Leipziger Polizeichef räumt Fehler bei „Tag-X“-Demos ein
Freie Presse
Obwohl zivile Ermittler im Kessel waren, will die Polizei nicht gewusst haben, wie viele Menschen sie umzingelt hatte. Essen und Trinken lieferten und verteilten Demo-Sanitäter.
Der Leipziger Polizeipräsident René Demmler hat bei einer Anhörung im Landtag am Donnerstag und vor Journalisten „große Fehler“ und ein „Riesenproblem“ beim Polizeieinsatz am „Tag-X“-Wochenende eingeräumt. Vor allem die Einkesselung von über 1000 Menschen am Alexis-Schumann-Platz über mehr als zehn Stunden war im Nachgang massiv kritisiert worden. „Hätten wir von Anfang an gewusst, dass wir nicht über 300, 400 Menschen reden, sondern über 1000, dann hätten wir natürlich den Umfang dessen, was wir da gemacht haben, von Anfang an beschränkt“, so Demmler – nötigenfalls zulasten der sofortigen Strafverfolgung.
Die Umschließung hatte vom frühen Abend bis nach fünf Uhr am Sonntagmorgen gedauert. Die Demonstrationen waren im Fall eines Urteils gegen die Linksextremistin Lina E. vor dem Oberlandesgericht in Dresden angekündigt worden. Am Samstag danach waren Polizisten in Leipzig massiv mit Steinen und Böllern angegriffen worden. Aus der Menge heraus wurde ein Brandsatz auf Polizisten geworfen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt deshalb wegen Mordversuchs gegen eine einzelne bislang unbekannte Person sowie „gegen die an den gewalttätigen Ausschreitungen mutmaßlich beteiligten Personen“ wegen besonders schweren Landfriedensbruchs, tätlichen Angriffs auf Polizeibeamte und gefährlicher Körperverletzung, sagt ein Sprecher.
Video Polizeihubschrauber: https://youtu.be/jqCqUPPEr0A
Ein Richter hatte angeordnet, dass von den Eingeschlossenen die Personalien festgestellt werden müssten. Zur Dauer des Kessels sagte Demmler: „Hätten wir reingehen sollen, um zu zählen und noch mehr zu eskalieren?“ Dabei waren zivil gekleidete Polizisten, sogenannte Tatbeobachter, im Kessel, nachdem es bei der zuvor aufgelösten Versammlung zu schweren Angriffen mit Feuerwerkskörpern und Steinen gekommen war. Die Tatbeobachter hätten die Aufgabe gehabt, Gewalttäter ausfindig zu machen.
Die Staatsanwaltschaft habe am „Tag-X“-Wochenende 13 Haftbefehle beantragt, so ein Sprecher. Zehn davon seien erlassen, einer abgelehnt und zwei gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt worden. Inzwischen seien alle Haftbefehle gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt worden, aber nicht aufgehoben. Der Polizeieinsatz war auch deshalb massiv kritisiert worden, weil im Kessel eine „katastrophale hygienische Situation“ geherrscht habe. Der Zugang zur Toilette sei verweigert worden. Ebenso habe es keine Versorgung mit Essen und Wasser durch die Polizei gegeben. Zwei Toiletten-Lkw waren wegen drohender Überschreitung der Lenk- und Ruhezeiten der Fahrer vier Stunden vor Ende der Einkesselung abgezogen worden.
Ohnehin hätten Eingeschlossene nur zur Toilette gehen können, nach dem sie durchsucht worden wären, damit keine Beweismittel im WC landen. Polizeichef Demmler sagte, auch die Polizei-Kommunikation vor Ort sei unzureichend gewesen. In Lautsprecherdurchsagen habe es rechtliche Belehrungen gegeben, aber keine Hinweise auf Toiletten oder Wasser. Sanitäter, die zuvor die Demo begleitet hatten, versorgten die Eingekesselten mit Wasser und Essen. „Dafür muss ich mich bedanken“, so Demmler. Die Sanitäter hätten kritisiert, dass „wir sie noch behindert hätten, nachdem wir schon alle Aufgaben an sie delegiert hatten. Irgendwo haben sie recht.“
Auch ein Staatsanwalt hat öffentliche Aufmerksamkeit erregt, weil er während der Krawalle vermummt im Einsatz war. Er sei verhüllt mit einer ebenfalls verhüllten Polizistin vor Ort gewesen, nachdem die Demo offiziell durch die Polizei beendet worden war. Der betreffende Staatsanwalt erhalte inzwischen Drohungen, was die Vermummung im Nachhinein rechtfertige. „Es ist genau der Fall eingetreten, der mit der Verhüllung eigentlich verhindert werden sollte“, so Demmler.
Die Staatsanwaltschaft verweist darauf, dass eine Verhüllung zulässig sei. Dies sei durch das Landgericht Leipzig im Januar ausdrücklich bestätigt worden, so ein Sprecher. Dass das im Einzelfall auch erforderlich sei, werde durch die öffentliche Nennung des Namens des Staatsanwalts durch einen Medienvertreter und die ausgelöste Debatte in sozialen Netzwerken bestätigt, bei der auch ein Foto und der mutmaßliche Wohnort genannt worden sei. Claudia Laube, Chefin der Leipziger Staatsanwaltschaft sagte, man akzeptiere jegliche sachliche, auch pointierte Kritik, eine öffentliche Bloßstellung und daraus resultierende Gefährdungslage sei nicht hinnehmbar. Wenn jemand Kritik personalisieren müsse, „soll er meinen Namen nennen“, so Laube.
Kommentar
Bei den Ausschreitungen in Leipzig nach dem Urteil gegen Linksextremistin Lina E. waren über Nacht 1000 Menschen von Polizei-Hundertschaften eingekesselt. Dass es zu einem massiven Polizeieinsatz kommen musste, ist unstrittig. Die Frage, warum die Versammlungsfreiheit trotz der Polizeipräsenz derart stark eingeschränkt wird, stellt sich aber.
Von Tobias Wolf
Der Rechtsstaat muss unterscheiden zwischen Gewalttätern und denen, die friedlich demonstrieren wollen
Dass es angesichts der seit Monaten angedrohten Straftaten zu einem solch massiven Polizeieinsatz kommen musste, ist unstrittig. Wenn wie im Fall Lina E. schon im Vorfeld Sachschäden in Millionenhöhe angekündigt werden, muss die Polizei dem auch mit Restriktionen und notfalls mit Zwang begegnen.
Allerdings stellt sich die Frage, warum die Versammlungsfreiheit trotz einer Polizeipräsenz von 3200 Beamten derart stark eingeschränkt wird, dass so gut wie keine Möglichkeit mehr besteht, auch nur eine Demo im Zusammenhang mit dem Urteil gegen Lina E. oder zur Wahrung der Versammlungsfreiheit anzumelden. Der demokratische Rechtsstaat mit dem Versammlungsgrundrecht als eins der höchsten Rechte muss mehr aushalten können und genau dieses Grundrecht schützen. Er muss unterscheiden zwischen Gewalttätern und denen, die laut, aber friedlich demonstrieren wollen. Ob es angemessen ist, rund 1000 Menschen über Nacht einzukesseln und festzuhalten, weil ein Teil gewaltbereit ist, daran sind Zweifel angebracht. erschienen am 04.06.2023
Frage nach der Verhältnismäßigkeit
Das wirft in Sachsen wieder einmal die Frage der Verhältnismäßigkeit auf. Als Coronaleugner Staat und Gesellschaft durch Hunderte unangemeldete Demos auf der Nase herumtanzten, wurden derlei drakonische Maßnahmen vom damals zuständigen Innenminister Roland Wöller (CDU) rundheraus abgelehnt – obwohl es dabei ebenfalls zu körperlichen Angriffen auf Beamte kam und Polizeiketten gewaltsam durchbrochen wurden, weil sich manche der von Neonazis angestachelten Demonstranten im Recht auf Widerstand gegen den Staat wähnten – wie nun die linke Szene in Leipzig. Was beide Extrempositionen vereint: die absurde Idee, in einem autoritären Staat zu leben oder gar in einer Diktatur – wie so manche während der Coronapandemie behaupteten und dies auch bis heute tun, nicht zuletzt die AfD.
Im Fall der massenhaften illegalen Coronademos ist bis heute keine ernsthafte Strafverfolgung zu erkennen. Die Intensität der Proteste mag unterschiedlich sein. Auf der einen Seite tragen sie schwarze Kleidung und vermummen sich, auf der anderen trifft man vermeintlich die bürgerliche Mitte in Funktionsjacken. Aber beide Seiten stellen den Rechtsstaat und sein Gewaltmonopol infrage. Nach Leipzig bleibt der schale Eindruck, dass der Rechtsstaat im Freistaat immer noch mit zweierlei Maß misst.