Autonomie als wesentliches Organisationsprinzip

Quelle: https://www.contraste.org/autonomie-als-wesentliches-organisationsprinzip/
Mit warmen Gefühlen denke ich daran, wie ich Menschen zum ersten Mal enthusiastisch und ganz spontan rufen hörte: »Amore, Anarchia, Autonomia«. Dass Anarchie mit Liebe und Autonomie verbunden ist, erschien mir naheliegend. Frage ich heute Menschen um mich herum, was sie unter »Autonomie« verstehen, bleiben die Assoziationen darüber äußerst vage und durcheinander. Das ist kein Zufall, denn landläufig ist der Autonomie-Begriff mit verschiedenen Vorstellungen aufgeladen.
So finden wir ihn erstens in der idealistischen Philosophie, prominent bei Immanuel Kant vertreten. Dieser meinte damit die vernunftgeleitete Einsicht in sittliches Handeln. Auch Anarchist*innen wie Michael Bakunin bezogen sich auf diese humanistische Tradition, welche ihrerseits beispielsweise von Max Stirner hinterfragt wurde.
Zweitens wird von Autonomie wird auch in der Pädagogik und in der Psychologie gesprochen. Idealerweise wird von einem selbständig denkenden, handelnden, etwas Bestimmtes anstrebenden und auf eine eigene Weise seienden Menschen ausgegangen. Dieser muss jedoch erst gebildet werden, indem er Anregungen erhält, sich Verhalten von Vorbildern abschaut, sich in seiner sozialen Rolle entwickelt, seine eigene Lebensgeschichte reflektiert und sich neu ausrichtet.
Dann gibt es noch drittens ein dezidiert technisches Verständnis von Autonomie, das sich selbständig steuernde Autos, selbständig schießende Waffensysteme oder mit sich selbst kommunizierende KI-Programme bezeichnet.
Weiterhin wird viertens der Autonomie-Begriff in einer politikwissenschaftlichen Ausprägung verwendet. Damit wird der mehr oder weniger autonome Status von territorialen Regionen bezeichnet, denen zu unterschiedlichen Graden Hoheitsrechte zuerkannt werden oder nicht, etwa in Bezug auf das Bildungssystem, Polizei oder Besteuerung. Bekannt sind dabei das Baskenland und Katalonien, die Autonomie der Zapatistas in Chiapas und der Kurd*innen in Rojava, aber auch der Status von Hongkong oder der chinesischen Provinz Xinjiang. Auch in Ländern mit vielen ethnischen und sprachlichen Gruppen wie Myanmar, Indien oder Russland gibt es Autonomiebestrebungen. In den Konzepten der temporären oder permanenten autonomen Zonen, sogenannten Zones à défendres, Wald- oder Hausbesetzungen und rebellischen Stadtvierteln (Exarchia in Athen, Christiania in Kopenhagen sind wohl die bekanntesten), zeigt sich dieses Verständnis auch in der anarchistischen Praxis.
Bedeutungsgehalt ist vielfältig
Schließlich wird sich fünftens in sozialen Bewegungen auf Autonomie bezogen. Mit dem Konzept »Autonomie der Migration« wird auf das Recht verwiesen, Grenzen zu überschreiten. Wenn Menschen im globalen Kapitalismus schon Ausbeutungspositionen zugewiesen werden, dann sollen sie sich auch dorthin bewegen können, wohin sie möchten. Autonomie ist hierbei ein Gegenbegriff zu »Integration«, bei der sich von außen kommende oder als »anders« wahrgenommene Gruppen einer bestehenden Ordnung anpassen müssen, um von ihr (in meist untergeordnetem Status) akzeptiert zu werden. Wenn Regierungen nicht Differenzen verschiedener Gruppen gegeneinander ausspielen würden, bestünde allerdings keine Notwendigkeit, sich in eine Mehrheitskultur zu assimilieren. Denn aus der Verschiedenheit von Gruppen folgt keineswegs, dass diese miteinander in Konflikt geraten und keine friedlichen, solidarischen und produktiven Beziehungen zueinander eingehen könnten.
Der Bedeutungsgehalt von »Autonomie« ist offensichtlich ziemlich weit. Meiner Ansicht nach lohnt es sich, sie als Schlüsselbegriff der anarchistischen Theorie zu begreifen und wieder anzueignen. Mit einigen Aspekten des oben beschriebenen Menschenbildes, der politikwissenschaftlichen Verwendung und jener in sozialen Bewegungen bestehen Schnittpunkte. Darüber hinaus macht es aber vor allem Sinn, Autonomie als wesentliches Organisationsprinzip im Anarchismus zu verstehen. Dabei kann dieses nur in Verbindung mit Dezentralität, Freiwilligkeit, Föderalismus und Horizontalität seine Wirksamkeit entfalten.
Oft wird gesagt, der kleinste gemeinsame Nenner der unterschiedlichen anarchistischen Strömungen bestünde darin, dass diese den Staat ablehnen. Diese Vorstellung ist falsch, weil sie auf einer formalistischen Verkürzung dessen beruht, wofür Anarchismus steht. Stattdessen ist das »Streben nach Autonomie« die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen mutualistischen, individualistischen, kommunistischen, insurrektionalistischen, syndikalistischen und kommunitären Varianten des pluralistischen Anarchismus. Anarchist*innen wollen, dass sich Menschen, entgegen und jenseits der Herrschaftsverhältnisse, -strukturen und -logiken eigene Regeln geben. Denn dafür steht Autonomie seiner Wortherkunft aus dem Altgriechischen nach auch (αὐτός bedeutet »selbst« und νόμος bedeutet »Gesetz«).
Kollektiv eigene Regeln finden
Anarchist*innen halten es also für möglich, dass Menschen sich selbst Regeln geben und dadurch keine staatlich eingeführten und durchgesetzten Gesetze brauchen, um zusammen zu leben. Diese Regeln müssen kollektiv gefunden werden und sind nur so wirksam, wie sie akzeptiert und mitgetragen werden. Sie können immer wieder neu verhandelt und angepasst werden und es gilt, sie nicht »aus Prinzip«, sondern zur Regulierung bestimmter Situationen anzuwenden.
Genau dies scheint in anarchistischen Organisationen angestrebt zu werden: Genossenschaften und Syndikate berufen basisdemokratische Mitgliederversammlungen ein und Individualist*innen betonen die Bedeutung der Freiwilligkeit in jeder Kooperation. Bei Platzbesetzungen werden partizipatorische Mechanismen und kollektive Handlungsweisen eingeübt, in Kommunen, Themen- und Projekt-bezogenen Gruppen nach Konsensentscheidungen gesucht. Und häufig kann Autonomie nur realisiert werden, wenn staatliche Gesetze übertreten werden.
Der Autonomiebegriff bietet in seinem weiten Bedeutungsgehalt noch einen weiteren Vorteil: Als Organisationsprinzip ist er zugleich mit dem Anliegen der Selbstbestimmung und dem theoretischen Konzept der Selbstorganisation verknüpft. Zu diesen schreibe ich in den nächsten Teilen dieser Reihe. Die Verknüpfung zu anderen Organisationsprinzipien, ethischen Werten und bestimmten theoretischen Konzepten ist wichtig, um Autonomie nicht einfach aus ihrem Kontext herauszulösen und instrumentell zu verzwecken. Denn aus Sicht des bürgerlichen Bewusstseins bestehen kaum Unterschiede zwischen anarchistischen Waldbesetzungen, den Grundstücken rechtsradikaler Reichsbürger*innen, den Höfen völkischer Siedler*innen oder sogar den vermeintlich »freien Städten«, welche »anarcho-kapitalistische« Milliardär*innen bauen wollen. Denn diese behaupten ebenfalls, dass sie den staatlichen Gesetzen nicht mehr gehorchen, sich eigene Regeln geben und »selbstbestimmt« leben wollen.
Schaut man genauer hin, wird aber klar: Die sogenannten Anarcho-Kapitalisten wollen sich vor allem gesellschaftlichen Regeln entziehen (keine Steuern zahlen, Menschen unbegrenzt ausbeuten und für ihre Zwecke gebrauchen). Rassistische völkische Siedler stehen für eine patriarchale und »ethisch reine« Feudalgesellschaft. Und verschwörungsmythologisch verblendete Reichsbürger glauben, ihre Entschlossenheit genüge, um eigene Nationalstaaten zu gründen. – Dem anarchistischen Verständnis nach können sie mit diesen Vorstellungen keine wirkliche Autonomie realisieren, denn sie beruhen jeweils auf klar hierarchischen Konzeptionen. Autonomie beinhaltet dagegen, sich gegen die Herrschaftsverhältnisse Staat, Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus zu richten und von ihnen weg zu streben. Dabei werden neue Strukturen aufgebaut, die egalitär, solidarisch und freiheitlich funktionieren.
Eine Gesellschaftsform, in welcher dies umfangreich realisiert wäre, ist damit selbst »autonom«. Das heißt, sie ist politisch selbstorganisiert und wirtschaftlich selbstverwaltet. Sie ermöglicht in ethischer Hinsicht Selbstbestimmung für alle. Und sie ist vielfältig, ohne Verschiedenheit einer Leitkultur eingliedern oder sie einer allgemein gültigen Gesetzgebung unterordnen zu müssen. Mit der Föderation dezentraler autonomer Kommunen wäre Staatlichkeit als politisches Herrschaftsverhältnis überwunden.
Umso mehr gilt es, diesen Begriff mit eigenen Inhalten zu füllen und mit eigenen Erfahrungen zu verknüpfen, um ihn anwendungsbezogen gebrauchen zu können.
Definition
Autonomie heißt, dass jede Gruppe, die sich zusammenfindet, selbst entscheidet, welchen Tätigkeiten sie nachgeht, welche Positionen sie vertritt und wie genau sie sich strukturiert. Sie entwickelt selbst Organisationskonzepte und übernimmt selbst gewählte Aufgaben, nach ihren Fähigkeiten, Möglichkeiten und Anliegen. Das Streben nach Autonomie ist ein Exodus aus den Herrschaftsverhältnissen bei gleichzeitiger Umsetzung von Alternativen. Es gilt, Autonomie im Hier und Jetzt in Widersprüchen zu verwirklichen, wenn sie sich gesamtgesellschaftlich ausdehnen soll. Ohne staatlich auferlegte und durchgesetzte Gesetze leben zu können, setzt voraus, sich selbst Regeln zu geben und diese anzuwenden. Autonomie ist mit Selbstorganisation und Selbstbestimmung verknüpft.