Massive Vorwürfe von Opferanwalt – Mord an Leipziger Jesse L.: Justiz ließ seinen Großdealer auf freiem Fuß Mordangeklagter Max D. im Landgericht: Er soll den 19-jährigen Jesse L. mit einem Kopfschuss getötet haben.
Der Drogendealer, bei dem Jesse L. wenige Stunden vor seinem Tod Marihuana holte, ist bis heute auf freiem Fuß. Obwohl die Polizei bei ihm kiloweise Rauschgift sicherstellte, sieht die Staatsanwaltschaft offenbar keinen dringenden Tatverdacht.
Leipzig. Diese Überraschung im Mordfall Jesse L. (19) hat das Zeug zu einem Justizskandal: Wie bei der Prozessfortsetzung am Dienstag im Landgericht herauskam, waren Ermittler schon einige Wochen, bevor der junge Leipziger erschossen wurde, auf der Spur seines mutmaßlichen Großdealers. Doch dieser 30-Jährige, der in der Szene als Kadir bekannt ist, befindet sich bis heute auf freiem Fuß. Denn obwohl die Polizei in dessen Geschäft kiloweise Drogen sicherstellte, beantragte die Staatsanwaltschaft nach Angaben eines zuständigen Kripo-Beamten trotz ausdrücklicher Anregung bislang keinen Haftbefehl. „Das ist zurzeit in solchen Fällen in Leipzig so üblich“, erläuterte der Ermittler vor Gericht merklich frustriert.
Kadir gilt in dem Mordprozess als wichtiger Zeuge. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der 20-jährige Max D. am 11. Januar 2022 den ein Jahr jüngeren Jesse L. bei Schkeuditz mit einem Kopfschuss tötete, um an dessen Rauschgift zu gelangen. Beide sollen an dem Tag auf dem Weg zu einem Drogendeal gewesen sein. Etwa zwei Stunden zuvor habe Jesse L. das Marihuana, das an jenem Abend verkauft werden sollte, in einem Spätverkauf in Leipzig-Mölkau abgeholt. Von diesem Geschäft aus soll Kadir im großen Stil mit allerlei Betäubungsmitteln gehandelt haben.
Marihuana und Crystal sichergestellt
Bereits Anfang Dezember 2021 hätten Polizeikräfte den Spätverkauf observiert, berichtete ein Beamter am Dienstag vor Gericht. Ausgangspunkt der Ermittlungen gegen Kadir sei der Hinweis einer sogenannten Vertrauensperson (VP) gewesen – eines Insiders, dessen Identität die Behörden geheim halten. Da man den Tatverdächtigen nicht zu Gesicht bekam und die Tipps der VP bedeutender erschienen, sei die Überwachung aber wieder abgebrochen worden, so der Kriminalist. Als Jesse L. und Max D. am 11. Januar dieses Jahres dort waren, wurde offenbar nicht mehr observiert.
Bei einer ersten Durchsuchungsaktion am 18. Januar in den beiden Spätverkaufsläden von Kadir in Neustadt-Neuschönefeld und Mölkau wurden keine Drogen gefunden. Zehn Tage später waren die Ermittler erfolgreicher. In einem Keller, der dem Verdächtigen gehören soll, entdeckten sie 21 Kilogramm Marihuana und fünf Kilogramm Crystal. Sichergestellt wurden außerdem eine täuschend echt aussehende CO2-Maschinenpistole sowie scharfe Munition, etwa für Schnellfeuergewehre wie G 3 und Kalaschnikow. Ende Januar habe die Kripo daher angeregt, Kadir in Haft zu nehmen. „Das wurde von der Staatsanwaltschaft abgelehnt“, berichtete der Beamte im Zeugenstand. Angeblich bestehe kein dringender Tatverdacht.
Kadir tauchte ab, wurde später in Erfurt von der Bundespolizei aufgegriffen – mit einer größeren Menge Bargeld, Drogen und einer Rolex-Uhr, wie es heißt. Im Zuge des Mordfalls Jesse L. sei gegen Kadir ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen Handels mit Betäubungsmitteln eingeleitet worden, so der Polizist. Bislang fand keinerlei Verbindung dieser Verfahren und kein Informationsaustausch statt, merkte die zuständige Strafkammer verwundert an.
„Zig Haftgründe – und es passiert einfach nichts“
Nebenklagevertreter Jan Siebenhüner ging noch weiter: Er warf verantwortlichen Mitarbeitern der Staatsanwaltschaft im Fall Kadir versuchte Strafvereitelung im Amt vor. Die Organisierte Kriminalität verkaufe Drogen ohne Ende, es gebe Verbindungen zum Verfahren um den Mord an Jesse L., so der Anwalt von Jesses Familie. „Doch es wird nichts getan, um das zu prüfen. Es gibt zig Haftgründe – und es passiert einfach nichts.“
Um offene Fragen in dem Mordfall zu klären, soll am Mittwoch die Tat mit großem Aufwand außerhalb des Gerichts rekonstruiert werden. Hauptsächlich geht es darum herauszufinden, ob Max D. einen heimtückischen Mord begangen hat oder es lediglich eine Art Unfall war, wie es der Angeklagte behauptete. Den Vater des getöteten Jesse L. will das Gericht audiovisuell befragen. Die Mutter sei weiterhin nicht vernehmungsfähig, so Siebenhüner. „Ihr Arzt rät regelrecht davon ab.“
Frank Döring 13.10.2022
Leipziger Prozess um den Mordfall Jesse L.: Was wir wissen und was nicht
Was ist von der Tatversion des Angeklagten Max D. zu halten? Was sagen Gutachter dazu? Verfolgen die Eltern des getöteten Jesse L. den Prozess in Leipzig? Die LVZ beantwortet die wichtigsten Fragen zum Mordprozess.
Leipzig. Der Mord am 19-jährigen Leipziger Jesse L. am 11. Januar auf einem Feld bei Schkeuditz hat viele Menschen bewegt und erschüttert. Seit dem 1. Juli läuft am Landgericht Leipzig der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter Max D. (20).
Mord an Jesse L. in Leipzig: Angeklagter im Prozess mit überraschender Erklärung
Vor Gericht sorgte der Angeklagte mit einer neuen Tatversion für Aufsehen, die sich auch etwas von der Erklärung der Verteidigung unterschied. Wie ist der Stand des Verfahrens und wie gehen die Hinterbliebenen des Mordopfers damit um?
Was wirft die Staatsanwaltschaft Max D. konkret vor?
Staatsanwalt Torsten Naumann spricht von einem heimtückischen Mord aus Habgier. Und zwar in Tateinheit mit besonders schwerem Raub mit Todesfolge und bewaffnetem unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie vorsätzlichen unerlaubten Besitz in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe. Demnach soll Max D. am 11. Januar gegen 19 Uhr auf einem Feld bei Schkeuditz seinen Bekannten Jesse L. per Kopfschuss getötet haben.
Was genau ist laut Anklage an jenem Abend passiert?
Max D. soll seinem Opfer mit einer Pistole ins Gesicht geschossen haben. Jesse L. wurde am rechten Auge und der rechten Wange getroffen, war auf der Stelle tot. Den Leichnam soll der Angeklagte anschließend in einem Straßengraben im Bereich Theodor-Heuss-Straße/Altscherbitzer Straße versteckt haben. Gefunden wurde er erst eine Woche später nach aufwendiger Suche. Der Leichnam befand sich in einem Graben, war abgedeckt mit Pflanzenteilen. Er lag auf dem Rücken, die Kleidung war blutdurchtränkt, auch im Gesicht waren große Mengen Blut. Ein Schuh war ausgezogen, ebenso trug der Tote nur an einer Hand einen grauen Arbeitshandschuh. Wahrscheinlich deshalb, weil der Angeklagte den Leichnam an Händen und Füßen in den Graben gezerrt hat.
Jesse L. bei Schkeuditz erschossen: Das ist zur Tat und zum Mordmotiv bekannt
Was ist das Tatmotiv?
„Gewinnstreben um jeden Preis“, sagt der Staatsanwalt. Max D. soll unmittelbar nach dem Mord mehrere Sporttaschen seines Opfers, in denen sich kiloweise Marihuana-Blüten sowie Cannabis-Blüten befanden, an sich genommen haben. „Er wollte die Betäubungsmittel für sich behalten“, so Naumann.
Was haben die Anwälte von Max D. zum Tatgeschehen gesagt?
Zunächst gab Verteidiger Christian Friedrich vor Gericht eine Erklärung ab. Demnach waren er und Jesse L. an dem Abend auf dem Weg zu einem Drogendeal bei Schkeuditz. Nahe der Altscherbitzer Straße stoppte das Auto. Dann soll Jesse L. seine Tasche, in der sich fünf Kilogramm Marihuana befunden haben sollen aus dem Kofferraum genommen, Arbeitshandschuhe angezogen und eine Schusswaffe hervorgeholt haben. Max D. behauptet, dass Jesse L. die Waffe dabei hatte, um den Drogendeal mit einem bisher unbekannten Geschäftspartner abzusichern. Daher habe er Max D. gebeten, die Waffe zur Abschreckung zu tragen. Bei der Übergabe habe Max D., womöglich überrascht vom Gewicht der Pistole, diese nicht richtig zu fassen bekommen. Beim Auffangen habe sich ein Schuss gelöst und Jesse L. ins Gesicht getroffen. Auch für den Müllbeutel über dem Kopf des Opfers hatte der Angeklagte seine eigene Erklärung: Er habe ihn über den Kopf des Toten gezogen, weil er dessen Anblick nicht habe ertragen können.
Wie ging es dann weiter?
Sein Mandant sei in Panik geraten, berichtet der Verteidiger. Demnach fuhr Max D. zunächst zu seiner Mutter, um sich Blutspritzer von seinen Sneakern abzuwaschen und sich umzuziehen. Er soll dann zur Wohnung von Jesse L. in der Lene-Voigt-Straße gefahren sein, um zu schauen, ob alles ruhig ist. Weil er weitere Blutspritzer an seiner Hose entdeckte, sei er dann erneut zu seiner Mutter gefahren. Anschließend kehrte er laut Verteidigung zum Tatort zurück und traf sich später mit einem Abnehmer für das Marihuana. Als er später noch einmal zur Wohnung von Jesse L. fuhr, sei er dort auf dessen Familie getroffen. Die Angehörigen machten sich längst Sorgen, der 19-Jährige war wegen seines Verschwindens zunächst ein Vermisstenfall. Das war auch noch so, als die Mordkommission den Fall Jesse L. nach etwa einer Woche übernahm.
Hat sich Max D. mittlerweile selbst zu der Tat geäußert?
Ja, er beantwortete Fragen des Gerichts und präsentierte dabei eine etwas andere Tatversion. Demnach soll sich der tödliche Schuss bei Zielübungen gelöst haben. Es sei geplant gewesen, dass Jesse L. den Deal abwickelt und er, Max D., dabeistehen und schnell die Waffe ziehen sollte, wenn die Gegenseite „Faxen macht“, wie er sagte. Jesse L. soll ihm an dem Feldweg gezeigt haben, wie man die Pistole schnell aus der Tasche zieht. Dann habe er die Waffe von ihm bekommen und in eine Tasche seiner Jacke gesteckt. Als er für den Ernstfall geübt und die Pistole schnell aus seiner Jacke geholt haben will, soll ein Schuss losgegangen sein. Er habe wohl gemerkt, dass ihm die Waffe aus der Hand gleitet und deshalb fester zugegriffen, erklärte der Mordangeklagte.
War diese Waffe in technisch einwandfreiem Zustand?
Offenbar nicht. Ein Waffensachverständiger stellte fest, dass eine Sicherung nicht eingebaut und die zweite defekt war. Man musste nur den Abzug drücken. Zudem soll die Schussleistung durch Korrosion geringer gewesen sein. Wohl deshalb kam es trotz der geringen Schussentfernung von etwa 30 Zentimetern zu einem Steckschuss und keinem Durchschuss.
Recherche nach „Schießkeller Leipzig“ wenige Tage vor dem Mord
Wie ist die Erklärung von Max D. zu bewerten?
Auch das Gutachten eines Experten für Wundballistik kann die Frage nicht zweifelsfrei beantworten, ob er einen heimtückischen Mord begangen hat, wie es die Staatsanwaltschaft sagt, oder ob es lediglich eine Art Unfall war, wie es der Angeklagte zuletzt behauptete. Um Klarheit zu erlangen, will die zuständige Strafkammer den Tatablauf nun außerhalb des Gerichts aufwendig rekonstruieren.
Der Angeklagte soll Ende Dezember 2021, wenige Tage vor dem Mord nach „Schießkeller Leipzig“ gegoogelt haben. Wie hat Max D. dies erklärt?
Angeblich ist er mit einem Bekannten auf Instagram zufällig darauf gestoßen. Da dieser Schießkeller nur ein paar hundert Meter von seiner Wohnanschrift entfernt war, sei sein Begleiter Feuer und Flamme gewesen, dorthin zu gehen, sagte Max D. vor Gericht. Man habe dann im Internet nach Öffnungszeiten recherchiert, wegen Corona war die Einrichtung wohl geschlossen.
Was ist bisher zu den Verstrickungen in die Rauschgiftszene bekannt?
Festzustehen scheint, dass Max D. und Jesse L. tatsächlich in Drogengeschäfte verwickelt waren. Max D. war laut Verteidigung mit einer höheren fünfstelligen Summe verschuldet, einige Gläubiger sollen ihn massiv unter Druck gesetzt haben. Der Angeklagte bewegte sich in einem Freundeskreis, in dem junge Menschen bereits über erstaunliche finanzielle Mittel verfügen. Wollte Max D. sich da um jeden Preis behaupten? Ein Bekannter von ihm berichtete im Prozess, dass er Max D. 25 000 Euro geborgt habe, ein anderer streckte 8000 Euro vor. Beide Zeugen sind gerade mal Anfang 20, bezeichneten sich als „Freiberufler“ oder „selbstständig“.
Wie verfolgt die Familie des ermordeten Jesse L. den Prozess?
„Die Angehörigen verfolgen den Prozess sehr aufmerksam über mich und die Medien“, sagt Rechtsanwalt Jan Siebenhüner, der die Nebenklage vertritt. Es sei gegenwärtig nicht geplant, dass die Eltern von Jesse L. beim Prozess persönlich erscheinen. Sie legten ärztliche Atteste vor, wonach sie nicht vernehmungsfähig sind. Der 26-jährige Bruder von Jesse L. hat mittlerweile als Zeuge vor Gericht ausgesagt. Für die Familie sei wichtig, dass im Prozess die Wahrheit ans Licht kommt, was wirklich passiert ist, um mit dem Geschehen abschließen zu können, so ihr Anwalt.