„Experimentallabor der extremen Rechten“ – Hohe Bedrohungslage vor Sachsen-Wahl

Vor der Sachsen-Wahl treten Rechtsextreme aggressiv auf. Experten fühlen sich an die 1990er-Jahre erinnert. Doch da gab es noch keine AfD, die regieren will.

Dresden – Regenbogenfahnen wehten Anfang August auf dem Bautzener Christopher-Street-Day. Etwa 1000 Menschen wollten in der sächsischen Kleinstadt ein Zeichen für eine offene Gesellschaft setzen. Begleitet wurden sie dabei von Bereitschaftspolizisten. Hinter dem CSD riefen ein paar Hundert Rechtsextreme Parolen, wie „mehr Hass, mehr Hass“. Eine Party am Abend wurde aus Sicherheitsgründen abgesagt. Ein Bild, das Sachsen über die Landtagswahl hinaus wohl noch öfter abgeben wird.

Neonazis treten in Sachsen „öffentlich und ohne scheu“ auf und greifen „Nestbeschmutzer“ an

Am Rande des CSD in Bautzen brach sich etwas Bahn, das in Sachsen bereits seit langem zu beobachten ist: Im Freistaat hat sich eine selbstbewusste und gewaltbereite extreme Rechte entwickelt, der oft wenig Einhalt geboten wird. Liberalen Kräften wird so häufig der Raum genommen. Woher kommt die orchestrierte Menschenfeindlichkeit? Wie ist ihr entgegenzutreten? Fr.de von IPPEN.MEDIA hat mit Expertinnen und Experten aus Sachsen darüber gesprochen.

Rechtsextreme treten an vielen Orten „öffentlich und ohne Scheu“ auf, sagte Johannes Kiess. Der Soziologe ist stellvertretender Direktor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung in Sachsen. Die Sozialpsychologin Henriette Rodemerk, die am selben Institut forscht, betont, die extreme Rechte habe sich teils in fest in Dorf- und Kleinstadtgemeinschaften verankert. Und Melanie Riedlinger, Sprecherin des Kulturbüros Sachsen, erklärt, eine zunehmend selbstbewusste extreme Rechte geht in Sachsen Menschen an, die sie als „Nestbeschmutzer“ begreife.

Dutzende zeigen auf Festival in Zwickau Neonazi-Symbole – Lage vor Sachsen-Wahl angespannt

Öffentlich und ohne jede sichtbare Scheu zeigten Dutzende auch Mitte Juli in Zwickau neonazistische Symbole und grölten entsprechende Parolen. Was klingt wie ein rechtsextremer Aufmarsch, war allerdings ein Treffen von Moped-Enthusiasten. Eine Woche später wurde, ebenfalls in Zwickau, ein Kulturfestival wegen eines mutmaßlich geplanten Angriffes abgebrochen.

In weiten Teilen Sachsens sei die Lage trotz großer regionaler Unterschiede – etwa die maßgeblichen Akteure der extremen Rechten betreffend – angespannt, erklärte Melanie Riedlinger vom Kulturbüro Sachsen gegenüber FR.de. Die Einrichtung verzeichnet aktuell eine besonders erhöhte Bedrohungslage für queere Menschen, etwa bei CSD-Demonstrationen und für Wahlkämpfende im Vorfeld der Landtagswahlen. Auch gegen Flüchtlingsunterkünfte werde aktuell mobil gemacht, sagte Riedlinger.

Soziologe vor Sachsen-Wahl 2024: Rechte Dominanz war nie wirklich weg

Analytisch müsse zwischen lange gewachsenen lokalen Dominanzen Rechtsextremer und neuen „deutlich aggressiveren“ rechtsextremen Jugendgruppen wie der „Elblandrevolte“ unterschieden werden, betonte Demokratieforscher Johannes Kiess im Gespräch mit unserer Redaktion. Die rechte Dominanz sei nie wirklich weg gewesen, sondern war lediglich mancherorts weniger gewalttätig. Gleichzeitig habe sich die politische Kultur „massiv verschoben“. Das zeige sich besonders daran, dass in manchen Gemeinden teils 50 Prozent der Wählerinnen und Wähler in vorausgegangenen Wahlen für die AfD gestimmt haben.

So habe sich der „Möglichkeitsrahmen“ für politische Gewalt geweitet und inzwischen öffneten sich immer häufiger „Möglichkeitsfenster“ für Gewaltausbrüche, so der Experte. Diese Situation erinnere an die als „Baseballschlägerjahre“ bekannten Zustände im Ostdeutschland der 1990er-Jahre.

„Elblandrevolte“

Überregional bekannt wurde Neonazi-Kameradschaft „Elblandrevolte“ durch den Angriff auf den SPD-Politiker Matthias Ecke in Dresden. Der geständige 17-jährige Haupttäter soll ihr angehören. Die Gruppe ist Teil der „Jungen Nationalisten“ der Jugendorganisation der NPD, die sich inzwischen „Heimat“ nennt.

Der sächsische Verfassungsschutz beobachtet die Gruppe als Teil des Landesverbandes als „gesichert rechtsextrem“. Details zur „Elblandrevolte“ finden sich im Verfassungsschutzbericht von 2023 nicht. Gegenüber SpiegelTV und ZDF gab die Behörde an, die Gruppe zu beobachten. Das antifaschistische Rechercheteam Dresden schätzte die Gruppe auf etwa 30 Personen. Das Kulturbüro Sachsen beobachtete eine Kerngruppe von etwa zehn Personen. Öffentlich trete die Gruppe demnach seit Anfang 2024 auf.

Nach Medienberichten gilt die Gruppe dem Verfassungsschutz als klar gewaltbereit. Recherchen von SpiegelTV zeigten, dass die jungen Neonazis gut vernetzt mit alten Neonazi-Kadern aus der Kameradschaftsszene sind. Das Recherchekollektiv Recherche Nord konnte belegen, dass der Anführer der „Elblandrevolte“ an einem internationalen, rechtsextremen Vernetzungstreffen, organisiert von den „Jungen Nationalisten“ im Juni, teilnahm.

Rechtsextreme vor der Sachsen-Wahl: Forschung zum Erzgebirge zeigt Ursachen

Im Erzgebirge verdichteten sich gesamtgesellschaftliche Konfliktlinien so weit, dass sich dort autoritäre Dynamiken gut beobachten und erklären ließen, sagte die Leipziger Sozialpsychologin Henriette Rodemerk im Gespräch mit FR.de. Sie arbeitete in einem EFBI-Forschungsprojekt zur Geschlechterdemokratie im Erzgebirge mit.

In der Studie hätten die Forschenden eine „tief verwurzelte“ regionale Identität vorgefunden, die für viele Menschen aus dem Erzgebirge von zentraler Bedeutung sei, erklärte Rodemerk. Diese Identität beziehe sich vor allem auf „Tradition, Religion, Familie, Heimat und Arbeit“. Dies gehe oftmals mit recht klaren Grenzen für die „Freiheit von Lebensentwürfen“ einher.

Bedrohungslage vor Sachsen-Wahl: Angebliche Nestbeschmutzer werden verunglimpft

Aber „je starrer die Identitätskontruktion“, desto stärker sei die Notwendigkeit zur Unterscheidung in ein „wir“ und „die anderen“, welches unter anderem queere, linke sowie migrantische Menschen im Erzgebirge ausschließe, sagte Rodemerk.

Zudem schaffe dies Anknüpfungspunkte für „rechte Identitätspolitik“ und normalisiere diese teilweise. Sie beobachte, wie demokratische Kritik an diesen Prozessen als „Nestbeschmutzung“ wahrgenommen würde. Die massive rechte Agitation gegen Geschlechtergleichstellung führe zu einer besonderen Bedrohungslage, wie sie das Kulturbüro beschrieb.

Vor Sachsen-Wahl gibt es „Experimentallabore“ für extreme Rechte

Mancherorts in Sachsen sei die rechtsextreme Dominanz so stark, dass sie nicht mehr skandalisiert, sondern eher akzeptiert werde, beobachtete Kiess. Eine konkrete Ausformung dessen beschrieb Rodemerk für das Erzgebirge: Das habe sich seit der Wende zum „Experimentallabor der extremen Rechten“ entwickelt. Deshalb ist die Szene dort auch vielfältig und reiche von Neonazi-Kameradschaften und Jugendgruppen über die „Freien Sachsen“ und Reichsbürger bis hin zur AfD.

„Freie Sachsen“

Die „Freien Sachsen“ sind eine rechtsextreme Kleinpartei, die sich 2021 aus der verschwörungsideologischen Bewegung während der Corona-Pandemie heraus gründete. Unter ihren maßgeblichen Akteuren sind allerdings langjährig aktive Neonazi-Kader. Doppelmitgliedschaften sind ausdrücklich erwünscht. Viele Mitglieder sind gleichzeitig bei der NPD aktiv, die sich inzwischen „Heimat“ nennt. Es handelt sich um eine Bewegungspartei, die versucht, möglichst viele Personen an sich zu binden.

Erzgebirge vor der Sachsen-Wahl: Rechtsextreme teils fest in der Gemeinschaft verankert

Nach gewalttätigen Jahren sei momentan ein Rückgang extrem rechter Gewalttaten zu verzeichnen, sagte Rodemerk. Das könne allerdings auch an der breiten Akzeptanz rechter Dominanz liegen, weswegen Rechtsextreme wohl aus strategischen Gründen weniger gewalttätig würden als etwa in den 1990er-Jahren. Bekannte Rechtsextreme seien teils fest in ihren Dorf- oder Kleinstadtgemeinschaften in Vereinen verankert.

Das seien die „Normalisierungsgewinne“ der extremen Rechten, die sich aus dem Festsetzen in der lokalen Bevölkerung ergaben. Besonders konservative Demokraten ringen, so Rodemerk, teilweise um klare Abgrenzungen. Diese sei aber notwendig zur Entgegnung antidemokratischer Tendenzen.

Rechtsextreme in Sachsen und die „Rahmenpartei“ AfD vor der Sachsen-Wahl

Vor der Landtagswahl in Sachsen ist die Situation allerdings anders. Die AfD liegt in Umfragen zur Sachsen-Wahl bei etwa 30 Prozent. Für die sich als breite Bewegung begreifende extreme Rechte sei die AfD als „Rahmenpartei“ zu betrachten, sagte Kiess. Sie biete der extremen Rechten Deutungen, etwa zu Fragen der Migration an und popularisiere diese mit den Mitteln einer Parlamentspartei. So verschiebe sich der Diskurs weiter zugunsten der extremen Rechten.

Gleichzeitig funktioniere die AfD als „organisatorischer Rahmen“ an den diverse rechtsextreme Organisationen, wie etwa die Freien Sachsen andocken könnten. Insbesondere die Jugendorganisation „Junge Alternative“ fungiere als „Scharnier“ zur rechtsextremen Szene.

Soziologe fordert von CDU und SPD Rückkehr zum „zivilen Diskurs“

Von den demokratischen Kräften in Sachsen wie bundesweit, forderte Kiess als Strategie gegen die extreme Rechte eine Rückkehr zum „zivilen Diskurs“. Das bedeute, dass die Parteien, insbesondere SPD und CDU, sich dem „Rechtsruck des Diskurses“ verweigern müssten.

Insbesondere die Asyldebatte, die mit Sprüchen wie „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“, von Kanzler Olaf Scholz (SPD) oder „Die lassen sich die Zähne neu machen“ von CDU-Chef Friedrich Merz geführt werden, führe zur Normalisierung rechtsextremer Positionen. So werde die AfD-Forderung nach Massenabschiebungen und dem Bruch mit Asyl- und Menschenrechten sagbar, meinte Kiess.

Vor Sachsen-Wahl: Solidarität mit liberaler Zivilgesellschaft im ländlichen Sachsen gefordert

Zudem sei eine Jugendsozialarbeit, die plurale Demokratie lebendig gestalte, genauso wichtig wie die Ausgrenzung Rechtsextremer aus dem vermeintlich unpolitischen Vereinsleben, appellierte die Sozialpsychologin. Rodemerk schwebt eine Alltagskultur vor, in der Menschen ihren Lebensweg frei von starren gesellschaftlichen Zwängen wählen könnten. Gleichzeitig müsse die Aufarbeitung rechtsextremer Straftaten, mit denen teils „nachsichtig“ umgegangen werde, verbessert werden, mahnte Rodemerk.

Um sich gegen die Raumnahme des Rechtsextremismus im ländlichen Sachsen zu stellen, müsse man den „demokratischen Raum mit Leben füllen“, sagte Riedlinger. Dies bedeute auch aus den Großstädten hinauszufahren und die bedrohte liberale Zivilgesellschaft in Klein- und Mittelstädten zu unterstützen, etwa durch Besuche von Kulturevents. „Das gibt den Menschen Kraft, weiterzumachen“, betonte Riedlinger.

Weitermachen könnte sich nach der Landtagswahl für viele zivilgesellschaftliche Organisationen, je nachdem, wer dann Sachsen regiert, schwieriger gestalten. Viele Organisationen sind von kurzfristigen staatlichen Förderungen auch aus der Landeskasse abhängig.