Stell dir vor.
Triggerwarnung: Der folgende Text enthält die Schilderung einer Situation sexualisierter Grenzverletzung, Machtmissbrauchs und körperlicher Ausgeliefertheit in einem linken Kontext.
Stell dir vor, du bist auf einem großen Sommertreffen einer linken Gruppierung. Einer Szene, die von sich sagt, sie sei solidarisch, emanzipatorisch, ein Gegenentwurf zu klassischen patriarchalen Motorradclubs. Antifaschistisch, antirassistisch, irgendwie auch feministisch – zumindest dem Anspruch nach.
Es ist warm, laut, viele Menschen, viel Nähe. Du bist eine der wenigen Frauen, außerdem noch relativ jung. Du kennst viele, aber nicht alle. Du willst dazugehören, nicht auffallen, nicht stören. Du willst Teil dieses Kollektivs sein, das vorgibt, es besser zu machen als die anderen.
An diesem Abend soll eine internationale Band spielen. Kurz vorher kommt ein junger Mann auf dich zu. Er ist wichtig, er ist gewählter Verbandssprecher. Einer von denen, die reden, entscheiden, repräsentieren. Er fragt dich, ob du bei etwas mitmachen willst – Bodypainting auf der Bühne. Du zögerst. Du weißt nicht genau. Du sagst, dass du dafür Schnaps bräuchtest. Er organisiert ihn sofort.
Im Backstage-Bereich ist es hektisch. Du trinkst. Du siehst eine andere Frau, die auch mitmachen soll. Du denkst: Wenn sie das kann, dann kannst du das auch. Außerdem fühlt es sich gut an, ausgewählt worden zu sein. Gesehen zu werden. Gerade hier, wo doch immer betont wird, dass Frauen nicht nur Beiwerk sein sollen.
Du ziehst dich bis auf die Unterwäsche aus. Anweisungen kommen auf Englisch, schnell, nicht alles ist klar. Jemand setzt dir eine große, schwere Holzmaske auf den Kopf. Du kannst kaum etwas sehen, nur durch zwei kleine Löcher. Dann wirst du auf die Bühne geführt.
Die Band beginnt zu spielen. Eine Frau bemalt deinen Körper mit kalter Farbe. Erst den Rücken. Dir ist kalt. Du stehst still. Beim nächsten Lied drehst du dich um, jetzt ist die Vorderseite dran. Durch die kleinen Löcher in der Maske siehst du das Publikum. Du spürst die Blicke, aber du kannst sie nicht einordnen. Du hörst die Musik, sie ist laut, sie gefällt dir nicht.
Als dein Körper fertig bemalt ist, bleibst du stehen. Du weißt nicht, was als Nächstes von dir erwartet wird. Später wird dir klar, dass du hättest tanzen sollen. Du hast es nicht richtig verstanden. Dein Englisch reicht nicht. Du bist überfordert. Du willst weg, aber du weißt nicht wie. Du willst nicht uncool wirken. Du willst niemandem den Abend verderben. Schon gar nicht hier, wo doch alle behaupten, sensibel und reflektiert zu sein.
Irgendwann kommt ein Mann auf der Bühne auf dich zu und führt dich herunter. Du bist erleichtert. Die andere Frau bleibt oben, bewegt sich weiter, bis die Show vorbei ist.
Was du danach machst, weißt du nicht mehr genau.
Später triffst du die andere Frau wieder. Ihr macht zusammen ein Foto. Sie hat ein Bandshirt bekommen. Du nicht. Schließlich hast du abgebrochen.
Von diesem Auftritt gibt es ein Foto in einer Szene-Zeitschrift. Darauf bist du zu sehen. In Unterwäsche. Mit Maske. Man erkennt dein Gesicht nicht. Aber du weißt, dass du es bist. Die Farbe bekommst du nicht mehr aus der Unterwäsche raus.
Das ist keine Geschichte.
Das ist mir passiert.
Und es ist nicht irgendwo passiert, sondern in einem linken Zusammenhang, der von sich behauptet, ein Gegenmodell zu sein.
Jahre später kann ich mich immer noch in diese Situation hineinfühlen. In die Kälte auf der Haut. In das Nicht-Wissen. In das Stillstehen. Das allein zeigt mir, dass es einschneidend war – auch wenn ich es damals nicht so benennen konnte.
Heute frage ich mich nicht mehr, warum ich es mitgemacht habe. Ich frage mich, warum es überhaupt so weit kommen konnte.
Warum die Ansprüche einer Band wichtiger waren als der Schutz von Frauen. Warum ein Machtgefälle ausgenutzt wurde. Warum Alkohol zur Beruhigung organisiert wurde. Warum fehlende Zustimmung, Sprachbarrieren und Überforderung keine Rolle spielten.
Und warum all das möglich war in einer Struktur, die nach außen behauptet, anders zu sein.
Wenn es um Kunst gegangen wäre, hätten auch zwei alte, dicke Männer auf der Bühne stehen können.
Es ging nicht um Kunst. Es ging um verfügbare Körper.
Und es ist nicht vorbei, nur weil man Jahre später versteht, was passiert ist.
Warum ich das jetzt schreibe
Ich schreibe das nicht, weil ich einen persönlichen Abschluss suche. Ich schreibe es, weil ähnliche Geschichten immer wieder passieren – und weil sie immer wieder relativiert, umgedeutet oder zum Schweigen gebracht werden.
Ich schreibe, weil Betroffene oft erst Jahre später Worte finden. Und weil ihnen dann gesagt wird, es sei zu spät, zu unklar, zu subjektiv.
Ich schreibe, weil linke Strukturen sich nicht damit begnügen dürfen, gegen Patriarchat zu sein, während sie es im Inneren reproduzieren.
Und ich schreibe, weil Schweigen schützt: nicht die, denen etwas passiert ist, sondern die Strukturen, die es möglich machen.
Das hier ist kein Angriff von außen. Es war ein Blick von innen.
Und er bleibt notwendig.