Prozess gegen Lina E.:Aussage eines „Verräters“

Keine Zusammenarbeit mit der Justiz, so lautet eine eiserne Regel innerhalb der linken Szene: Doch beim Prozess gegen Lina E. in Dresden tritt der Kronzeuge Johannes D. auf – und gibt seltene Einblicke.

Es ist früh am Morgen, als über dem Dresdner Norden ein Polizeihubschrauber aufsteigt. Ziel ist ein Flachbau zwischen Mülldeponie und Justizvollzugsanstalt, die Außenstelle des Oberlandesgerichts. Der Hubschrauber kreist über Aktivisten, die Plakate an Absperrgitter gehängt haben. „ACAB“ steht darauf, Abkürzung für „All Cops are Bastards“ oder „Defund the Police“. Eben jene Polizei steht in großer Mannschaftstärke vor dem Gerichtsgebäude. Der Grund für das Aufgebot ist Johannes D., der an diesem Tag als Kronzeuge aussagt. In einem Prozess, der die Strukturen der linken Szene in den Fokus nimmt.

Seit Herbst 2021 verhandelt die Staatsschutzkammer im Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts gegen Lina E. Die Studentin soll Anführerin einer linksextremen und militanten Gruppe gewesen sein, die seit 2018 Neonazis ausspähte und mindestens sechs gezielte Überfälle beging. Drei mutmaßliche Unterstützer sitzen mit ihr in Dresden auf der Anklagebank.

Sie alle haben bisher zu den Vorwürfen geschwiegen, ebenso eine Zeugin, die Lina E. beim Ausspähen eines bekannten Leipziger Rechtsextremen geholfen haben soll. Die junge Frau war vor Gericht eher bereit, ein Ordnungsgeld von 200 Euro zu bezahlen als auszusagen. Sie hielt sich damit an eine eiserne Regel innerhalb der linken Szene:

Keine Zusammenarbeit mit Justiz und Sicherheitsbehörden.

Johannes D. dagegen redete in den vergangenen Monaten mit Verfassungsschutz und Landeskriminalamt über die mutmaßliche „Gruppe E.“, zu der auch er gehört haben soll – aber auch über andere Gewalttaten. In der linken Szene gilt er jetzt als „Verräter“. Im Internet tauchten Bilder eines Graffito auf, in dem indirekt mit einer Erschießung gedroht wird. Für seinen Auftritt vor Gericht wurden die ohnehin hohen Sicherheitsvorkehrungen verschärft.
Den Hochsicherheitssaal betritt Johannes D. mit seinem Anwalt und sechs Personenschützern, die unterm offenen Hemd Stichschutzwesten tragen, und eine Schusswaffe am Gürtel. Als D. am Zeugentisch Platz nimmt, sitzen sie hinter ihm. Den Blick dem voll besetzten Zuschauerraum zugewandt. Dort sitzen auch frühere Weggefährten von Johannes D.

Es sei darum gegangen, Personen „nachhaltig zu verletzten“

Der 30-Jährige hat sich Notizen gemacht. Kurz berichtet er von dem nächtlichen Überfall auf den Neonazi Leon Ringl in Eisenach im Dezember 2019. Johannes D. hatte damals den Auftrag, Ringl zu beschatten und per Telefon durchzugeben, wann er seine Kneipe „Bull´s Eye“ verlässt. Als Ringl und seine Begleiter auf offener Straße von Vermummten attackiert werden, ist D. bereits auf dem Rückweg. Über die Motivation solcher Angriffe befragt, sagt D., es sei immer darum gegangen, die Person „nachhaltig zu verletzen“. Deswegen seien auch Werkzeuge wie Hämmer zum Einsatz gekommen. Ringl bleibt an diesem Abend unverletzt. Opfer weiterer Angriffe erlitten dagegen Frakturen und schwere Kopfverletzungen.

Der Generalbundesanwalt, der in der mutmaßlichen „Gruppe E.“ eine kriminelle Vereinigung sieht, erhofft sich von D. auch entscheidende Hinweise auf deren Hierarchien, die Organisations- und Kommunikationsstruktur. Bisher war die Beweislage dazu recht dünn. Johannes D. erzählt vor Gericht, dass die Absprachen vor allem über verschlüsselte Messenger-Dienste gelaufen seien. Kommuniziert habe er dabei weniger mit Lina E. als vielmehr mit ihrem Verlobten, Johann G. Der ist derzeit auf der Flucht.

Dass Johannes D. gegen ihn, Lina E. und viele andere Beschuldigte aussagt, liegt daran, dass er in der linken Szene schon länger geächtet ist. Auf der linken Seite Indymedia tauchte im Oktober 2021 sein kompletter Name auf, inklusive Fotos und Geburtsdatum und Spitznamen. Ein solches „Outing“, wie es in linken Kreisen genannt wird, richtet sich meist gegen Neonazis, nicht aber gegen die eigenen Leute. Geschrieben hatte den Beitrag offenbar seine Ex-Freundin. Sie warf D. vor, sie vergewaltigt zu haben – und rief dazu auf, ihn aus den linken Kreisen auszuschließen. Daraufhin erschienen weitere Beiträge, in denen D. jegliche Solidarität entzogen wurde. Er solle sich nicht mehr blicken lassen. D. arbeitete da bereits in Warschau als Betreuer in einer Kindertagesstätte.

Vor Gericht berichtet Johannes D., welche Folgen das „Outing“ für ihn hatte. Er wurde von Neonazis angegriffen, verlor seinen Job. „Mir war klar, dass das immer wieder Thema sein wird, ich keinen Fuß fassen kann.“ D. wollte seine Ruhe haben, doch die stellte sich selbst dann nicht ein, als Ermittlungen gegen ihn wegen der Vergewaltigungsvorwürfe im März 2022 eingestellt wurden.

Ende April vermittelte das Bundesamt für Verfassungsschutz Johannes D. an das Landeskriminalamt Sachsen, wo seit Jahren eine Sonderkommission zu Straftaten aus dem politisch linken Milieu ermittelt. D. hatte offenbar den Wunsch geäußert, Angaben zu machen und sich über Sicherheitsmaßnahmen zu informieren. Er befindet sich seitdem im Zeugenschutzprogramm.

Für die Sicherheitsbehörden ein Glücksfall

Für die Sicherheitsbehörden ist Johannes D. ein Glücksfall. Aufgrund des großen Misstrauens sind Ermittlungen innerhalb der linken Szene besonders schwierig. D. versorgt die Polizei nun mit Hinweisen zu diversen Straftaten. Im Januar 2019 hatten Unbekannte vor der Außenstelle des Bundesgerichtshofs in Leipzig Brandsätze gezündet. Der Generalbundesanwalt ermittelt. Nachdem D. auch zu diesem Fall ausgesagt hatte, kam es zu einer Hausdurchsuchung in Leipzig-Connewitz. Auch zu einem Überfall auf Neonazis am Bahnhof Dessau, in Sachsen-Anhalt, will Johannes D. offenbar aussagen und er will Informationen liefern über einen Buttersäureanschlag auf ein Geschäft in Dortmund, das Kleidung der bei Rechtsextremen beliebten Marke Thor Steinar verkauft.

Innerhalb der linken Szene werden nun weitere Repressionen erwartet und so manche Einträge bei Indymedia machen wenig Hoffnung darauf, dass der Wunsch von Johannes D. in Erfüllung gehen könnte. Er werde nirgendwo in Ruhe leben können, heißt es da. Es klingt wie eine Drohung.

 

gefunden auf sueddeutsche.de  , geschrieben von Antonie Rietzschel