Übergriffe auf Flüchtlinge in Görlitz: „Ich habe gedacht, ich bin wieder in Syrien“
Familie Almossalem floh vor dem Krieg aus Syrien nach Görlitz. Nachdem einer der Söhne der Familie in Görlitz angegriffen wurde, fühlt die Familie sich nunmehr bedroht und ist aus Görlitz weggezogen.
Mohammad steht auf dem Balkon und singt Weihnachtslieder in glasklarem, akzentfreien Deutsch. Der Achtjährige hatte sich so sehr gefreut auf die Musical-Aufführung in seiner Schultheater-Gruppe. Die Hauptrolle sollte er spielen dürfen, und das nicht zum ersten Mal.
„Er wird nicht mitspielen können“, erklärt seine Mutter Sheren Almossalem. Denn wenn das Musical in der Adventszeit aufgeführt wird, ist die syrische Familie längst weggezogen aus Görlitz. Sie fühlen sich hier nicht mehr sicher, erklärt die 38-Jährige. Wegen zahlreicher rassistischer Übergriffe und Beschimpfungen, die sie erleben mussten, wegen der Stimmung in der Stadt, die sie als aufgeheizt empfinden – und nicht zuletzt wegen der Montagsdemos.
Die Syrer sind nicht die einzigen, die Angst um ihre Sicherheit in Görlitz haben. Ironischerweise äußern auch viele derer, die montags empört trommelnd auf dem Postplatz stehen, es sei unsicherer geworden in der Stadt – wegen der Flüchtlinge. Eine SZ-Recherche ergab erst vor wenigen Wochen: An Zahlen lässt sich das nicht festmachen. Tatsächlich hat sich die Lage laut Polizei und Innenministerium nicht verschlechtert, wie Sächsische.de berichtete.
Zur Wirklichkeit gehört allerdings auch: Es gibt sie, die Fälle von Ausländerkriminalität in der Neißestadt. Ingrid Ruff hat selbst einen erlebt. Die 78-jährige Rentnerin ist Neugörlitzerin, lebte lange in Bamberg und zog vor einigen Jahren hierher. Sie nimmt in ihrem hohen Alter noch aktiv am gesellschaftlichen Leben teil, beschreibt sich selbst als agil und „gut zu Fuß“ und hat kein Problem damit, auch spätabends noch unterwegs zu sein. Was sie aber vor vier Wochen zu später Stunde am Görlitzer Bahnhof erleben musste, bringt sie persönlich zu der These: „Unsere Städte werden unsicherer.“
„Auf der Rückfahrt von Berlin nach Görlitz“, schildert Ruff gegenüber der SZ, „traf mein Zug mit zweistündiger Verspätung erst nach 23.15 Uhr in Görlitz ein und ich musste meinen Heimweg allein durch die ausgestorbene Innenstadt antreten, zumal vom Bahnhof keine Straßenbahn fuhr.“
Am Bahnhofsvorplatz und durch die ganze Innenstadt sei sie attackiert worden. Von einem jungen Mann um die 20, „wahrscheinlich Araber“. Der Täter habe mehrfach versucht, ihr den Weg abzuschneiden und sie zu Fall zu bringen. „Auf meine laute Reaktion und Gegenwehr reagierte er zunehmend aggressiv“, sagt die Rentnerin. Gesprochen habe der Mann kein einziges Wort, das machte die Situation für sie noch unheimlicher.
Auf Höhe des Postplatzes sei dann ein aufmerksamer Radfahrer, ebenfalls ein junger Mann, mutmaßlich deutscher Nationalität, eingeschritten, schildert sie. „Kennen Sie den Mann?“, habe der gerufen. „Nein, der bedroht mich“, sei ihre Antwort gewesen. Der Radler habe glücklicherweise eine weitere Eskalation vermeiden können. Er „begleitete meinen Fußweg Richtung Stadtpark auf dem Rad, nachdem er den Angreifer vergeblich zur Mäßigung aufgerufen hatte.“ Dieser ließ erst in der Struvestraße von seinem Vorhaben ab und verschwand. Ruff ist sich sicher: Dieser Mann habe sie persönlich angehen wollen. Die Polizeidirektion Görlitz bestätigt auf SZ-Anfrage: Ja, der Fall sei dort bekannt. Frau Ruff hat ihn zur Anzeige gebracht, diese liege den Beamten vor. Der Kriminaldienst des Polizeireviers Görlitz ermittle aufgrund des Verdachts der versuchten Körperverletzung.
Kinder dürfen nicht mehr Fußball spielen
Auch Sheren Almossalem musste sich bereits bei der Polizei melden, um dort Strafanzeige zu erstatten. Einer ihrer Söhne wurde Opfer einer Messerattacke. Diesen Sommer war das, am Nachmittag, mitten in der Görlitzer Innenstadt. Der betrunkene Täter war mutmaßlich ein Deutsch-Pole. Sächsische.de berichtete damals über den Fall. Mittlerweile hat die Polizei ihn übergeben an die Staatsanwaltschaft Görlitz. Eine SZ-Anfrage an die Behörde zum Stand der Ermittlungen blieb bislang unbeantwortet.
Die syrische Lehrerin kann sich noch gut an den Vorfall erinnern: Als sie die WhatsApp ihres Sohnes auf ihrem Handy las, war sie geschockt und konnte kaum noch laufen. „Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin“, sagt sie. Auch bei ihrem Sohn fanden sich nach dem Übergriff schnell zwei Männer, die Zivilcourage zeigten und den Sohn nach Hause brachten. Mutmaßlich Polen, genug Deutschkenntnisse um sofort die Polizei zu rufen, hatten sie nicht.
Seit der Attacke hat sich die Sorge um ihre Kinder verstärkt, berichtet die Mutter. Sie verbietet ihnen das Fußballspielen draußen auf öffentlichen Plätzen ohne Aufsicht. Der einzige Übergriff auf ihre Familie war das nicht. Ihr Auto sei bereits mit Eiern beworfen worden und die Scheiben eingeschlagen worden. Böse Blicke oder Kommentare aufgrund ihres Kopftuchs sind für die gläubige Muslimin mittlerweile Alltag geworden. Sie selbst könne so etwas überhören, erklärt sie. Aber nicht jeder sei dazu in der Lage – jüngere, unreifere Menschen, die von Rassismus betroffen sind, reagieren mitunter anders.
Seit mehreren Jahren bekunden die Montagsdemonstranten jede Woche ihren Unmut gegen die politische Lage. Jüngst hat der Verfassungsschutz vier Personen aus dem Leitungs-Team als extremistisch eingestuft.
Eingebrannt hat sich bei ihr auch ein Ereignis, dass sie vor einigen Wochen erlebte: Sie war auf dem Rückweg von der Arbeit und lief fast den Montagsdemonstranten in die Arme. Auf dem Wilhelmsplatz habe ein Mann mit Migrationshintergrund gesessen. „Die demonstrieren gegen uns!“, sagte er zu Almossalem. „Da habe ich gedacht, ich bin wieder in Syrien“, sagt die muslimische Frau. Tatsächlich zieht die Familie jetzt nach Süddeutschland, in eine Stadt mit etwa 25.000 Einwohnern.
Ihr Schwager, sagt Almossalem, wohne seit Jahren in dieser Region und habe nie Probleme gehabt. Der Schritt ist der Familie nicht leicht gefallen, denn sie lassen viele Freunde zurück. Denn ja, die freundlichen Seiten der Stadt hat die Familie kennengelernt – aber eben auch die Vorurteile und die wütende Protest-Haltung einiger.
Montags auf dem Postplatz mitzulaufen oder die AfD zu wählen, das käme für Igrid Ruff nicht infrage. Der rechtsextreme Flügel um Björn Höcke, den sie selbst als Demagogen bezeichnet, stört sie. Trotz allem räumt sie der AfD ein, hinsichtlich ihrer Integrationskritik in manchen Punkten recht zu haben.
Der Görlitzer Bahnhofsvorplatz im Dunkeln. Vor wenigen Wochen ereignete sich hier der Übergriff auf Rentnerin Ingrid Ruff.
Ruff kritisiert beispielsweise die finanziell hohen Anreize für Flüchtlinge. Das sagt die Seniorin, die sich 2015 selbst in Süddeutschland in der Flüchtlingshilfe engagiert und dort Deutschunterricht gegeben hat.
Von „gescheiterter Integration“ möchte sie nicht sprechen. „Aber vielleicht ist jetzt gerade die letzte Chance, die Integration noch zu retten“, meint sie – indem man mehr und besser in Bildung investiert, beispielsweise. Für ihre Sicherheit hat sich Ruff eine Trillerpfeife besorgt und sich über den Einsatz von Pfefferspray zum Selbstschutz informiert. Ausflüge, auch zu später Stunde, will sie jedenfalls nicht missen wollen.
Sheren Almossalem und ihre Familie indes sind in diesen Tagen in ihrer neuen Heimat angekommen. Sie hoffen, dort Frieden zu finden – möchten endlich mehr Ruhe und Sicherheit. Und der achtjährige Sohn will gerne weiter Theater spielen. Einer der ersten Wünsche an seine Mutter ist, gemeinsam nach einer Musical- oder Theatergruppe zu suchen. In der Hoffnung, dort unbeschwert weitersingen zu können.