Abgabe – Angabe – Absage? Kropotkin begleitet mich ein Stück des Wegs
Selbstreflexion in Umbruchszeiten
Während diese Reihe von Kurzgeschichten entsteht, wartet der Autor auf die Prüfung seiner Arbeit, mit welcher eine Lebensphase abgeschlossen wird und nach der eine ebenso ungewisse Zukunft bevorsteht. Während dessen begegnen ihm verschiedene anarchistische Denker, die ihn geprägt und beeinflusst haben. Er freut sich, sie wieder zu treffen, muss aber auch schauen, wie er mit ihnen weiter macht. Denn es ist klar, dass es sich um einen Verein weißer Typen handelt, die – wie der Autor ebenfalls – einige Probleme in ihren Leben und in ihrer Geschlechtsrolle haben… Dies gilt es zu reflektieren um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die besagten eigenwilligen Leute auf ihn wirken. Im selben Zuge wird auf einige Aspekte ihres theoretischen und aktivistischen Denkens hingewiesen, die wiederum auf subjektivistische Weise mit ihren jeweiligen Persönlichkeiten in Verbindung gebracht werden. Damit wird auch eine Brücke durch Zeit und Raum geschlagen. Ganz schön irre alles. Diese und ganz andere Texte sind bereits auf paradox-a.de erschienen.
Abgabe – Angabe – Absage?
Kropotkin begleitet mich ein Stück des Wegs (dritte Geschichte)
Nun habe ich die Bücher also in vierfacher Ausfertigung eingereicht. Mensch ey, was für eine Arbeit, was für ein Stress! Was für eine Selbstdisziplinierung in prekären Lebensverhältnissen in den letzten Jahren! Da habe ich viel zurück gestellt. Ich weiß warum und habe mich auch dafür entschieden. Ob ich das nochmal so tun würde? Keine Ahnung. Empfehlen würde ich es struggelnden, zappelnden Personen, die nicht in dieses Milieu hineingeboren sind jedenfalls nicht unbedingt. Damit kommt aber auch unmittelbar die Bewusstwerdung über meine Privilegiertheit hinein. Natürlich macht es einen Unterschied, weiß zu sein, Bildungskram frühzeitig vermittelt bekommen zu haben. Was die Männlichkeit angeht, bin ich mir in meinem Fall nicht so sicher, da ich in der Hackordnung immer weit unten stand. Aber diesem Thema wollte ich mich jetzt auch mal wieder widmen.
Gut, die Dissertation liegt nun in einem Dekanat herum bis die bürokratischen Verfahren eingeleitet und mein Werk dann begutachtet und beurteilt werden – wie es sich gehört. Ließe sich sicherlich auch anders gestalten. Doch auch auf diese Form und diesen Ablauf habe ich mich eingelassen, im Wissen um ihre Widersprüchlichkeit und die herrschaftlichen Aspekte einer akademischen Betriebs und seiner Gilde. Ach, da gäbe es so einiges zu kritisieren! Der Neoliberalisierung der Hochschulen widerspricht ja nicht der Muff der tausend Jahre, welcher auch manch reaktionärem Professor ein Refugium bietet. Aber das wäre ein eigenes Thema für sich. Und vielleicht habe ich auch nicht so viel länger mit dem Laden zu tun. Aber wer weiß…
Auf dem Weg meiner Abgabe direkt begleitete mich niemand meiner Freund*innen und Bekannten. Einige von ihnen habe ich später noch getroffen. Zeit zum Feiern ist auch erst, wenn das Ganze geprüft und verteidigt und vereidigt wurde. Das dauert noch. Weil ich den Weg zur Einreichung alleine angetreten bin, wird mir auch bewusst, was ist, was war: Viele meine früheren Gefährt*innen, Freund*innen, Genoss*innen gehen einer strukturierten Lohnarbeit und/oder haben Kinder bekommen. Manche von ihnen haben viel mit eigenen Problemen zu tun, die nach den Dreißigern für jene, die mit bestehenden Gesellschaftsstrukturen und Anforderungen hadern ja nicht weniger werden. Klar, einige sind wohl auch durchgestartet und in einer bürgerlichen Lebenswelt angekommen, haben ihre rebellische Phase hinter sich gelassen. Umso wichtiger erscheint daher, dass doch noch manche auf die eine oder andere Weise bei der Sache geblieben sind.
Im Zug setzt sich Kropotkin neben mich. Wie so ein beiläufiges Gespräch eben beginnt, sprechen wir über die Bahn, in der übrigens auch einige Reisende sitzen, die ukrainisch sprechen. Nein, auf die Bahn lasse ich mir nichts kommen, ich fahre meistens wirklich gerne mit dem Zug. Umso ärgerlicher, dass die Preise so unverschämt hoch sind, gerade bei den mittleren Strecken. Pjotr geht es ähnlich. Im Unterschied zu mir gerät er aber regelrecht ins Schwärmen darüber, wie die moderne Eisenbahn das gesellschaftliche Leben verändert, Menschen zusammenbringt, den Güteraustausch auf völlig neue Grundlagen stellt und wie sie potenziell völlig staatenlos organisiert werden könnte, wenn sie vergesellschaftet werden würde.
Ich schaue durch das Abteil. Die meisten Reisenden – nicht alle – schauen entweder gerade auf ihr Smartphone oder werfen zumindest alle fünf bis fünfzehn Minuten einen Blick darauf und streicheln ein wenig über seine Oberfläche. Ich schaue zu Kropotkin und ziehe meine Augenbraue hoch um eine irritiert-fragende Miene zu zeigen. „Du, es gab hier in letzter Zeit noch einige andere Entwicklungen, die das gesellschaftliche Zusammenleben grundsätzlich verändert haben – und verändern werden“. Ich habe mal irgendwo gehört, es würde ungefähr 200 Jahre dauern, bis Gesellschaften einen adäquaten Umgang und eine selbstbestimmte Verfügung mit einer wichtigen technologischen Erneuerung gefunden haben. Das bedeutet, so ungefähr in diesen Jahren hätten wir kollektiv verstanden, wie der Eisenbahnverkehr funktioniert – was er mit uns macht und wie wir ihn sinnvoll nutzen können. Sechssieben der Mitreisenden in meinem Blickfeld wischen in diesem Moment über ihr Smartphone. Was für eine unnötige Arbeit! Ich frage mich, wie lange es dauert, bis die neuronale Schnittstelle so weit ist, dass Menschen sich einfach zurücklehnen und die Augen schließen und dann ihren Smartphone-Kram vor dem inneren Bildschirm klären. Oder auch nicht zurücklehnen und die Augen schließen, sondern sehenden Auges, permanent mittels des Chips auf ihrer Großhirnrinde kommunizieren, sich informieren, shoppen, zocken, Filme schauen, swipen…
Können wir unter diesen Umständen noch an einen sozialen Fortschritt glauben? Daran, dass die Menschheit einen qualitativen Sprung nach vorn macht und mit ihren Produktions- und Eigentumsverhältnissen auch ihr soziales und ethisches Miteinander grundlegend weiter entwickelt? Landauer hat demgegenüber schon kulturpessimistische Skepsis an den Tag gelegt. Und das zurecht, denn trotz aller Annehmlichkeiten, der Maschinisierung von Arbeiten, der Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung und den Potenzialen geteilten Wissens, wird es die Technik nicht richten. Die Hippies wollten daher in ein spirituell verklärtes New Age eintreten. Was daraus folgte waren esoterische Sekten, die Entstehung der Musikindustrie, die Verbreitung von Drogen, Asientourismus und die maßgebliche Prägung von IT-Industrie, inklusive der Entwicklung des Internets. Der soziale Fortschritt der Menschheit scheint aber keinen wirklichen Sprung nach vorne gemacht zu haben. Wer ihn heute wie die Partei der Humanisten propagiert, wirkt nahezu anachronistisch.
Gleichwohl gibt es keinen Weg zurück, weder als verklärte Projektion, noch als ernsthaft denkbare Alternative. Nicht an diesem Punkt, wo die Zerstörungsdynamik staatlich-kapitalistischer Gesellschaften solche Ausmaße angenommen hat, dass Leben täglich unwiederbringlich in ungeheuerlichem Maßstab vernichtet wird. Wenn wir nicht an die Rettung durch ein höheres Wesen glauben – was hier aber auch nur dreinschlagen und aufräumen könnte, wenn wir ehrlich sind und ergo zählt dazu auch der vergöttlichte Staat – bleibt uns nur die bittere Einsicht darin, dass Menschen die Giftsuppe auslöffeln müssen, welche sie eingebrockt haben. Das geht nur durch sozialen Fortschritt. Und weil ihn die privilegierten Klassen, der Strukturkonservatismus, die Ängste vieler Leute und ihre Deformation blockieren, verlangt dies wohl die soziale Revolution. Denn eher katapultieren und graben wir uns aus dem Nullpunkt heraus, als dass das Besitzbürgertum von seiner Verfügungsgewalt abrückt….
Dahingehend sind Kropotkin und ich uns alles in allem völlig einig. Und es tut ja auch mal gut, sich gegenseitig zu bestätigen. Was mir mit der Abgabe der Diss eher etwas zu schaffen macht, ist, dass ich Angst habe, als Angeber und Akademacker gelabelt zu werden. Denn es war nun wirklich nie so, dass ich mich damit profiliert oder über andere erhoben habe. Sondern ich habe eben mein Ding durchgezogen – auch wenn es wie gesagt lange gedauert und an meinen Nerven gezehrt hat. Auch wenn ich mir damit einiges Schöne versagen musste und nicht im Moment leben oder mich um meine Zukunft kümmern konnte. Ebenso schätze ich an Anderen, wenn sie ihre Wege gehen und tolle Fähigkeiten entwickeln, von denen ich keinerlei Plan habe. Wunderbar ist es, wenn wir uns mit unserem unterschiedlichem Können und unseren verschiedenen Seinsweisen ergänzen können!
Wenn ich darüber nachdenke kommt meine Angst vor dem Labeling als Angeber und Besserwisser eigentlich nicht daher, das ich gegenüber den Personen, an die ich damit denke, materiell in irgendeiner Form besser gestellt wäre. Wäre es mir um den Aufbau einer materiellen Sicherheit gegangen, hätte ich das ganze Vorhaben nicht anfangen oder durchziehen, sondern nach meinem Studium die Kurve kriegen und irgendwie ins Berufsleben starten sollen. Nein, die Kommentare und Wahrnehmungen von Personen, die ich meine, liegen glaube ich darin begründet, dass diese mit sich selbst unzufrieden sind. Ihr Gefühl, fremden und eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden, vielleicht nicht erreicht zu haben, was sie sein wollten oder ihnen suggeriert wird, sie müssten es sein, wird dann gelegentlich auf mich projiziert. Und das nervt mich. Denn es hat nichts mit mir als Person zu tun. Ich fordere keine Anerkennung dafür ein, was ich gemacht habe. Aber ich bin eben auch nicht bereit, mich dauernd verstecken und verbergen zu müssen, dafür, dass ich mir bestimmte Fähigkeiten angeeignet habe. Warum auch? Es bringt doch niemandem was, wenn ich sie verberge, damit Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen, mich unterbuttern können, um sich selbst in der sozialen Hierarchie zu erheben…
Vielleicht waren es auch besonders komische Begegnungen, die ich da hatte, wer weiß. Dennoch sprechen Kropotkin und ich länger über das Thema, weil ich ihn fragte, wie er damit umgegangen ist. Und es überrascht mich nicht, dass er damit auch ziemlich zu tun hatte. Aber eben anders als ich, weil er ja einer Elite entstammt und diese Position hinter sich gelassen hat. Wir neigen dazu, die mehr oder weniger großen Revolutionär*innen zu verklären und tun so, als wäre es allein ihre Entscheidung gewesen, sich von ihre Privilegien zu verabschieden. Doch da kommt immer eins zum anderen und ist mit Verzicht und Versagung verbunden. So gestand mir Kropotkin wehmütig, dass er in einem anderen Leben wirklich gerne Professor der Geographie geworden wäre – zweifellos, den Geist und Forschungsdrang dazu hat er. Auch hat er dazu die Leidenschaft und Innovationskraft, sich marginalen Themen zu widmen und sie in die Debatte zu bringen. Doch so sollte es eben nicht kommen nach seiner Inhaftierung in Petersburg, seiner Flucht in die Schweiz, erneuten Inhaftierung in Frankreich, dem Exil in England. So stellte er sein Können, seine Leidenschaft und sein Leben in den Dienst der sozial-revolutionären Bewegungen. Die Umstände seiner Zeit machten es ihm eben nicht möglich, irgendwie angepasst zu leben und die ganze Scheiße um ihn herum zu ertragen.
Sieht es dahingehend heute wirklich anders aus? Ich glaube nicht. Ich glaube, es gibt viele progressive Lehrer*innen, Natur- und Sozialwissenschaftler*innen, Ärzt*innen und andere Menschen mit universitärer Ausbildung, die innerhalb von bestehenden Institutionen etwa verändern und voranbringen wollen. (Selbstverständlich auch in anderen Bereichen, aber ich spreche hier gerade vom Widerspruch in Kreisen mit akademischem Hintergrund.) Etwas verändern und voranbringen zu wollen, ist aber nicht das gleiche, wie eine sozial-revolutionäre Einstellung zu gewinnen und mit den eigenen Fähigkeiten aktiv emanzipatorische soziale Bewegungen zu unterstützen. Kropotkin hat diesen Weg gewählt, wollte und musste ihn wählen. Und ich … muss meinen eigenen Weg nach wie vor finden – folge ihm dabei zugleich schon die ganze Zeit und harre der Dinge, die da kommen.
Darüber unterhalten ich mich mit Pjotr noch eine gute Weile unserer Bahnfahrt. Er ist ein angenehmer Gesprächspartner. Manchmal etwas sehr rechthaberisch und mit Mansplaining könnte er sich auch mal auseinandersetzen. Insgesamt aber genieße ich die Umfassendheit, Weite und Tiefgründigkeit seines Denkens, verbunden mit seinem starken Glauben an die Menschenwürde und das schon als trotzig zu bezeichnende Beharren darauf, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse doch besser einrichten lassen müssten. Im Übrigen schätze ich ihn auch sehr für sein klares Bewusstsein darüber, dass es nicht „guten Ideen“, „Gedanken“ oder „Konzepte“ sind, die eine Gesellschaftstransformation möglich machen (wie die bürgerlichen Ideolog*innen glauben), sondern der Organisations-, Bewusstseins- und Aktionsgrad von Kämpfenden in sozialen Bewegungen.
Wir verabreden uns lose, uns mal wieder auf einen Spaziergang im Park zu treffen, wenn es sich denn ergibt. Vielleicht war es auch mehr eine Floskel, denn ich weiß, er ist vielbeschäftigt und eingenommen von seinen Projekten. War bei mir bisher ja auch stark so. Jetzt erst mal öffnet sich aber ein Fenster mit Zeit und emotionalen Kapazitäten, dass ich spontaner sein und mich auch auf etwas Neues einlassen könnte. Wir verabschieden uns, als ich an meinem Zielbahnhof aussteige. Als ich hinter mich blicke, lächelt Kropotkin mir noch mal verschmitzt aus seinem wallenden Bart zu. Komischer, lieber, sehnsüchtiger, kämpferischer Kauz, denke ich mir. Vielleicht haben wir doch mehr gemeinsam, als ich mir eingestehen wollte… Und ich schleppe die vier Bücher ins Tal, um sie abzugeben und mich dem Prüfverfahren auszusetzen.
Solange niemand interveniert wird diese Reihe in sechs weiteren Folgen fortgesetzt. Darin begegnen werden uns: Gustav Landauer, Max Stirner, Émile Pouget, Johann Most, Errico Malatesta und Emma Goldman.