit dem Tod verliert er auch sein Zuhause, denn beide Freunde teilten sich eine Wohnung. Und darüber hinaus noch mehr.
Rund 61.000 Deutsche haben keine Krankenversicherung
In Deutschland gibt es eine Krankenversicherungspflicht. Trotzdem haben viele, ähnlich wie Daniel, keinen oder einen ungeklärten Versicherungsschutz. Im Mikrozensus von 2019 erhob das Statistische Bundesamt, dass rund 61.000 Personen nicht krankenversichert sind. Berücksichtigt wurden allerdings nur diejenigen, die in Deutschland gemeldet sind und einen legalen Aufenthaltstitel haben. Die Dunkelziffer wird deshalb von Medizinern deutlich höher geschätzt.
Für Personen ohne einen Krankenversicherungsschutz bietet das Sozialamt unterschiedliche Leistungen, die allerdings an bestimmte Bedingungen und Personengruppen geknüpft sind. Diese in Anspruch zu nehmen, sei für viele Personen schwierig, so Magdalena Engel.
Sie ist Sozialarbeiterin des Vereins CABL, Clearingstelle und Anonymer Behandlungsschein Leipzig. So seien die Anträge kompliziert, bei manchen Betroffenen fehle die Postanschrift oder der Lebensumstand lasse eine regelmäßige Antwort auf Post nicht zu. In akuten Fällen behindere aber auch schlichtweg die lange Bearbeitungszeit der Anträge die medizinische Versorgung, die sofort und nicht in ein paar Monaten gebraucht werde.
Warum Menschen keine Krankenversicherung haben
Um Menschen in solchen Situationen zu unterstützen, gibt es den CABL. Das Angebot wendet sich an Personen, die keinen aktuellen Zugang zu medizinischer Versorgung oder einen ungeklärten Versicherungsstatus haben. Zu offenen Sprechstunden beraten Sozialarbeiter und ehrenamtliche Ärzte Menschen mit gesundheitlichen Problemen.
„Im Clearing schauen wir im Erstkontakt auf die aktuelle Versicherungssituation des Betroffenen, beraten und stellen Wege bereit, Versicherungen zu finden oder wiederherzustellen“, erklärt Magdalena Engel. Zusammen mit Jaromir Kröger und einem weiteren Kollegen arbeitet sie 50 Stunden in der Woche in der Clearingstelle.
Zu ihnen in die Sprechstunde kommt ein diverses Publikum. Denn Menschen haben aus ganz unterschiedlichen Gründen keine Krankenversicherung: So gibt es beispielsweise Wohnungslose, die aufgrund des Wohnungsverlusts nicht mehr erreichbar sind und rausgekündigt werden. Dazu zählen auch ehemals Privatversicherte, die aufgrund einer Altersgrenze nicht mehr in eine gesetzliche Krankenkasse zurückkommen können. Und Selbstständige, die sich eine private Krankenversicherung nicht mehr leisten können. Aber auch EU-Bürger ohne richtige Absicherung.
Ein plötzlicher Tod und das Leben auf der Straße
Zu Letzteren gehört auch Daniel. Er ist gelernter Zimmermann und kommt ursprünglich aus Tschechien. Sein Beruf führte ihn nach Italien. Dort lernte er seinen Freund auf einer Baustelle in Neapel kennen. Der Deutsche nahm ihn von Italien mit nach Erfurt, dann nach Leipzig. Er besorgte eine Wohnung, und Daniel schlief bei ihm.
Sie teilten ihr Leben, spielten häufig zusammen auf ihren Gitarren. Mit kleinen Jobs auf Baustellen verdiente Daniel etwas Geld. Unter teilweise illegalen Arbeitsverhältnissen erhielt er bei Unfällen kein Krankengeld und war nicht versichert. Mit dem plötzlichen Tod änderte sich alles: Daniel verlor seinen besten Freund, seine Wohnung und sein Herz. „Jetzt, wo er weg ist, ist mir alles egal. Ohne ihn bin ich tot.“
Seit über fünf Jahren lebt er auf der Straße, hat seit zwei Jahren auch keine Papiere mehr. Am dringendsten brauche er einen Psychologen, um den Rest kümmere er sich danach. Den Spezialisten aber zu finden, gestaltet sich als schwierig. „Wo ich bisher war, haben die immer nur nach Geld gefragt. Meine Probleme waren nicht wichtig. Nur, wer am Ende bezahlt.“ Weil er nicht versichert ist, muss er für die Kosten seiner Behandlung selbst aufkommen. Doch dazu fehlt ihm das Geld.
Ein Behandlungsschein für akute Krankheiten
Sozialarbeiterin Engel kennt viele solcher Fälle. Oft kommen Menschen aus den Nachbarländern, arbeiten hier und sind über ihren Arbeitgeber nicht im Krankheitsfall abgesichert.
„Wenn es darum geht, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, wird es manchmal schon sehr schwierig. Oft fehlen Informationen zu der Person und Belege über die Arbeitsverhältnisse.“
Gerade bei akuten Fällen gebe es aber die Möglichkeit, sich von der Clearingstelle einen anonymen Behandlungsschein ausstellen zu lassen. „Man braucht eigentlich nur den Schein und die Praxis, die ihn akzeptiert.“ Die Kosten übernimmt der Verein. Gültig ist der Behandlungsschein ein Quartal.
Ärzte müssen helfen, unabhängig von Kostenfrage
Im Notfall können auch Menschen ohne Krankenversicherung den Krankenwagen rufen. „Ärzte sind dazu verpflichtet, in einem medizinischen Notfall zu versorgen, unabhängig von Kostenfragen“, hält die Sozialarbeiterin fest.
Im Rahmen eines anderen Projekts für medizinische Versorgung von Obdachlosen erlebt es der Verein jedoch häufiger, dass Rettungssanitäter, Kliniken und Notaufnahmen Betroffene ablehnen, weil die Versicherung unklar ist.
„Wer abgelehnt wurde, ruft nicht mehr den Notarzt“
Die Folge? „Wer Ablehnung erfahren hat oder nicht weiß, wie er den Arzt bezahlen soll, ruft auch nicht mehr den Notarzt“, sagt Engel. „So werden wiederum Krankheiten verschleppt oder chronifizieren sich.“ Der Zugang zu medizinischer Versorgung sollte niedrigschwelliger gestaltet werden.
„Wenn jemand krank ist, muss er versorgt werden, ohne erst mal seine Versicherung vorweisen zu müssen“, ergänzt Jaromir Kröger, ebenfalls Sozialarbeiter in der Clearingstelle.
Krankenhaus können sie nicht bezahlen
Wenn nötig, müssen Kranke stationär aufgenommen werden. Für einen Aufenthalt im Krankenhaus kann die Clearingstelle aber keine finanzielle Unterstützung leisten.
„Unsere Arbeit finanziert sich in Teilen vom Sozial- und Gesundheitsamt“, so Kröger. „Zusätzlich sind wir auf Spenden angewiesen. Stationäre Behandlungen zu übernehmen, würde unser Budget bei Weitem übersteigen.“ Mehr angewiesen als auf Spenden seien sie aber auf die ehrenamtliche Mitarbeit von Ärzten und anderem medizinischem Personal.
Daniel ist mit seiner Lage nicht allein. Vom Verein Safe erhält er Medikamente, Essen, Kleidung und eine Vermittlung an medizinische Angebote. Auch Bewegung hilft ihm dabei, gegen seine Depression und körperlichen Leiden anzukämpfen. „Ich fahre Fahrrad, spiele Tischtennis und bin viel unterwegs.“ Ob er die Hilfe erhält, die er braucht, wisse er aber nicht.
*Name geändert aus Schutzgründen