„Ich fühle mich vorverurteilt“ – Leipziger erhält nach Gegendemo-Besuch Post vom Staatsschutz
Ein Leipziger geht gegen die „Freien Sachsen“ demonstrieren. Später bekommt er Post von der Polizei: Ein Angebot, aus der extremistischen Szene auszusteigen. Ein Irrtum?
Wenn montags die „Freien Sachsen“ in Leipzig demonstrieren, bedeutet das für Olaf E., der eigentlich anders heißt: hingehen, dagegen demonstrieren, vielleicht auch stören. Olaf E. ist erklärter Antifaschist und Linker. Was für ihn bedeutet: Eine rechtsextreme Kleinstpartei hat nichts auf dem Ring seiner Heimatstadt verloren.
An einem Montag vor einigen Wochen geriet Olaf E. mit einem Demonstranten aneinander. Dessen Name: Sebastian Weber, ein szenebekannter Online-Rechter, der den Videokanal „Weichreite TV“ betreibt und für frisches Material häufig auch die Leipziger Demos besucht.
Was genau geschah, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Aber Olaf E. und Weber gerieten in einen Streit. Einer, der so handfest war, dass Weber, für ihn nicht ungewöhnlich, hinterher Anzeige gegen Olaf E. stellte: wegen Beleidigung, Sachbeschädigung und Körperverletzung.
Der Angeschriebene sagt: „Ich bin kein Extremist“
Olaf E. bekam die Anzeige zugestellt. Aber er erhielt noch einen Brief, versendet am 7. Oktober von der Staatsschutzabteilung der Polizeidirektion Leipzig. Die fettgedruckte Überschrift: „Steig aus – Angebote zum Ausstieg aus der extremistischen Szene“. Darunter ein Text über die Möglichkeiten für alle, die „sich aus der Szene lösen und von der Gewalt verabschieden wollen.“ Der Brief sei verschickt worden, heißt es weiter, weil man „mit politisch motivierten Straftaten aufgefallen“ sei.
Olaf E. empörte der Brief. „Ich bin kein Extremist“, sagt er. „Auf einer Demo kochen mal die Emotionen hoch, da bin ich laut und halte mich auch nicht zurück.“ Er gehe davon aus, dass die Anzeige fallengelassen werde. Von dem Brief fühle er sich „zu Unrecht vorverurteilt“.
Neben dem Anschreiben liegt dem Brief ein Flyer des Aussteigerprogramms Sachsen bei. Und eine Telefonnummer. Wer die wählt, kommt zum Beispiel bei Sven Forkert raus. Forkert ist Chef des Landespräventionsrates, der im Auftrag des sächsischen Innenministeriums seit 2011 das Aussteigerprogramm betreibt, um politischen Extremismus einzudämmen. „Wir sprechen Menschen an, die sich radikalisiert haben“, sagt Forkert. „Egal ob Islamismus, Rechts- und auch Linksextremismus.“
Die Polizei sagt: „Es handelt sich nur um ein Angebot“
Und Forkert bestätigt auch: Ja, es gibt eine Vereinbarung mit der Polizei, dass Verdächtige politisch motivierter Straftaten einen Flyer des Aussteigerprogramms zugeschickt bekommen. „Es soll ja nicht nur ermittelt werden, sondern auch beraten.“
Leipzigs Polizeisprecher Olaf Hoppe bestätigt das: Die Schreiben verschicke man standardisiert seit 2019 an „aktuell ermittelte Tatverdächtige politisch motivierter Straftaten“. Man wolle „Ausstiegswilligen aus allen extremistischen Phänomenbereichen Unterstützung“ anbieten. Wie viele Schreiben man in einem Jahr verschicke, wisse man nicht genau.
Politisch motivierte Straftaten 2021 mit neuem Höchststand
Politisch motivierte Straftaten erreichten in Sachsen im Jahr 2021 aber einen neuen Höchststand mit 4796 Fällen, ein Anstieg um 18 Prozent. Es handele sich bei dem Brief, unterstreicht Hoppe, nur um „ein Angebot“. Es obliege „einzig und allein der angeschriebenen Person, ob sie dieses nutzt“.
Nicht alle sehen das so gelassen. Der Jurist Jürgen Kasek, der Olaf E. in seinem Strafverfahren berät, findet: Die Zusendung des Flyers komme einer Vorverurteilung gleich. „Jemanden, gegen den noch kein Urteil gesprochen ist, erklärt man so zum linken Straftäter“, sagt er. „Es wirkt wie ein Einschüchterungsversuch.“