Marokkaner trotz Stoppsignal von Gericht abgeschoben: Stadt Chemnitz muss sich nicht um Rückholung kümmern

Ein neuerlicher Gerichtsentscheid gibt der hiesigen Ausländerbehörde recht. Indes hat die für die Ausweisung zuständige Behörde Fehler eingeräumt.

Chemnitz.Im Fall eines in Chemnitz lebenden Marokkaners, der vor zwölf Tagen abgeschoben wurde, hat die zuständige Landesdirektion Sachsen (LDS) Fehler eingeräumt. Sie kündigte außerdem an, eine schnelle Wiedereinreise des Mannes zu unterstützen.

Der Mann lebte nach Angaben des Sächsischen Flüchtlingsrates seit fünf Jahren in Deutschland. Laut der Tageszeitung „taz“ soll er als Koch gearbeitet haben. Ein Asylantrag war vom Bundesamt für Asyl und Flüchtlinge abgelehnt worden. Der Marokkaner hatte daraufhin bei der Chemnitzer Ausländerbehörde einen Antrag auf Aufenthalt aus familiären Gründen gestellt, weil er mit einer deutschen Frau verheiratet ist und mit ihr ein Kind hat. Eine Duldung, also eine Aussetzung der Abschiebung, lag laut LDS nicht vor. Stattdessen habe es aus „schwerwiegenden sonstigen Gründen ein hohes Ausweisungsinteresse“ gegeben, so die Behörde.

Fehler unter „erheblichem Zeitdruck“

Trotzdem hatte das Verwaltungsgericht Chemnitz am 11. Juli – dem Tag der Abschiebung – beschlossen, dass die Abschiebung ausgesetzt werden muss, bis die Chemnitzer Ausländerbehörde über den neuen Antrag entschieden hat. Adressiert war der Beschluss an die Stadt und nicht die LDS, die ihn dennoch zugesandt bekam, aber laut Sprecherin Valerie Eckl in Anbetracht der schon laufenden Abschiebung unter „erheblichem Zeitdruck“ stand. Dieser Umstand habe „zu einer juristischen Fehleinschätzung der damit befassten Bediensteten der LDS bezüglich der Bindungswirkung des Beschlusses des VG Chemnitz gegenüber der LDS geführt“. Die Abschiebung wurde nicht unterbrochen und der Marokkaner ausgeflogen.

Eckl stellt klar, dass ihre Behörde die Bindungswirkung von Gerichtsentscheidungen „selbstverständlich beachtet und respektiert“. Man untersuche den Vorgang nun intensiv. Der Mann ist immer noch in Marokko. Um ihm eine schnelle Wiedereinreise zu ermöglichen, stehe man in engem Austausch mit der deutschen Botschaft in Rabat, sagt die LDS-Sprecherin.

Gerichtliche Auseinandersetzung geht weiter – Erfolg für Stadt Chemnitz

Unterdessen beschäftigt der Fall weiterhin die Gerichte im Freistaat. Das Verwaltungsgericht Chemnitz hatte sowohl die Stadt als auch die Landesdirektion mit einem Beschluss aufgefordert, den Marokkaner binnen sieben Tagen eine Wiedereinreise nach Deutschland zu ermöglichen; die Frist endet am Dienstag (23. Juli). Die Stadt Chemnitz beantragte eine Prüfung dieses Beschlusses – und bekam Recht vom Oberverwaltungsgericht. Sie muss sich im Gegensatz zum Freistaat (er hatte keinen Widerspruch eingelegt) nicht um eine Rückkehr des Mannes bemühen.

Die Begründung liefert womöglich einen Vorausgriff auf seinen bei der Stadt Chemnitz laufenden Antrag auf ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen. Demnach stehe die Ehe mit einer deutschen Ehefrau einer Abschiebung nicht entgegen, erklärt das Oberverwaltungsgericht. Auch habe der in Chemnitz wohnende Mann eine Vater-Kind-Beziehung nicht glaubhaft machen können, heißt es in dem Beschluss. Nach „Freie Presse“-Informationen sind seine Frau und sein Kind im Ruhrgebiet zu Hause. Ein Umzug dorthin könnte an der Residenzpflicht gescheitert sein: Migranten ohne Aufenthaltstitel dürfen ihren Wohnort nur mit behördlicher Genehmigung verlassen.

Zahl der Abschiebungen in diesem Jahr gestiegen

Wegen ihres Vorgehens stand die Landesdirektion zuletzt stark in der Kritik. Der Sächsische Flüchtlingsrat und Politiker der Linken und der Grünen hatten das Agieren verurteilt. Von den Chemnitzer Grünen-Vorsitzenden Coretta Storz und Joseph Israel hieß es, die Aktion der Behörde schwäche das Vertrauen in die rechtsstaatlichen Systeme.

Es war binnen weniger Tage der zweite umstrittene Abschiebefall in Chemnitz. Kurz zuvor hatte erst der sächsische Innenminister die Ausweisung von Robert A. gestoppt, der seit 30 Jahren in Deutschland lebt und bereits auf dem Weg zum Flughafen war, als der Minister einschritt.

Im ersten Halbjahr 2024 wurden 487 Personen aus Sachsen abgeschoben, ein Plus von zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahr. Fast ebenso viele verließen freiwillig das Land, das heißt, sie waren ausreisepflichtig und wurden bei ihrer Rückkehr vom Bund unterstützt.


MDR SACHSEN

Abschiebung nach Marokko: Erneut scharfe Kritik an Landesdirektion und Stadt Chemnitz

Erst Anfang der vergangenen Woche sorgte eine geplante Abschiebung aus Sachsen für Proteste. Jetzt kritisiert der Flüchtlingsrat erneut die Behörden. Dabei geht es um die Abschiebung eines Mannes nach Marokko – offenbar trotz eines anders lautenden Gerichtsbeschlusses.

Der sächsische Flüchtlingsrat hat erneut das Vorgehen der Behörden bei der Abschiebung eines Mannes aus Chemnitz kritisiert. So sei vergangene Woche ein Marokkaner abgeschoben worden, obwohl das Verwaltungsgericht Chemnitz per Eilbeschluss dagegen entschieden hatte, teilte der Flüchtlingsrat mit. Die Gerichtsentscheidung sei missachtet worden.

Dieser Eilbeschluss ist allerdings am Dienstag vom sächsischen Oberverwaltungsgericht (OVG) gekippt worden. Wie das OVG mitteilte, ist die Stadt Chemnitz nicht verpflichtet, den Mann nach Deutschland zurück zu holen. Der Mann sei ausreisepflichtig gewesen. Damit sei der ursprüngliche Eilbeschluss des Chemnitzer Verwaltungsgerichts ungültig, den sowohl Landesdirektion als auch die Stadt missachtet haben sollen.

Laut Flüchtlingsrat ist der Mann mit einer deutschen Staatsbürgerin verheiratet und hat Kinder mit ihr. Die Ehe mit einer Deutschen reiche allerdings nicht aus, so das OVG. Eine Vater-Kind-Beziehung habe der Mann nicht glaubhaft gemacht.

Gerichtsbeschluss ignoriert?

Die Kritik hatte sich an der Missachtung des Eilbeschlusses entzündet und hat auch unabhängig vom OVG-Urteil Bestand. Die Anwältin des abgeschobenen Marokkaners sagte, die Sachbearbeiterinnen bei der Stadt Chemnitz und der Landesdirektion Sachsen hätten in Telefonaten mit ihr erklärt, sich nicht an den ursprünglichen Beschluss gebunden zu fühlen. Sie hätten ihn auch nicht an die Bundespolizei weitergeleitet, die deswegen die Abschiebung fortgesetzt habe.

Die Stadt Chemnitz gibt an, nicht für die Abschiebung zuständig gewesen zu sein. Ein Sprecher der Stadt sagte, das habe man sowohl dem Gericht als auch der Anwältin mitgeteilt.
Der Landesdirektion war der Eilbeschluss eigenen Angaben zufolge nicht bekannt. Dieser sei an die Ausländerbehörde der Stadt Chemnitz gerichtet gewesen. Man sei in das Verfahren nicht eingebunden gewesen, so die Sprecherin der Landesdirektion. Als man davon erfahren habe, sei ein Stopp der laufenden Rückführung aus Zeitgründen nicht mehr möglich gewesen.
Landesdirektion räumt Fehler ein

Am Dienstag räumte die Behörde dann auf Nachfrage der „Freien Presse“ erstmals Fehler ein. Gerichtsentscheide würden „selbstverständlich beachtet und respektiert“. Die Landesdirektion werte den Vorgang derzeit intern aus und prüfe auch die Möglichkeit, dass der Marokkaner vorläufig wieder einreisen darf. Die Rechtsanwältin hatte nach eigenen Angaben beim Verwaltungsgericht Chemnitz die Rückholung ihres Mandanten beantragt.

Das Gericht hatte ihr Recht gegeben und beschlossen, dass die Wiedereinreise von Marokko in die Bundesrepublik Deutschland auf Kosten der sächsischen Behörden zu ermöglichen sei.
Wann und wie die Rückholung erfolgen soll, ist derzeit noch unklar. Das OVG teilte in der Urteilsbegründung vom Dienstag mit, dass die Landesdirektion nach jetzigem Stand keine Rechtsmittel gegen die Rückholung eingelegt habe.

Kritik aus der Politik

Kritik an der Abschiebung gab es auch von mehreren Parteien. „Dass die Abschiebung trotz einer klaren Gerichtsentscheidung nicht gestoppt wird, macht uns fassungslos“, sagt die Chemnitzer Grünen-Kreisvorsitzende Coretta Storz.

Auch die sächsischen Piraten forderten in einem Statement Konsequenzen. Anne Herpertz, Stadträtin der Piraten in Dresden und Listenkandidatin für die Landtagswahl, sagte, das Verhalten der Behörden in Chemnitz sei rechtswidrig und zutiefst unmenschlich. Die Häufung solcher Fälle zeige, dass „diese Vorgehensweise System hat.“ Sie forderte eine unabhängige Prüfung aller Abschiebungen der Ausländerbehörde Chemnitz.

Zweiter Fall in wenigen Tagen

Erst zu Beginn der vergangenen Woche hatte es Wirbel um die geplante Abschiebung eines anderen Mannes aus Sachsen nach Serbien gegeben. Politiker mehrere Parteien hatten das Vorgehen kritisiert. Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) hatte die Abschiebung vorläufig ausgesetzt. Jetzt soll sich die Härtefallkommission mit dem Fall des 31-Jährigen befassen.

Auch im vergangenen Jahr hatte es ein wochenlanges Tauziehen um den Verbleib des Vietnamesen Pham Phi Son in Chemnitz gegeben. Insgesamt hatte sich die Härtefallkommission drei Mal mit der Abschiebung beschäftigt.