Autonomie – Selbstbestimmung – Selbstorganisation
Nachdem Ende Juni hier ein Beitrag zum Begriff „Autonomie“ veröffentlicht wurde, folgen nun noch die beiden weiteren Teile zu „Selbstbestimmung“ und „Selbstorganisation“, die ursprünglich in der Zeitung „Contraste“ veröffentlicht wurden. Der Autor geht davon aus, das innerhalb der radikalen Linken und unter Anarchist*innen teilweise eine große Unkenntnis der eigenen theoretischen Konzepte gibt. Dies scheint ihm zumindest einer der Gründe für ihre Organisationsschwäche und Orientierungslosigkeit zu sein. Bei der Reflexion über die eigenen Konzepte geht es nicht darum, vermeintlich „richtige“ Definitionen zu finden, sondern diese mit eigenen Erfahrungen zu verknüpfen und dynamisch an vorgefundene Situationen anzupassen. Mit dieser ausgesprochen undogmatischen Herangehensweise soll eine kollektive Bewusstwerdung gestärkt werden.
SELSTORGANISATION ALS ENTSCHEIDENDES THEORETISCHES KONZEPT
Wenn ich an Selbstorganisation denke, erinnere ich mich an diese eindrückliche Alltagsbegebenheit, welche ich vor einigen Jahren beobachtete. Von einem Balkon betrachtete ich die folgende Szene in einem großen Londoner Hinterhof: Mehr als zwanzig Kinder liefen über einen Bolzplatz und spielten Fußball. Schnell wurde klar, dass es nicht zwei Mannschaften gab, sondern sich die Spielenden mal mehr und mal weniger daran beteiligten, auf eines der Tore zu schießen – oder auch nicht. Manche trödelten in Kreisbewegungen über das Feld. Ein Vater stapfte mit seinem Kleinsten darüber.
Dann nahm ein vielleicht Achtjähriger das Spiel ernst und rannte im Sturm mit einem Ball über das Feld, schoss auf das Tor. Halbherzig stellten sich ihm andere in den Weg. Andere kickten mit zweidrei anderen Bällen hin und her. Die Beteiligten hatten vermutlich Hintergründe in dutzend verschiedenen Ländern, waren unterschiedlich alt und hatten verschiedene Geschlechter. Das Spiel zerfaserte immer mehr. Obwohl kein Signal dafür zu hören war, verließen die Kinder nach und nach den Platz, eines fuhr noch einmal quer mit dem Fahrrad darüber. Damit schien das Spiel vorbei zu sein. Es war Zeit, Abendbrot zu essen. Ein paar ältere Jugendliche betraten den Platz, um Basketball zu spielen.
Aus anarchistischer Sicht bedeutet Selbstorganisation, dass sich komplexe Systeme in Bezug auf gemeinsame Zwecke bilden. Dabei geht es maßgeblich um die Selbsterhaltung selbstorganisierter Systeme durch kontinuierliche Anpassung und Weiterentwicklung. Unterschiedliche Entitäten beziehen sich aufeinander, kommunizieren miteinander und verorten sich zueinander. Weiterhin wird von Emergenz gesprochen, worauf bspw. Adrienne Maree Brown hinweist (1). Das sich rgebende Ganze ist mehr als nur die Summe seiner Teile: Es weist neuartige Eigenschaften auf, die anders sind als jene der einzelnen beteiligten Entitäten. Die Beteiligten erzeugen Synergien, das heißt, sie ergänzen sich in ihren Eigenschaften und Fähigkeiten und multiplizieren diese. Eine Betrachtung von selbstorganisierten Systemen muss insofern holistisch, ganzheitlich, sein. Sie weisen einen höheren Grad an Ordnung auf. Damit vermindern sie die Entropie, das Auseinanderdriften von Dingen im Kosmos.
Einige der angedeuteten Merkmale der Selbstorganisation verdeutlichen, dass dieses Konzept aus dem naturwissenschaftlichen Denken entlehnt wurde. Um Selbstorganisation besser zu beschreiben, lohnt es sich, Bilder zu verwenden: Etwa das Myzelium, das sich permanent bewegende und kommunizierende Geflecht von Pilzen. Oder das koordinierte Agieren von Insekten, wie Ameisen, Termiten oder Heuschrecken. Auch die »Murmuration« – die Bezeichnung für die imposante Bewegung der Schwärme von Staren, wie sie ähnlich auch bei Fischschwärmen vorkommt. Die einzelnen Tiere verlieren in Schwärmen nicht ihre Individualität. Doch es scheint, dass sie in einen gemeinsamen Flow geraten und auf diese Weise als Schwarm agieren können.
Ähnliches geschieht auch in Ökosystemen, wie in einem Wald, in welchem alle Lebensformen aufeinander abgestimmt sind und dynamisch auf Veränderungen reagieren können. Wird etwa ein Baum durch einen Sturm entwurzelt, ordnen sich die einzelnen Bestandteile dieses Waldstücks in Bezug aufeinander wieder neu an. Dafür braucht es keine anordnenden Menschen, die bestimmen, was wo stehen und wachsen soll. Derartige Naturphänomene sind es gewesen, die beispielsweise Peter Kropotkin und Elisée Reclus fasziniert haben und die sie in ihren Theorien verarbeitet haben.
Wenn wir über die Organisation von Gesellschaft nachdenken, gibt es für diese keine an sich »natürlichen« und per se »vernünftigen« Formen und Prozesse. Menschen können entschlossen handeln, kommunizieren und das Geschehen zielgerichtet beeinflussen. Die bewusste Gestaltung von gesellschaftlichen Ordnungssystemen geschieht nach subjektiv beeinflussten Entscheidungen und unterschiedlichen Interessen, die miteinander in Konflikt stehen. Deswegen braucht es Auseinandersetzungen darüber, wie wir miteinander leben und uns in Gesellschaft organisieren können. Zugleich kann festgestellt werden, dass Menschen allgemein in der modernen, staatlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht besonders artgerecht miteinander leben und entfremdet sind. Selbstorganisation als Organisationsansatz verweist darauf, dass es möglich ist, deutlich besser miteinander auszukommen.
Die Entfaltung eines spannenden theoretischen Konzepts
»Selbstorganisation« ist für das anarchistische Denken als theoretisches Konzept bedeutend. Dies bezieht sich gleichermaßen auf die Organisation von sozialen Bewegungen, wie auch auf eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform, welche vorweggenommen wird. Selbstorganisation entsteht, wenn sich aus der Paradoxie von Chaos und Struktur flexible und freiwillige Ordnungen ergeben. Diese Denkfigur entspringt der liberalen Tradition. Im Liberalismus wird angenommen, dass sich Märkte selbst organisieren, etwa indem Preise durch den Abgleich von Angebot und Nachfrage zustande kommen. Dieser Vorstellung nach entspringen daraus auch die Grundlagen für die Gesellschaft. Letzteres bezweifeln Anarchist*innen. Sie gehen von der Selbstorganisation des Sozialen aus, die nicht auf Markteffekten beruht, sondern sich anhand unterschiedlicher Bedürfnisse und Fähigkeiten reguliert. Das dahinterliegende Muster ist allerdings dasselbe und beinhaltet, dass es kein Zentrum und keinen bestimmenden Willen bräuchte, nach dem die Dinge angeordnet werden.
Der Begriff »Selbstorganisation« wurde in der Kybernetik in den 1950er Jahren geprägt. Es spricht vieles dafür, ihn auch rückwirkend auf das anzuwenden, was Anarchist*innen schon ein Jahrhundert vorher erreichen wollten. Meiner Ansicht nach ist Selbstorganisation das, was die wesentlichen anarchistischen Organisationsprinzipien vermittelt und zusammenhält. Diese sind Dezentralität, Autonomie, Föderalismus, Freiwilligkeit und Horizontalität. Dies kommt auch in der anarcho-kommunistische Vorstellung einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsform in einer »Föderation dezentraler autonomer Kommunen« zum Ausdruck. Auch die Organisationsform der Rätedemokratie entspricht inhaltlich den Überlegungen zu selbstorganisierten Systemen, sowie der Überzeugung, dass diese eine Gesellschaft in einer höheren Ordnung organisieren können. Auf ähnliche Weise wurde in der Anti-Globalisierungsbewegung von einem »Netzwerk der Netzwerke« gesprochen.
In Pierre-Joseph Proudhons Text »Das Prinzip der Föderation« (2) von 1863 schwingt die Selbstorganisation mit. Sie findet sich auch bei Johann Mosts Ausblick auf eine anarcho-kommunistische Gesellschaft von 1899. Most schreibt von der »freien Bewegung der Kräfte«, nach der unterschiedliche Bedürfnisse aufeinander abgestimmt werden: »Das Bild der kommunistischen Gesellschaft wird kein Kreis sein, von dessen Zentrum aus strahlenförmig alles dirigiert wird, sondern ein mannigfach verschlungenes Netzwerk, dessen Knotenpunkte die verschiedenartigsten Tätigkeitsgebiete darstellen« (3). Der Vordenker des anarchistischen Syndikalismus, Émile Pouget, sieht dies 1905 bereits in der autonomen Gewerkschaftsbewegung umgesetzt und meint, in ihr gäbe es »Zusammenhalt, aber keinen Zentralismus, Initiative, aber keine Führung. Der Föderalismus ist überall, auf allen Ebenen, die verschiedenen Einheiten – vom Individuum über das Syndikat, die Föderation oder Arbeitsbörse bis zu den Bundessparten – sind allesamt autonom. […] [D]er Anstoß erfolgt nicht von oben, sondern von irgendwo und bahnt sich mit wachsender Kraft seinen Weg durch die gesamte Organisation« (4).
Netzwerke als emanzipatorische Gegen-Macht
Das Modell eines Netzwerkes von dezentralen und autonomen Entitäten entspricht anarchistischen Vorstellungen davon, wie sich eine moderne und komplexe Gesellschaft selbst organisieren kann. Durch die Erzeugung von Emergenz und Synergieeffekten, die Fluidität und Prozesshaftigkeit besteht das Potenzial, dass wir ohne Herrschaftsordnungen leben können. Weitergedacht handelt es sich bei »Selbstorganisation« um einen wichtigen Schlüsselbegriff für das anarchistische Denken.
Fairerweise muss man zugeben, dass das Konzept nicht per se mit dem Anarchismus verbunden ist. In seiner naturwissenschaftlichen oder systemtheoretischen Verwendung liegt zunächst keine klare Positionierung, obwohl sich, wie erwähnt, Verbindungen zu Grundannahmen anarchistischer Theorie ziehen lassen. Die meisten politischen Begriffe sind mit verschiedenem Bedeutungsgehalt aufgeladen und umstritten. Die mit »Selbstorganisation« verbundenen Assoziationen entstanden in Koevolution insbesondere von anarchistischen, liberalen und systemtheoretischen Debatten.
So greifen auch kapitalistische Unternehmen, die Innovation und Produktivität ihrer Mitarbeitenden steigern wollen, auf selbstorganisierte Ansätze zurück, beispielsweise, wenn sie auf »flache Hierarchien« und »agiles Management« setzen. Auch für zeitgenössische Regierungstechniken werden Aspekte von Selbstorganisation nutzbar gemacht. Durch technokratische »Sachpolitik« werden Bürger*innen zunehmend vom Staat entfremdet. In begrenztem Rahmen sollen von Regierungen eingerichtete Bürger*innenräte Partizipationsmöglichkeiten schaffen – oder wenigstens den Anschein davon erwecken. Gleichwohl werden Konzepte, die in einem dezidiert anarchistischen Rahmen entwickelt wurden, auch gezielt adaptiert. Damit befasste sich beispielsweise der Soziologe Ulrich Bröckling (5).
Es gilt darüber zu sprechen, welche konkrete Bedeutung Anarchist*innen mit Selbstorganisation« verbinden. Beispielsweise gibt es eine Diskussion darüber, ob die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft ein Ansatz wäre, um das Politische vom Staat wegzuziehen und eine reale Gegen- Macht jenseits verstaatlichter Politik zu etablieren, wie etwa Murray Bookchin (6) oder Cindy Milstein (7) thematisieren. Im Grunde genommen beruht auch die Rätedemokratie auf der Annahme, je selbst-organisierter »die« Gesellschaft ist, desto weniger ist sie auf herrschaftliche Organisationsformen angewiesen. Mir scheint allerdings, dass »Zivilgesellschaft« ebenso wie die Trennung von »Privatsphäre« und »Öffentlichkeit« in der bürgerlich-liberalen Gesellschaftsform bereits ein Produkt staatlich-kapitalistischer Vergesellschaftung ist. Rätedemokratische Bestrebungen oder eine Föderation dezentraler autonomer Kommunen müssten also darüber hinaus gehen. Es ist wichtig, selbstkritisch mit der eigenen Verwendung von Begriffen umzugehen. Das gilt auch für Akteurinnen in emanzipatorischen sozialen Bewegungen, wenn sie sich auf Konzepte der Selbstorganisation beziehen. In den letzten 20 Jahren entwickelte sich durch die Kooperation mit verschiedenen NGOs ein professionelles Bewegungsmanagement. Dieses will die Ressourcen der Selbstorganisation in der sozialen Bewegung produktiv machen und steuern. Unabhängig von den Zielen, die damit erreicht werden sollen, besteht darin die Gefahr, ein instrumentelles Verhältnis zu selbstorganisierten Ansätzen zu entwickeln. Mit selbstorganisierten Methoden zu operieren oder diese gezielt zu verwenden, ist legitim, solange dies transparent geschieht. Selbstorganisierte Prozesse sind offen zu halten und dezentralen Gruppen sollten ihre Autonomie und Freiwilligkeit behalten. Daran bemisst sich, inwiefern selbstorganisierte Strukturen anarchistischen Vorstellungen entsprechen.
Endnoten
(1) Adrienne Maree Brown (2017), Emergent Strategy, Chico, CA/USA.
(2) Proudhon, Pierre-Joseph (2017): Das Prinzip der Föderation [1863], in: von Borries,
Achim/Weber-Brandies, Ingeborg (Hg.), Anarchismus. Theorie – Kritik – Utopie, Heidelberg, S. 55–57.
(3) Most, Johann (2006): Staat und Kommunismus; in: Ders. (1899): Anarchismus in einer
Nußschale, Münster, darin: S. 28–34; hier S. 34.
(4) Pouget, Émile (1905): Die Partei der Arbeit; in: Ders. (2014): Die Revolution ist Alltagssache. Schriften zur Theorie und Praxis des revolutionären Syndikalismus, Lich, S. 107–134; hier: S. 132.
(5) Bröckling, Ulrich (2017): Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, Berlin.
(6) Bookchin, Murray (1992): Die Neugestaltung der Gesellschaft. Pfade in eine ökologische
Zukunft, Grafenau.
(7) Milstein, Cindy (2013): Der Anarchismus und seine Ideale, Münster.
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SELBSTBESTIMMUNG ALS WICHTIGER ETHISCHER WERT
Grundsätzlich geht es den allermeisten Menschen so, dass ihr individueller Drang, über sich selbst zu bestimmen, mit den Anforderungen von sozialen Gemeinschaften und „der“ Gesellschaft an ihre Mitglieder im Konflikt steht. Dies ist kein Naturgesetz, sondern hat mit der Form der modernen und demokratischen, staatlich-kapitalistischen Gesellschaft zu tun, in welcher wir leben. Einerseits wird in ihr die Möglichkeit formuliert, dass sich alle Menschen selbst bestimmen könnten – und dass es die damit verbundenen Rechte darauf auszuweiten gälte. Andererseits ist Selbstbestimmung in der bürgerlich-liberalen Gesellschaftsform an Privilegien geknüpft und individualistisch verkürzt – sie geht zu Lasten anderer und soll vorgefertigten Wahlmöglichkeiten entsprechen.
Die Beschäftigung mit „Selbstbestimmung“ führt zu vielen weiteren Fragen: Was ist überhaupt dieses „Selbst“, das über sich verfügen könnte? Was ist das „Ich“ und woher weiß es, was es „wirklich“ will? Was bedeutet es, unser Leben selbst zu entfalten und zu gestalten? Selbstbestimmung ist ein ethischer Wert und ein wesentliches Ziel aller Anarchist*innen. Es gilt sie im Hier&Jetzt zu erlernen, zu entdecken, zu ermöglichen und zu erkämpfen, damit wir in einer libertär-sozialistischen Gesellschaft leben können. Und gleichzeitig gilt es die Gesellschaft, in der wir leben, grundsätzlich zu verändern, um Selbstbestimmung umfassend und für alle zu verwirklichen.
Eine interessante Begriffsgeschichte
Selbstbestimmung als ethischer Wert und als Ziel wird insbesondere im Individualanarchismus betont. Die Denker William Godwin, Max Stirner und Henry-David Thoreau formulierten Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts auf unterschiedliche Weise wichtige Gedanken zur Kritik der Massengesellschaft und daran, dass Selbstbestimmung an Privilegien gekoppelt ist. Anstatt in der Masse vereinzelt zu sein, gilt es, eine Gemeinschaft zu bilden, in der sich die Einzelnen freiwillig zusammenschließen und als Teil von ihr fühlen können. Statt Möglichkeiten zur Selbstbestimmung auf Kosten anderer zu erlangen, sollten umgekehrt die Bedingungen dafür geschaffen werden, dass bedingungslos alle sich selbst bestimmen können. (vgl. Contraste #461 Februar 2023).
Selbstbestimmung bezieht sich auf das eigene Denken und setzt Skepsis gegen vorgefertigte Wahrheiten voraus. Mit ihr wird das individuelle Fühlen und Begehren betont, was ein Hineinspüren in sich selbst verlangt. Und sie betrifft das Handeln, um über Zwecke und Abläufe von Tätigkeiten selbst zu entscheiden. Anarcho-Kommunist*innen wie Carlo Cafiero formulierten sie ebenfalls als Ziel – meinten aber, dass es umso mehr die Gesellschaftsstrukturen zu verändern gilt, um sie für alle möglich zu machen. Ebenso verbanden zum Beispiel Errico Malatesta und Emma Goldman ihre sozial-revolutionären Perspektiven mit einem Lebensstil, bei dem Selbstbestimmung eine große Rolle spielte.
Anarchistische, liberale und demokratisch eingestellte Gruppierungen kämpften bereits während des 19. Jh. für die Ausweitung von Selbstbestimmungsrechten (z.B. Freiheit der Meinung, Religion, des Begehrens usw.). Das 20. Jh. erschien als Epoche der Massengesellschaft, mit ihren Institutionen der Massenfabrik, der Arbeiterviertel, Schulen, dem Militär, der staatlichen Verwaltung, etc. Das subversive Streben nach Selbstbestimmung wurde durch totalitäre Gesellschaftssysteme wieder in staatlich-kapitalistische Bahnen gelenkt. Gleichzeitig neigten offenbar viele Menschen aufgrund von Überforderung, Ängsten und Anstrengungen dazu, Selbstverantwortung und damit Selbstbestimmung abgeben zu wollen. Als Projektion wenden sie sich bis heute häufig sogar gegen die Selbstbestimmungsforderung von Anderen.
Das Schweigen über die NS-Zeit und der bedrückende Konservatismus der Nachkriegszeit mit seinen erneuerten patriarchalen Familienstrukturen waren ein wichtiger Faktor, dass es weltweit um 1968 herum zu großen Befreiungsschläge kam. Endlich konnten, durften und sollten die Einzelnen eine Rolle spielen und selbst denken, fühlen und handeln! Die Selbstbestimmung der Einzelnen wurde zur Zielvorstellung, wie auch zur Motivation für das eigene Engagement und zur Anforderung an selbstorganisierte Gruppen, die nach Emanzipation strebten. Zweifellos veränderte sich die Gesellschaft damit, vor allem auf lange Sicht. Im selben Zuge wurde die Ambivalenz von individuellen Emanzipationsbestrebungen deutlich: Beginnen Gruppen, sich selbst zu bestimmen, greifen sie Raum. Doch welche Voraussetzungen und Fähigkeiten haben sie dafür im Verhältnis zu anderen, die ebenfalls Bedarf an Selbstbestimmung haben?
Kontroverse Debatten um Selbstbestimmung
In anarchistischen Gruppen heute wird Selbstbestimmung einerseits bejaht und gefeiert, ja häufig vorausgesetzt, um respektiert zu werden und Teil einer Szene sein zu können. Andererseits gibt es immer wieder Konflikte über die gemeinsamen Aufgaben und Ziele, über Verbindlichkeit und Kontinuität. Hinter derartigen Konflikten verbirgt sich häufig eine unklare Kommunikation über Erwartungen, Wünsche, Kapazitäten und Gewohnheiten, welche die Mitglieder einer Gruppe haben. Die simple Antwort auf derartige Konflikte scheint zu sein, dass echte Selbstbestimmung nur in Bezug auf die Anderen möglich ist und erst durch die Gemeinschaft überhaupt gewährleistet werden kann. Also müssen wir miteinander darüber sprechen. Doch ist einfacher gesagt als getan. Um Bedürfnisse und Wünsche auszuhandeln braucht es Zeit, die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen, sowie Entscheidungen.
Selbstbestimmung ist insbesondere in Diskussionen um Schwangerschaftsabbruch, Impfen und Konsum präsent. Die Sichtweisen darauf sind vom Verständnis von Natur und den Bezug zur modernen Gesellschaft geprägt. Inwiefern darf und sollte die Gesellschaft in individuelle Körper eingreifen, wenn dies technisch möglich ist? Derartige Bevölkerungspolitik, die autoritär-konservativ flankiert wird, findet heute überall statt. Oft genug steht dabei hierzulande die rassistische Vorstellung des Aussterbens von Biodeutschen im Hintergrund.
Beim Impfen handelt es sich um eine gesellschaftliche Errungenschaft, für die es aus prinzipiellen Gründen eine selbstbestimmte Entscheidung geben sollte. Schließlich geht es um einen Eingriff in Körper, woran Selbstbestimmung am deutlichsten wird. Ich persönlich finde es richtig, dass Einzelne sich hierbei in ihrer Selbstbestimmung zurückstellen – um das Risiko zu senken, dass andere erkranken und also in ihrer Selbstbestimmung ganz wesentlich eingeschränkt werden. Und dennoch untergräbt ein gesetzlicher Zwang dazu – oder auch ein moralischer Druck – gerade die Fähigkeit und Möglichkeit von realer Selbstbestimmung.
Beim Gebiet der Konsumentscheidungen, möchte ich an dieser Stelle kein konkretes Beispiel anzuführen. Denn wie viel Unsinn wurde uns im neoliberalen Kapitalismus als total individuelle Entscheidung verkauft, wie viele langweilige Ratgeber gibt es, in denen wir aufgefordert werden „ganz wir selbst“ zu sein, unseren „eigenen Weg“ zu gehen und „zu werden, wer wir sind“. Ob es sich um Urlaubserlebnisse, romantische Dates, Yoga, Autos, exotisches Essen oder die Kücheneinrichtung handelt – letztendlich handelt es sich um Dinge, Erlebnisse und Menschen, die wir im kapitalistischen Rahmen konsumieren sollen.
Wiederaneignung eines ethischen Wertes
In anarchistischen Kreisen gibt schon sehr lange Debatten darüber, wie es möglich ist, dass sich Menschen – ausgehend von den gesetzten gesellschaftlichen Bedingungen – anfangen, „wirklich“ selbst zu bestimmen. Wie können Möglichkeiten und Fähigkeiten zur Selbstbestimmung ausgeweitet werden? Und bei wem sollte damit angefangen werden? Darüber gilt es sich konstruktiv und solidarisch zu streiten. Eine ethische Debatte darüber muss insbesondere weiter geführt werden, weil der Selbstbestimmungsdrang, der sich ab den 70er Jahren Bahn brach, als ein wesentliches ideologisches Element in der Herrschaftsordnung aufgriffen wurde. Auch wenn das neoliberale System mittlerweile an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde geht, gibt es einige „progressive“ Aspekte darin, die Selbstbestimmung betreffen (z.B. Förderung individueller Begabungen, Diversität in der Repräsentation, Akzeptanz queerer Identitäten, usw.). Aktuell wird „Selbstbestimmung“ wieder stärker an Privilegien und Besitz gekoppelt. Mit dieser anti-sozialen Konzeption wird letztendlich die Verfügung von alten, weißen, westlichen, reichen Männern über alle anderen Menschen wieder hergestellt. Dies geht mit gewaltvollen Strukturen einher, durch die sich viele Menschen gegeneinander ausspielen oder sogar aufhetzen lassen. Daraus gehen Ungleichheiten hervor, die dann wiederum als angeblich natur- oder gottgegeben oder einfach mit der Ablehnung von gesellschaftlicher Verantwortung gerechtfertigt werden.
Dieser aggressiven, rechtslibertären Konzeption von Selbstbestimmung stehen anarchistische Verständnisse entgegen. Stattdessen soll Selbstbestimmung für alle gelten und einen anderen Charakter haben als in der staatlich-kapitalistischen Gesellschaftsform. Wie lässt sich eine selbstbestimmte Lebensform beschreiben? Sicherlich hast du Gedanken und Erfahrungen dazu und damit. Wahrscheinlich weißt du, dass sich das Erlernen von Selbstbestimmung in Widersprüchen bewegt, den Mut zur Infragestellung und Experimentierfreudigkeit verlangt und sich die Möglichkeiten dazu in Bezug auf andere Menschen ergeben. Lasst uns eine gemeinsame Debatte über unsere Ethik führen.
Selbstbestimmung meint, dass Menschen individuell über ihre Körper verfügen und ihr Leben selbst gestalten und entfalten können. Dazu gehört die Reflexion über das eigene Denken, Fühlen und Handeln und dessen bewusste Ausrichtung nach eigenen Vorstellungen und Wünschen. Im anarchistischen Sinne soll Selbstbestimmung für alle Menschen gelten und daher nicht an Privilegien gekoppelt sein. Weiterhin steht „echte“ Selbstbestimmung demnach im Konflikt mit ihrer Konzeption nach herrschenden Ideologien. Als ethische Wert stellt Selbstbestimmung eine wesentliche Zielvorstellung für eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform dar und beinhaltet zugleich den Anspruch, sie im Hier&Jetzt umzusetzen und auszuweiten.