Gegen peinliche Abwehrreflexe und den Fluch der Theorielosigkeit

Auf Panopticon wurde ein abgrundtief schlechter Text veröffentlicht, der es nun auch übersetzt auf knack.news geschafft hat : Gegen Anarcho-Liberalismus und den Fluch der Identitätspolitik. Herzlichen Dank für den Einblick in die theoretische Schwäche des zeitgenössischen Anarchismus – ob in Großbritannien 2018 oder sonstwo. Zum Glück gibt es auch andere Stimmen… Das aus diesem theoretischen Tiefstand nur schlechte Strategien, sektiererischer Dogmatismus und eine irrelevante Praxis folgen können, ist das eine. Etwas anderes ist es, die eigene Unzufriedenheit dann auf andere zu projizieren. Da wird also auf „den“ Liberalismus eingedroschen – und warum auch nicht? Niemand mag Liberale. Sie sind ein ebenso leichte Prügelknaben wie die pauschale Verurteilung „der“ Linken ein bloßes Konstrukt und ein schlechter Treppenwitz ist.

Ekelhaftes Selbstbestätigungsgehabe, gehen in diesem und vergleichbaren Texten mit schlichtweg unbegründeten Behauptungen einher. Romantische Projektionen sollen nachvollziehbare Argumente ersetzen, um den Autor*innen mühsame Denkprozesse zu ersparen und sich dennoch moralisch (!) auf der richtigen Seite zu wähnen. Ziemlich seltsam, das diese Anarchist*innen einerseits den konkreten Menschen sehen wollen (ein im Grunde genommen sehr liberaler Ansatz), während sie andererseits anderen gar nicht zuhören möchten, sondern sie lieber pauschal verurteilen.

Dabei sollte es Anarchist*innen zu denken geben, das viele ihrer Bestrebungen in den letzten dreivier Jahrzehnten teilweise eher durch liberale Politik erkämpft wurden, als durch das eigene Engagement. Emanzipation ist ein äußerst ambivalenter Prozess – in dem es verschiedene Positionen und Strategien gibt. Eine grundlegende Bereitschaft, verschiedenen Akteuren zuzuhören, sollte vorausgesetzt werden, bevor man diese pauschal verurteilt. Hierbei versagt der Text grundlegend. Und das ist insofern schade, als das in seiner kryptisch formulierte Kritik ja viele wahre Punkte stecken: Es ist richtig, dass sich Szene-Angehörige exklusive Räume schaffen, mit der Annahme dort Safer-Spaces für bestimmte Gruppen aufzubauen. Es ist wahr, das in privilegierten Kreisen (die im Text pauschaul mit dem Nicht-Wort „mittelständisch“ bezeichnet werden) Markierungen der Unterdrückung aufgegriffen werden, um sich selbst zu inszenieren und durch das gewählte Label, ebenfalls „betroffen“ zu sein, einer Reflexion über die eigenen Privilegien zu entziehen. Manche inszenierte ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheits-Gruppen auch, um dadurch soziale Anerkennung zu erhalten und damit einen sozialen Aufstieg zu wagen. Außerdem wird dauernd von „Diskriminierung“ gesprochen – und diese dabei von Unterdrückung und Ausbeutung entkoppelt. Diskriminierungsformen sind aber Folgen von Herrschaftsverhältnissen – und dies blenden Liberale gewollt oder unbewusst systematisch aus. Und es stimmt auch, dass neoliberale Regierungspolitik Identitäten mit konstruiert, um sie adressierbar und verwaltbar zu machen. Es stimmt, das Unternehmen diese Identitäten als Arbeiter*innen und Konsument*innen gewinnen wollen. – Insofern ist es schade, das es um all diese wichtigen Punkte im Text gar nicht geht.

Nun ist das neoliberale Regime gestützt worden. Die Debatte über Identitätspolitik fand in seiner letzten Phase statt – wir konnten damals noch nicht wissen, das inzwischen die autokratisch-neofeudalistische Fraktion der globale Elite die Zügel in die Hand nimmt… Damit ist es wieder populär geworden, Minderheiten, welcher Ausprägung auch immer, aggressiv anzugreifen. Sicherlich gilt es nicht den kritisierten, neoliberalen Regenbogen-Kapitalismus zu verteidigen. Vermutlich stimmt es, das viele Anarchist*innen auf dessen Zug aufgesprungen sind und nicht kritischer hingeschaut haben, mit welchen Zwecken seitens der Herrschenden, dort Identitäten konstruiert wurden. Doch ist dies nie ein einseitiger Prozess „von oben“. Identitäten werden eben auch aktiv von sich emanzipierenden Gruppen gebildet – und dies wird auch weiterhin so sein. Das neoliberale Regime hat dem Neofaschismus den Weg geebnet – ja.

Aber es waren nicht Linke oder Anarchist*innen, die dafür verantwortlich sind. Sondern auch sie sind Kinder ihrer Zeit. Und nicht grundlos haben bspw. prominent Emma Goldman, Errico Malatesta und Peter Kropotkin eine Politik der Minderheiten vertreten. Darunter verstanden sie: Menschen in verschiedenen gesellschaftlichen Positionen, mit verschiedenen Hintergründen und Erfahrungen, finden sich in Gegen-Gemeinschaften zusammen. Sie verständigen sich, verbünden sich und bringen damit gemeinsame Kämpfe und eine gemeinsame Perspektive hervor, mit der sie eine neue Gesellschaft der Vielfalt erkämpfen und aufbauen. Es hat nichts mit Neoliberalismus zu tun, diese Herangehensweise weiter zu verfolgen – auch wenn neoliberale Politik gerade diese Emanzipationsbestrebungen aufgegriffen und herrschaftlich instrumentalisiert hat.

Zumindest ein grundlegendes Verständnis von Gesellschaft und ihren – wenn wir ehrlich sind – doch ziemlich klaren Zuweisungen von Positionierungen sollte man haben, bevor man pauschal „Identitätspolitik“ brandmarkt. Von dieser bilden die Autor*innen ohnehin nur ein peinliches Zerrbild ab. In der deutschen Linken wurde 2016 eine Debatte geführt, in der Identitätspolitik der Klassenpolitik gegenüber gestellt wurde. Dahinter steht die vermeintlich einfache Antwort „die Linke“ hätte „die“ „einfachen Leute“ vergessen und würde eben nur noch Politik für Minderheiten machen. Zumeist sind jene, die dies behaupten selbst sozial aufgestiegen, akademisch gebildet und haben keine Lust, selbst Klassenpolitik mit den eigenen Händen zu betreiben.

Abgesehen davon, das solche Entwicklungen immer komplexer sind hat die Kategorie „Klasse“ – wenn sie politisiert wird – eine Identität im herkömmlichen politischen Sinne. Damit wird sie von einer (sozialstrukturell bestimmten) Klasse „an sich“ zu einer (politisch bewussten) Klasse „für sich“. Wer ernsthaft Klassenpolitik machen will, muss also immer auch Identitätspolitik betreiben und die Subjekte, welche ins Handeln gebracht werden sollen, erst formieren. Es handelt sich also um einen Schein-Widerspruch, der vor allem avantgardistischen Kleinst-Politiker*innen dient, um anderen vorzuwerfen, was sie alle falsch machen würden. Darunter sind dann gerne auch manche anarcho-syndikalistischen Möchtegern-Gewerkschaftsbosse…

Der Text „Gegen Anarcho-Liberalismus und den Fluch der Identitätspolitik“ stellt einen Abgrund der Theorie-Schwäche einiger anarchistischer Akteure dar. Ihn mehr als anderthalb Jahre nach seiner Übersetzung auf Panopticon noch einmal abzubilden, verdeutlicht den Bildungsbedarf in den eigenen Reihen. Denn im Text wird noch nicht einmal von einer fundierten Klassenpolitik ausgegangen. Vielmehr geht er von der Existenz irgendwelcher Leute aus, die vermeintlich alle gleich wären oder sein sollten. Das Subjektverständnis der Autor*innen ist damit noch nicht einmal sozialistisch. Sondern beruht eigentlich auf eigenbrötlerischen Einzelnen, die irgendwie diffus unterdrückt werden. Mit anderen Worten, ist das Subjektverständnis der Autor*innen im schlechtesten Sinne liberal – was für „anarchistisch“ halten… Sicherlich bringt „irrelevant Nabelschau“ nicht weiter. Etwas Selbstreflexion stünden den Verfasser*innen solcher Texte aber gut an – um ihre Theorie zu schärfen.

Unten folgt eine unsystematische Kommentierung einiger Passagen aus dem kritisierten Text.

* * * * *

„Ein gutes Beispiel ist die „Queer-Theorie“ und wie sie sich an die Herren der Gesellschaft verkauft hat.“

> Unheimlich moralisch aufgeladene Darstellung. Sicherlich haben einige Anhänger*innen der Queer Theorie sich mit dieser auch im Establishment angebiedert. Eher wurde sie aber noch vom Establisment aufgegriffen, zum daraus im neoliberalen Kapitalismus eine entsprechende – Identitäten betonende – Kultur zu erzeugen. Von einem einseitigen „Verkaufen“ kann deswegen keine Rede sein – vielmehr handelt es sich zum einen um eine Adaption (oder auch Rekuperation), andererseits um ambivalente Prozesse von Emanzipation. Mit anderen Worten: Im Zuge dessen gab es auch aus anarchistischer Sicht soziale Fortschritte. Es ist nun mal komplizierter.

„Wenn ihre Vision wirklich die der Befreiung aller wäre, dann wäre ihre Politik nicht eine Politik der Spaltung, die ständig eine Gruppe gegen eine andere ausspielt, ähnlich wie im Kapitalismus und Nationalismus. Dinge, die die einfache Unterscheidung zwischen Unterdrückten und Privilegierten verwässern, wie persönliche Lebenserfahrungen oder Traumata (die sich nicht einfach mit der Identität als Mitglied einer unterdrückten Gruppe zusammenfassen lassen), oder Dinge, über die zu sprechen den Menschen unangenehm ist, wie psychische Gesundheit oder Klasse, werden von Identitätspolitikern oft geflissentlich ignoriert.“

> Völlig unklar, was damit gemeint ist, auf wen sich die Autor*innen beziehen. Die vermeintlich „einfache Unerscheidung zwischen Unterdrückten und Privilegierten“ ist eben gar nicht so einfach. Diese Aussage widerspricht direkt der unten ausgeführten Argumentation, dass eben auch Unterdrückte reaktionäre Positionen vertreten können. Um „persönliche Lebenserfahrungen oder Traumata“ scheint es den Autor*innen besonders zu gehen. Das ist okay. Der Ort dafür sind Selbsthilfegruppen, nicht jedoch Texte, mit denen inhaltlich oder strategisch etwas über Anarchismus ausgesagt werden soll.

„Wir wollen niemanden im Gefängnissystem sehen, egal ob es sich um schwarze Transfrauen oder weiße Cis-Männer handelt (die übrigens die überwiegende Mehrheit der Gefangenen in Großbritannien ausmachen).“

> Dieses Argument ist unsinnig, denn es suggeriert, das weiße Cis-Männer wegen ihrer gesellschaftlichen Position im Gefängnis sitzen. Dies tun sie aufgrund ihrer Klassenposition, weil sie überwiegend prekären Schichten angehören. Aber nicht aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Geschlechts. Umgekehrt werden Schwarze Männern signifikant häufiger von der Polizei durchsucht, verletzt, inhaftiert, verurteilt getötet – und zwar, weil sie aus prekären Klassen kommen und weil sie rassistisch diskriminiert werden

> Wen meinen die Autoren mit „Mittelschicht“? – Dies umso wichtiger, weil sie damit einen wichtigen Punkt treffen. Nicht jede akademische Sprache und Debatte ist vom Geist der Mittelschicht geprägt und nicht alle, die dort tätig sind oder sich bewegen, gehören dieser an. Als „Mittelschicht“ gilt eben nicht der Durchschnitt der Bevölkerung, sondern bereits Klassen, die höheres Einkommen, Eigentum und Status haben, etwa aus den Berufsgruppen von Ärzten, Unternehmern, Juristen, höheren Beamten, Professor*innen usw..

„Die Identitätspolitik ist ein Instrument der Mittelklasse. Sie wird von wortgewandten, gut ausgebildeten Gruppenvertretern schamlos eingesetzt und missbraucht, um ihre eigene Macht durch Politik, Dogmen und Mobbing zu festigen und zu erhalten.“

> Was ist damit konkreter gemeint? Um welche Dogmen, um welches Mobbing soll es gehen? Wenn derartige Vorwürfe nicht begründet werden, bleiben sie als bloße Ressentiments, die Stimmungen abbilden, aber keine Argumente beinhalten.

„Ein Mangel an Arbeitsethik, eine gewisse Zerbrechlichkeit und die Beschäftigung mit Sicherheit und Sprache anstelle von materiellen Bedingungen und sinnvollen Veränderungen sind weitere Aspekte, die den Klassenhintergrund vieler Identitätspolitiker offenbaren.“

> Was um Himmels Willen meinen die Autor*innen mit einer mangelnden „Arbeitsethik“? – Das man Lohnarbeit zurecht als Zwangsverhältnis versteht? Geht es darum, das die vermeintlich rechtschaffende, harte, körperliche Arbeit schlechter entlohnt, schlechter vertreten und abgesichert ist? – Dann sollte dies thematisiert werden. Was meinen die Autor*innen mit einer „Beschäftigung mit Sicherheit“ bzw. warum wird sie „materiellen Bedingungen“ gegenüber gestellt? – Materielle Bedingungen sind doch eine wesentliche Voraussetzung für Sicherheit und ihre gesellschaftliche Aneignung, funktionierende öffentliche Infrastrukturen und eine gesicherte Versorgung grundlegende sozialistische Forderungen.

„Es besteht eine falsche Gleichsetzung zwischen der Mitgliedschaft bei den zweifellos Unterdrückten und der Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse. Im Gegenteil, viele der fraglos Unterdrückten vertreten eher liberale Werte, die in der kapitalistischen Ideologie verwurzelt sind, als dass sie wirklich befreiend wären.“

> Völlig unklar, wer das behauptet. Intersektionalitätstheorien gehen davon aus, das es verschiedene Achsen der Unterdrückung gibt. Dieser Theorieansatz ist eng mit identitätspolitischen Positionen verbunden. Klasse, race und Geschlecht sind die wesentlichsten. Dies beinhaltet ausgesprochen, das keine Gleichsetzung zwischen verschiedenen Kategorien von Unterdrückung und Klassenzugehörigkeit geschieht.

> Was den zweiten Satz angeht: Wenn Unterdrückte liberale Werte vertreten sollten und daraus etwa eine Strategie der Inklusion ableiten – so ist das dennoch ihre Angelegenheit und keine Frage der Bewertung von selbsterklärten Anarchist*innen, die darüber moralisch urteilen. Diskriminierte und unterdrückte Gruppen befinden sich aufgrund ihrer Ausgrenzung und Stigmatisierung immer im Zwiespalt, sich in die hegemoniale Ordnung zu integrieren, Nischen in ihr zu finden, sich von ihr zu distanzieren und autonom zu werden oder aktiv gegen sie zu rebellieren. Auch wenn Anarchist*innen de letzteren beiden Strategien aus guten Gründen bevorzugen, kann erstens eine sinnvolle Strategie nicht frei heraus gewählt werden, sondern ist von historischen gesellschaftlichen Bedingungen abhängig. Zweitens ist es trotzdem den sich emanzipierenden Gruppen zu überlassen, welche Strategien sie verfolgen – statt ihnen angepisst vorschreiben zu wollen, was sie eigentlich tun. Und: Ein grundlegender Respekt vor den Errungenschaften, die mit liberalen Ansätzen einhergehen, wäre angemessen. Stattdessen wird im Beitrag eine dogmatische und sektiererische Sicht auf die Dinge deutlich.

„Eine anarchistische Analyse erkennt an, dass jemand zwar einer unterdrückten Gruppe angehören mag, seine Politik oder die Forderungen, die im Namen der fraglos Unterdrückten erhoben werden, aber dennoch rein liberal, bourgeois und prokapitalistisch sein können.“

> Das ist sicherlich richtig und auch zu kritisieren. Aber warum stricken die Autor*innen daraus einen moralischen Vorwurf, anstatt die Komplexität von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen und darin ganz verschiedene Akteuren und Fraktionen anzuerkennen?

„Identitätspolitik nutzt oft Angst, Unsicherheiten und Schuldgefühle aus. Es ist wichtig, dass wir dies an zwei Fronten erkennen. Erstens wird sie eingesetzt, um Menschen zu entmündigen, anstatt sie zu stärken, wie behauptet wird. Sie verstärkt die Vorstellung, dass Menschen eher schwache Opfer als Akteure des Wandels sind und daher Anführer akzeptieren müssen.“

> Es fehlt jegliche Begründung für die angeführten Behauptungen und ist unklar, auf welche Erfahrungen sich die Autor*innen beziehen. Man könnte auch genau das Gegenteil sagen und feststellen, dass Identitätspolitik Gruppen von Menschen erst zusammengebracht und ermächtigt hat.

„Eine anarchistische Analyse bedeutet, dass wir anerkennen sollten, dass auch Angehörige unterdrückter Gruppen elitäre und repressive Positionen innehaben können, und dass sie gleichermaßen herausgefordert werden sollten, anstatt sie einfach feige durchgehen zu lassen.“

> Ja, Angehörige unterdrückter Gruppen können elitäre und repressive Positionen vertreten. Das kennen wir von proletarischen Faschos, ebenso wie von prokapitalistischen Großstadt-Queers oder rassistisch unterdrückten Türk*innen, die Graue Wölfe sind. Doch erstens: An welcher Stelle erkennt eine anarchistische Position das nicht an? Zweitens: Diese Gruppen bleiben trotzdem auch (zu verschiedenen Graden, teilweise) unterdrückt. Deswegen haben sie selbst Bedarf an Emanzipation. Die eigentliche Frage ist also: Wieso und wie wird dieser Emanzipationsbedarf reaktionär umgelenkt?

„Traurigerweise wird der Anarchismus ausgehöhlt in dem Bemühen, Tugenden zu zeigen und „gute Verbündete“ zu sein. Verbündetsein wird allzu oft als blinde Akzeptanz der Politik derjenigen praktiziert, die unbestreitbar unterdrückt sind oder dies behaupten, ganz gleich wie beschissen ihre Politik oder ihr persönliches Verhalten ist. Es ist eine willige Unterwerfung unter die Politik der anderen, die am wenigsten anarchistische Position, die man einnehmen kann, und pure Rückgratlosigkeit.“

> Die Autor*innen sehen es offensichtlich als Schwäche an, zurück zu treten und unterdrückte Gruppen ihre eigene Agenda verfolgen zu lassen, sie darin zu unterstützen, ohne zwangsläufig alles zu verstehen und gut zu heißen. Es wäre sicherlich gut, wenn Anarchist*innen sich ihrer eigenen Ziele, Strategien und Positionen bewusster wären. Aber sie deswegen zu kritisieren, weil sie tugendhaft sind, erscheint doch etwas albern.

„Es ist also eine Ironie, dass wir es Gruppen mit wenig oder gar keiner radikalen Politik erlaubt haben, in unsere Räume einzudringen und Debatten zu unterbinden, und zu behaupten, dass alles, was nicht mit ihrem Standpunkt übereinstimmt, faschistisch sein muss.“

> Wiederum ist es unklar, auf was sich die Autor*innen hier beziehen. Die Aussage schürt nur emotionale Affekte, ermöglicht aber keine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Behaupteten. Vor allem aber beruht sie auf einer Konstruktion. Mit „unseren“ Räumen, können die Autor*innen eigentlich nur weiße, heteronormative, Szene-exklusive Räume meinen, die sich schon lange selbst abgeschottet haben. Dagegen befindet sich die Arbeiter*innen-Klassen, auf die sich ja bezogen wird, häufig allzu oft gerade außerhalb dieser und ist viel diverser, als es irgendwelchen Anarcho-Dogmatikern lieb ist, weil es sie verunsichert.

„Es erstaunt uns auch, dass offensichtliche Parallelen zu rechter Politik nicht gesehen werden, nicht zuletzt in der Art und Weise, wie Feministinnen als „Feminazis“ abgetan werden, was sich in der aktuellen Verwendung des Wortes „faschistisch“ gegen radikale Feministinnen durch Trans-Rechts-Aktivistinnen widerspiegelt, sowie in Parolen, die zum Töten von „Terfs“ aufrufen, die regelmäßig in anarchistischen Räumen sowohl online als auch in der realen Welt auftauchen. Es ist schockierend, dass die Gewalt dieser Frauenfeindlichkeit gefeiert wird, anstatt sie zu verurteilen.“

> Diese Debatte ist zum Glück inzwischen weiter fortgeschritten und tatsächlich wesentlich komplexer, als hier dargestellt. Sicherlich gab es mal eine Trans-Person, die etwas übertrieben hat mit ihren Rundumschlägen. Dass es unter Feministinnen zahlreiche Terfs gibt, sollte dennoch weiterhin erschrecken. Denn im Grunde genommen wird hier das Privileg (meist weiße) Cis-Frau zu sein, gehen andere Geschlechter ausgespielt. – Ein Vorwurf, der nun aber den sich emanzipierenden Gruppen zugeschoben wird.

„Früher haben wir Politiker ermordet, und unzählige Gefährten und Gefährtinnen haben ihr Leben für den Kampf gegen die Macht gegeben.“

> Na herzlichen Glückwunsch! Dann lasst uns endlich zu den guten alten Zeiten zurückkehren, wo rechtschaffende, weiße Anarcho-Macker noch anständig Politiker ermordete haben, um dann als Märtyrer glorifiziert zu werden! – Was für eine unsinnige Konstruktion einer romantisierten vergangenen sozialen Bewegung, die es in dieser Form nie gab…

„Es verstößt gegen die grundlegendsten Prinzipien des Anarchismus, die Führung durch andere zu akzeptieren, denn wir glauben, dass alle gleich sind.“

> Gleichheit hat drei Dimensionen: ökonomisch, politisch und ethisch. Wenn alle in ethischer Hinsicht die gleiche Würde haben, so sind sie politisch und ökonomisch gleichzustellen. Das kann nur durch grundlegende Gesellschaftsveränderung gelingen. Diese kann aber nur geschehen, wenn die unterschiedlichen Gruppen in ihr sich durch eine Verständigung ihrer Differenzen zusammenschließen und eine gemeinsame Vision entwickeln. Selbstverständlich sind die Identitäten dieser Gruppen und Einzelnen ebenfalls durch die Herrschaftsordnung konstruiert. Aber nicht nur, sondern geschieht diese Konstruktion in einem wechselseitigen Prozess und auch aktiv durch die betreffenden Gruppen und soziale Bewegungen, an denen sie sich beteiligen.

„Sicher, „Anarchist“ kann auch als Identität beansprucht werden, und Anarchisten neigen zu (oft zu Recht kritisiertem) Cliquenverhalten. Aber damit enden die Ähnlichkeiten.“

> Dafür beharren die Autor*innen aber sehr stark darauf, festzulegen, was Anarchismus eigentlich ist…

„Im Gegensatz zu Identitätspolitikern oder der SWP versuchen die meisten Anarchistinnen und Anarchisten nicht, Anhänger zu rekrutieren, sondern Ideen zu verbreiten, die Gemeinschaften dabei unterstützen, für sich selbst zu kämpfen, und zwar auf eine Art und Weise, die nicht mehr rückholbar ist. Unsere Agenda ist radikal anders und selten, da es bei unserer zentralen Politik nicht darum geht, unsere eigene persönliche Macht und unseren Status zu fördern.“

> Diese Aussage steht im klaren Widerspruch zu der oben erwähnten, mit der „gute Verbündete“ abgewertet werden, aufgrund der Verzweiflung über die eigene Strategielosigkeit.

„Man braucht das Wort Anarchie nicht zu kennen, um es zu spüren.“

> Ja, im ganzen Text wurde deutlich, dass er auf irgendwelchen gefühlten Wahrheiten beruht, nicht aber auf nachvollziehbaren Argumenten. Gewinnbringend wäre es, wenn die Autor*innen weniger hinspüren würden, welche Wahrheiten sie im Wort „Anarchie“ „spüren“, sondern ausführen würden, was sie damit meinen.

„Homosexuell zu sein oder eine braune Hautfarbe zu haben, führt zu ähnlichen Erfahrungen wie diejenigen, die diese Merkmale teilen, und bedeutet natürlich, dass man wahrscheinlich soziale Bindungen, Empathie oder ein Gefühl der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe hat. Das gelebte Leben ist jedoch viel komplexer, und du hast vielleicht genauso viel oder mehr mit einer zufälligen weißen queeren Frau gemeinsam als mit einem braunen Cis-Mann.“

> Diese Aussage zeugt von klarer Realitätsverweigerung. „Vielleicht“ schreiben die Autor*innen hätten Menschen die auf bestimmte Weise positioniert sind, „zufällig“ mehr mit Menschen gemeinsam, die ganz anders positioniert sind. Vielleicht ist der Himmel auch grün. Oder orange. Vielleicht ist es purer Zufall, das als norm-schöne, jüngere Frauen gelesene Menschen so regelmäßig sexistisch belästigt werden, das dies als normal gilt. Oder das Trans-Person aufgrund ihrer bloßen Existenz, Mordphantasien ausgesetzt werden. – Die Autor*innen verkennen vollkommen, wie klar die Erfahrungen von Menschen mit denen ihn zugewiesenen gesellschaftlichen Positionierungen verbunden sind.

„Der Anarchismus versucht, alle Stimmen zu erheben, nicht nur die von Minderheitengruppen. Die Vorstellung, die Unterdrückung betreffe nur Minderheiten und nicht die Massen, ist das Produkt einer bourgeoisen Politik, die nie ein Interesse an revolutionären Veränderungen hatte.“

> Leider ist auch diese Aussage ist ziemlicher Bullshit. Mit ihr wird davon ausgegangen, dass „Minderheiten“ eine mehr oder weniger zu vernachlässigende Anzahl von Menschen in bestimmten Gruppen werden. „Minderheiten“ im politischen Sinne bezeichnet jedoch Gruppen die von der hegemonial gesetzten gesellschaftlichen Norm abweichen und strukturell ausgegrenzt, diskriminiert, unterdrückt und verstärkt ausgebeutet werden. Global gesehen sind z.B. afrikanische Menschen in der Minderheit – obwohl sie doppelt so viele sind, wie Menschen aus Europa (USA ausgenommen). Frauen sind in der Minderheit in einer weiterhin patriarchalen Gesellschaftsordnung – auch wenn sich das Patriarchat modernisiert hat und mehr Spielräume zulässt. In der BRD haben 21,2 Millionen Menschen eine Migrationssgeschichte und 14,1 Millionen gelten als Ausländer – das sind also je nach Kriterium zwischen 27,7 und 30,4%. Diese vielen Menschen von einem Viertel oder Drittel der Gesamtbevölkerung sind dennoch in der Minderheit. Man könnte also sagen: Würden sich verschiedene unterdrückte, diskriminierte und ausgebeutete Minderheiten zusammenschließen, wären sie durchaus eine Masse. Das würde aber voraussetzen, dass sie ihre jeweiligen gesellschaftlichen Positionen verstehen und gegenseitig anerkennen, anstatt irgendwelche Phrasen gegen „Unterdrückung“ allgemein zu dreschen.

„Die Identitätspolitik ist der Nährboden für die extreme Rechte“

> Unter dieser Überschrift wird den sich emanzipierenden Gruppen zugeschoben, selbst dafür verantwortlich zu sein, dass extreme Rechte ihre Emanzipationsbestrebungen aktiv reaktionär umwenden, um sie zum Schweigen zu bringen.