Zur antifaschistischen Demo in Johanngeorgenstadt
Am 4. November 2023 gab es eine antifaschistische Demonstration Johanngeorgenstadt zum NSU-Komplex. Der Beitrag dokumentiert den Aufruf, einen Bericht von einem Journalisten von der Demo und die Reaktion des Stadtrates, der sich weiterhin weigert sich mit dem Verstrickungen der Stadtgesellschaft und dem rechten Terror in der Region zu beschäftigen. So hatte der Stadtrat von Johanngeorgenstadt im Sommer 2023 entschieden, der Ausstellung „Offener Prozess“ keine Räume zur Verfügung zu stellen. „Den Stadträten schien eine Kleinstadt mit 3758 Einwohnern völlig ungeeignet für eine Ausstellung von gesamtgesellschaftlicher Tragweite.“ Die Ausstellung widmet sich dem NSU-Komplex und rückt die Opfer und Betroffenen von rechtem Terror in den Mittelpunkt.
Aufruf zur Demonstration (https://spektrum360.noblogs.org/post/2023/09/01/nsu-komplex-aufloesen-konsequent-gegen-faschistinnen-ihre-helferinnen/)
Am 04.11.2011 erlebten wir alle die Aufdeckung des NSU. 12 Jahre sind seitdem vergangen. Deswegen wird am 4.11.23 wird unter dem Motto „NSU Komplex Auflösen! Konsequent gegen Faschist*Innen und ihre Helfer*Innen“ eine Demonstration in Johanngeorgenstadt stattfinden.
Warum die kleine „unschuldige“ Stadt Johanngeorgenstadt?
Auf der Suche nach den Netzwerken des „Zwickauer Terrortrios“ stießen die Ermittler mehrfach auf Verbindungen ins sächsische Erzgebirge. Mindestens drei der mutmaßlichen Unterstützer*Innen stammen aus Johanngeorgenstadt. Extrem rechte und andere antidemokratische Strukturen sind im Erzgebirgskreis oft schon seit Jahrzehnten etabliert. Die Kontinuitäten reichen von den Kameradschaften der 1990er Jahre und dem Nährboden des National sozialistischen Untergrunds (NSU) bis zu den professionalisierten und zielgerichteten Angeboten der heute stark ausdifferenzierten extrem rechten und antidemokratischen Gruppen.
Von rechtsesoterischen Siedler*innen bis zur neonazistischen Black-Metal-Szene gibt es heute eine Vielzahl von Angeboten, die sich nicht selten an die breite Gesellschaft richten und zu einer großen Akzeptanz extrem rechter und antidemokratischer Angebote und Szenen geführt haben.
Wir möchten an diesem Wochenende in Zusammenarbeit mit engagierten Zwickauer Antifaschist*Innen den Opfern des NSU Gedenken und Hinterbliebenen eine Stimme geben. Hier, wo selbst der „Offene Prozess“ nicht mit offenen Armen empfangen wurde, braucht es Gedenken und Aufklärung.
Dafür kann es nur drei Gründe geben, Ignoranz, Gleichgültigkeit oder Unwissenheit! Schließt euch an! Kommt am 04.11.23 um 13.00 Uhr nach Johanngeorgenstadt.
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- Solibus:
- Berlin: 7:00 // Oranienplatz
- Dresden: 9:30 // Bahnhof Neustadt
- Chemnitz: 10:45 // Omnibusbahnhof
- Zuganreise:
- Leipzig & Halle: 9:00 // S-Bahnhof MDR
- Zwickau: 10:45 // Bahnhof
- Solibus:
Ein Bericht zur Demonstration von
Auseinandersetzung anregen, wo der NSU groß geworden ist
Das Städtchen Johanngeorgenstadt liegt tief im Erzgebirge an der tschechischen Grenze. Lange war der Bergbau prägend, heute denken die meisten bei Johanngeorgenstadt an Schwibbögen und Weihnachtspyramiden. Doch die Stadt spielt auch eine wichtige Rolle im NSU-Komplex. Dass dieser Punkt unter den Teppich gekehrt werden soll, wollten am Samstag, den 04.11.2023, knapp 200 Antifaschist*innen verhindern. Sie haben mit einer Demonstration auf die Verstrickungen und die verweigerte Aufklärung hingewiesen. Bei eisigen Temperaturen versammeln sich Demonstrierende aus ganz Sachsen auf dem Platz des Bergmanns, um anlässlich des 12. Jahrestages der Selbstenttarnung des NSU durch Johanngeorgenstadt zu ziehen.
Die beispiellose Mordserie des NSU
Am 04. November 2011 wurden Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem Banküberfall in Eisenach von der Polizei in ihrem Wohnmobil gestellt, woraufhin sie den Wohnwagen in Brand steckten und sich beide das Leben nahmen. Wenige Stunden später explodierte die Wohnung des untergetauchten Trios in Zwickau, nachdem sie von Beate Zschäpe angezündet worden war. Es war das Ende der rechtsterroristischen Mordserie, bei der Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter getötet wurden.
Gedenken? Wollen hier nur die Demonstrierenden
Während sich die antifaschistische Demonstration versammelt, zeigt sich rund um den Platz, was an diesem Tag die Demonstrierenden begleiten wird: Zahlreiche Kleingruppen von Anwohnenden, Schaulustigen und Neonazis sind auf der Straße. Einige haben sich Campingstühle mitgebracht, andere trinken Bier.
In einem ersten Redebeitrag erklärt ein Antifaschist, warum man sich dazu entschieden habe, genau hier in Johanngeorgenstadt zu demonstrieren. „Neben dem größten Schwibbogen der Welt und einer schönen Pyramide befindet sich hier auch die Heimat einiger Unterstützer des NSU.“ Die Stadt sei bereits seit den 1990er Jahren ein Hotspot für neonazistische Gewalt gewesen. Immer mit dabei: Die Zwillingsbrüder Maik und André Eminger, die in Johanngeorgenstadt aufgewachsen sind und hier politisch sozialisiert wurden.
NSU und Johanngeorgenstadt
Im NSU-Prozess war André Eminger als Unterstützer des Kerntrios unter anderem wegen Beihilfe zum versuchten Mord angeklagt. Er hatte Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt unter anderem 2006 geholfen, nicht aufzufliegen. Zudem mietete er Wohnmobile, die von Böhnhardt und Mundlos bei zwei Raubüberfällen und einem Anschlag genutzt wurden. Im Prozess wurde er lediglich wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von 2,5 Jahren verurteilt.
Matthias Dienelt und Mandy Struck mussten für ihre Unterstützung des NSU hingegen nie vor Gericht. Das Ermittlungsverfahren gegen beide wurde 2022 eingestellt. Mandy Struck, ebenfalls in Johanngeorgenstadt aufgewachsen, hatte Beate Zschäpe ihre Identität geliehen und bei der Vermittlung der ersten Wohnung in Chemnitz geholfen. Dienelt mietete die beiden Wohnungen in Zwickau für die Terrorist*innen an. Gegenüber zwei MDR-Journalisten, angesprochen auf die ermordeten Menschen, sagte Dienelt: „Das ist mir egal.“ Er lebt bis heute in Johanngeorgenstadt.
Die Stadtgesellschaft scheint nur mit der Demo ein Problem zu haben
Ein Umstand, der von den Antifaschist*innen immer wieder betont wird. Es könne nicht sein, dass UnterstützerInnen des NSU völlig unbehelligt in Johanngeorgenstadt leben könnten, kritisieren die Demonstrierenden die Stadtgesellschaft. Doch diese scheint sich weniger an den Verbindungen in den NSU-Komplex zu stören als an dem antifaschistischen Protest. Immer wieder wird die Demonstration von Rechten und Neonazis bepöbelt. Mehrfach kommt es zu Angriffsversuchen auf den Protestzug, die die Polizei mit Pfefferspray und Schlagstock abwehrt.
Auf der Zwischenkundgebung hält die Initiative NSU-Watch einen Redebeitrag und fordert: „Lasst euch von offenen Fragen und fehlender Aufklärung nicht ohnmächtig machen! Hört den Betroffenen zu! Nehmt Rassismus und Antisemitismus ernst! Beendet die Straf- und Konsequenzlosigkeit für Nazis!“ Währenddessen explodiert in direkter Nähe der Demonstration ein lauter Feuerwerkskörper. Er steht symbolisch für die Reaktion von Johanngeorgenstadt auf die, die auch 12 Jahre nach der Selbstenttarnung nicht ohne eine lückenlose Aufklärung zufriedengeben. Denn leider stören sich nicht nur die betrunkenen Rechten auf der Straße am NSU-Gedenken. Auch die Lokalpolitik schweigt lieber zu diesem Teil der Stadtgeschichte.
So wurde das Zeigen der Ausstellung des Projektes „Offener Prozess“ vom Gemeinderat zurückgewiesen. „Man will sich nicht mit den Verstrickungen nicht auseinandersetzen“, schilderte die Landtagsabgeordnete Jule Nagel in ihrem Redebeitrag. Der „Offene Prozess“ setzt sich seit Jahren für die Aufarbeitung des NSU-Komplexes in Sachsen ein. Einer Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex in Johanngeorgenstadt steht offensichtlich noch viel im Weg. Der Wunsch eines Redners, „dass Johanngeorgenstadt vor allem für seinen Schwibbogen bekannt ist und nicht für rechte Umtriebe“, ist nur möglich, wenn die Auseinandersetzung endlich beginnt.
Erklärung des Stadtrates zur Demonstration (https://www.freiepresse.de/FILES/SERVICE/Erklaerung):
Erklärung des Stadtrates von Johanngeorgenstadt
Aus Anlass des Aufmarsches der libertären Linken Erzgebirge “Spektrum 360°”, mit Unterstützung von linksgerichteten Organisationen aus ganz Sachsen möchte der Stadtrat von Johanngeorgenstadt folgende Erklärung abgeben:
Wir, die gewählten Vertreter der Einwohner von Johanngeorgenstadt, als Stadtrat zusammengesetzt aus Ärzten, Lehrern, Ingenieuren, Handwerksmeistern, Unternehmern und Angestellten, sehen uns als Interessenvertreter der Zivilgesellschaft unserer Stadt Wir lehnen jede Form von Extremismus, egal ob von Rechts, Links oder aus religiösen Gründen ab!
Extremismus stellt eine Gefahr für unsere Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dar. Für uns gibt es keinen Grund, die verschiedenen Formen des Extremismus gegeneinander “aufzurechnen”.
Die Ereignisse am Tag des Aufmarsches, aber auch in den Wochen davor sind einer demokratischen Gesellschaft unwürdig. Die Schmierereien und Sachbeschädigungen an kommunalem und privatem Eigentum sind genauso wenig akzeptabel, wie Böllerangriffe und versuchte Übergriffe auf Versammlungsteilnehmer, die nur durch Polizeieinsatz verhindert werden konnten.
Eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des NSU-Komplexes hat für uns an jedem Tag und an jedem Ort seine Berechtigung!
Leider ist es jedoch so, dass eine solche Gedenkveranstaltung von Extremisten missbraucht wird.
Das hat damit zu tun, dass es längst nicht mehr nur um das Gedenken an unschuldige Opfer rechter Gewalt geht. Hier setzen die Linksextremisten „liberale“ – oder, wie es im Namen der Vereinigung heißt: „libertäre“ – Positionen ebenso wie den moralisch hoch aufgeladenen Begriff des „Antifaschismus“, den sie stets wie eine Monstranz vor sich hertragen, zum Kampf gegen den demokratischen Verfassungsstaat ein.
Gleichzeitig nutzen Rechtsextremisten solche Veranstaltungen, um Ihre faschistische, menschenverachtende Ideologie, die eine pluralistische und demokratische Gesellschaft ablehnt und sich damit gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung und somit die Verfassung richtet, zu verbreiten.
Jener Zivilgesellschaft, die in der Mitte der Gesellschaft steht und gegen beide extremistische Ränder kämpfen muss, droht am ehesten, dazwischen zerrieben zu werden.