Rechte Gewalt im Osten: Kehren die „Baseballschlägerjahre“ zurück?

Eine sich verschärfende Asyl-Debatte, Jugendliche, die sich radikalisieren und eine Zunahme rechtsextremer Straftaten: Das alles weckt Erinnerungen an eine brutale Zeit der Geschichte nach dem Mauerfall. Wie zwei Experten diese Parallelen einschätzen.

„Baseballschlägerjahre“ – geprägt haben diesen Begriff vor allem Ostdeutsche, die über ihre Erfahrungen mit rechtsextremer Gewalt in den 90er-Jahren gesprochen haben. Doch Anschläge wie in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen gab es auch im Westen, ebenso zahlreiche Angriffe. Janosch Steuwer ist Historiker an der Universität Köln, Till Kössler Professor für Historische Erziehungswissenschaft an der Universität Halle. Im Sammelband „Brandspuren“ widmen sie sich diesem Teil der Geschichte und deren Erbe.

Vor 35 Jahren erreichte die friedliche Revolution ihren Höhepunkt: Die Mauer fiel. Wie blicken Sie auf diese Zeit?

Steuwer: Die Geschichte der Wiedervereinigung ist eine von Befreiung und Aufbruch – aber auch von Bedrohung und Gewalt.

Gewalt ist ein Weg, sich zu behaupten, Räume zu erobern. Gerade in einer Situation, in der alles in Bewegung gerät.Janosch Steuwer – Historiker

Und das in ganz Deutschland – trotzdem reden wir immer über den Osten.

Kössler: Über das Pogrom in Hoyerswerda wird im Herbst 1991 ziemlich viel berichtet, damit ist der Fokus schon damals klar.

Steuwer: Dabei ist Hoyerswerda nur eine Spitze: Es gibt zahlreiche Brandanschläge auf Flüchtlingsheime und Wohnungen von Migranten, Pöbeleien, Schlägereien und Drohungen.

Allein für den Oktober 1991 registrierten die Behörden 489 Gewalt- und 1000 Straftaten, die einen „fremdenfeindlichen“ Hintergrund hatten. Das war Alltag und die Täter oft auch Jugendliche – wie ist das zu erklären?

Steuwer: Im Westen haben sich in den 80ern, auch in Abgrenzung zu den 68ern, maskuline Jugendgruppen gebildet, bei denen Gewalt eine Rolle spielt. Die verfolgen keine richtigen politischen Ziele, haben aber nationalistische und rassistische Vorstellungen. Das trifft Anfang der 90er auf eine Stimmung, in der Nationalstolz eine große Rolle spielt: etwa rund um die Fußball-WM und die Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung. Besonders um den 3. Oktober gibt es eine Welle der Gewalt.

Kössler: Auch in der DDR gibt es rechtsextreme Einstellung und Neonazis – aber die Umbruchserfahrungen spielen eine größere Rolle: Viele Jugendliche verlieren Strukturen, die sie gestützt haben: das Elternhaus, die FDJ als zentrale Jugendorganisation. Es geht um Orientierung – und die findet man auch bei denen, die eh schon eine nationale oder rechtsextreme Gesinnung haben.

Welche Rolle spielt Gewalt?

Steuwer: Sie ist ein Weg, sich zu behaupten, Räume zu erobern. Gerade in einer Situation, in der alles in Bewegung gerät.

In Hoyerswerda jubelte man den Randalierern zu – die Polizei hielt sich zurück. So war es auch bei anderen Gewalttaten.

Steuwer: Im Osten gab es noch keine gefestigten staatlichen Strukturen: Nach den Erfahrungen rund um die friedliche Revolution hatte die Polizei ein Legitimationsproblem. Sie war zurückhaltend bei allem, was politisch erschien – aus Angst, etwas falsch zu machen.

Kössler: Im Westen gab es eine funktionierende Polizei und Justiz. Die Behörden regierten langsam und oft vorurteilsbehaftet – aber immerhin. Auch deswegen gehen die Zahlen der Anschläge und Gewalttaten Mitte der 90er-Jahre zurück. Im Osten bleiben die Zahlen hoch.

Der Gewalt im Osten, glaubte man, mit pädagogischen Ansätzen begegnen zu können.

Steuwer: Mit der „akzeptierenden Jugendarbeit“ übernahm man einen Ansatz aus Westdeutschland, der vor allem in der Arbeit mit Drogenabhängigen angewandt wurde. Die Sucht wird als Ausdruck gestörter Bedürfnisse wahrgenommen. Es gibt eine hohe Akzeptanz für Fehlverhalten oder Provokation, um einen Zugang zu den Jugendlichen zu finden.

Warum hat das im Umgang mit radikalisierten und gewaltbereiten Jugendlichen nicht funktioniert?

Steuwer: Es gab kein Personal, die Leute waren unzureichend geschult. Die Akzeptanz ging sehr weit: Verfassungsfeindliche Symbole und Parolen wurden toleriert, ebenso Gewalt. Einzelne Jugendzentren wurden zum Rückzugsort für Rechtsextreme. Dort wurden dann sogar Angriffe geplant.

Kössler: Es gab „Runde Tische“ zum Thema Jugendgewalt, an denen auch Rechtsextreme teilnahmen.

Über all den Angriffen schwebt damals auch eine politische Debatte: Die Zahl der Flüchtlinge steigt, es gibt eine Kampagne der schwarz-gelben Bundesregierung, flankiert von der Bild-Zeitung. Die schreibt: „Das Boot ist voll“ oder „Wann sinkt das Boot“. Inwiefern hat das eine Rolle gespielt?

Kössler: Die Gewalttäter fühlten sich als Vollstrecker eines breiten Volkswillens legitimiert. Diese Dynamik konnte man in Hoyerswerda sehen – sie hat aber an vielen Orten eine Rolle gespielt.

Im Juli 1993 wird das Asylrecht verschärft – inwiefern ist die Politik vor der Gewalt eingeknickt?

Steuwer: Man hat zugelassen, dass eine politische Debatte dermaßen eskaliert ist, dass man sie nicht mehr einfangen konnte. Am Ende war es dann gar nicht mehr die Frage, ob die Grundgesetzänderung tatsächlich die beste Lösung für die Probleme der Flüchtlingspolitik war. Sie wurde als innenpolitisches Symbol gebraucht, um ein Ende für den die Gewalt immer wieder anheizenden Streit um das Asylrecht zu finden. Und dafür gab man durchaus der Gewalt nach – auf Kosten von Menschen.

Vor dem Hintergrund des Aufstiegs der AfD erleben wir auch wieder eine verschärfte Asyl-Debatte. Jugendliche radikalisieren sich, die Zahl rechtsextremer Straftaten steigt – haben wir nichts dazu gelernt?

Kössler: Es gibt immerhin viele Bemühungen im Bereich der Jugendarbeit und politischen Bildung. Und worüber wir noch gar nicht gesprochen haben, ist die Gegenwehr, die sich in den 90er auch angesichts der Gewalt gebildet hat: Bürgerinitiativen, lokale Gruppierungen.

Steuwer: Stimmt: Die Gewalt der 90er hat Landstriche verändert, sich ins Grundgesetz eingeschrieben. Aber die Großdemonstrationen wie etwa nach den Recherchen von Correctiv, das Bilden überparteilicher Bündnisse, das ist auch ein Erbe der 90er – ein Positives.