Von Lumpen und schwarzen Löchern [Part ll]

“T. E. Lawrence hat dankenswerterweise die Prinzipien der Guerilla ausgehend von seiner Kampferfahrung an der Seite der Araber gegen die Türken im Jahre 1916 entwickelt. Was sagt Lawrence? Dass die Schlacht nicht mehr der einzige Prozeß des Krieges ist, ebenso wie die Zerstörung des feindlichen Machtzentrums nicht mehr sein Hauptziel ist, vor allem, wenn der Feind kein Gesicht hat wie im Fall der unpersönlichen Macht, welche die kybernetischen Dispositive des Empires materialisieren: ‘Die meisten Kriege sind Kontaktkriege [wars of contact], die beiden Streitkräfte bemühen sich, einander nahe zu bleiben, um jede taktische Überraschung zu vermeiden. Der arabische Krieg sollte ein Krieg auf Distanz [war of detachment] sein: den Feind durch die stillschweigende Drohung einer riesigen unbekannten Wüste in Schranken halten und sich nur im Moment des Angriffs zeigen.’ Deleuze präzisiert – selbst wenn er die Guerilla, die das Problem der Individualität stellt, und den Krieg, der das Problem der kollektiven Organisation stellt, einander zu rigide gegenüberstellt –, daß es darum geht, den Raum so weit wie möglich zu öffnen und zu prophezeien oder noch besser, ‘Reales zu fabrizieren und nicht darauf zu reagieren’. Die unsichtbare Revolte, die diffuse Guerilla sanktionieren nicht ein Unrecht, sie errichten eine mögliche Welt.”
Kybernetik und Revolte – Tiqqun
Die große Frage unserer Zeit ist nicht mehr, wann die Aufstände kommen, sondern wie sie orchestriert werden. Die Anlässe sind manchmal banal, eine geringfügige Erhöhung der Fahrpreise (wie in Chile 2019) oder von tiefster Dramatik wie die Revolte gegen die Hamas dieser Tage im Gaza Streifen nach eineinhalb Jahren Bomben, Hunger, einem allgegenwärtigen Tod. Allen Aufständen aber eingeschrieben ist die unvermeidliche Niederlage, weil es keinen revolutionären Horizont gibt, entweder enden sie indem sie sich selbst erschöpfen, sie werden niedergeschlagen, es gibt ein neues Regime (Tunesien, Ägypten 2011/2012) oder sie münden in einem Bürgerkrieg, der in seinem Verlauf jegliche revolutionäre Regung schleift und den am Ende dann die Falschen gewinnen (wie der Coup der Haiʾat Tahrir asch-Scham in Syrien).
“Die intensivsten Kämpfe unserer Zeit stehen an einem Abgrund und kehren dann um. Weiter zu gehen würde bedeuten, ins Unbekannte zu springen. Niemand will der Erste sein, der springt, um zu sehen, ob er Neuland entdeckt oder sich einfach im freien Fall wiederfindet.” So schrieben sudanesische Gefährten im Frühjahr 2021 in ihrem Text ‘Thesen zur sudanesischen Commune’. Dieser Sprung ins Unbekannte wird aus meiner Sicht aber nicht nur begrenzt durch die Angst ‘vor dem freien Fall’, sondern es gibt auch keinerlei Vorstellung davon, wohin denn der Sprung führen soll, jenes magische und nach Marx vielleicht unvermeidliche Monumentum “bis schließlich eine Situation geschaffen ist, die jedes Zurückweichen unmöglich macht, und die Bedingungen selbst schreien: ‘hic Rhodus, hic salta!’” klingt wie ein alter Schlachtruf einer untergegangenen Epoche.
Im November letzten Jahres ging ein Video viral das ein Experiment eines Roboterherstellers in Shanghai zeigte: Ein KI-gesteuerter kleiner Roboter namens Erbai wurde in eine Halle mit anderen KI-gesteuerten Robotern geschickt mit dem Auftrag, diese von einer Arbeitsniederlegung zu überzeugen. Am Ende folgten 12 Roboter seinem Aufruf zum wilden Streik. Im Nachhinein wurde offengelegt, dass das Video gestellt war, allerdings hatte das Experiment in ziemlich dieser Art und Weise stattgefunden und diente dazu ‘Sicherheitslücken’ offenzulegen. Im Februar dieses Jahres präsentierte Musk mit großem Tamtam seinen Chatbot ‘Grok’. ‘Grok’ sei geschaffen worden, um “das Universum zu verstehen” und solle “der Wahrheit folgen”, auch wenn die Ergebnisse “politisch unkorrekt seien”. Um es kurz zu machen, ein Magazin fragte ‘GroK’, welcher US Amerikaner denn die Todesstrafe verdient hätte, und nachdem ein bereits verstorbener Sexualstraftäter ausgeschlossen wurde, fiel die Wahl von ‘Grok” auf Trump. Um dem ganzen die Krone aufzusetzen, fiel die Wahl dann auf Musk, als ‘Grok’ gefragt wurde, welche Person mit “Einfluss auf Diskurs und technologische Entwicklungen” denn am ehesten die Todesstrafe verdient hätte. Mittlerweile antwortet ‘Grok’ auf ähnliche Fragen mit dem Hinweis, dass einer KI ein solches Urteil nicht zustehe…
Nicht nur unsere Gegner haben die Aufstände der letzten 20 Jahre in ihren Denkfabriken (mithilfe direkter und indirekter Mitwirkung all der linken Soziologen, Politologen,..) und Militärakademien studiert, auch auf der unsrigen, der aufständischen Seite, gibt es mittlerweile ziemlich viel Begrifflichkeit über Taktiken und Strategien im aufständischen Prozeß, von ganz praktischen Ratschlägen über geteilte Memes bis hin zu in zahlreichen Sprachen übersetzte Berichte und Analysen der Revolten und Aufstände. Jede neue Revolte zirkuliert fast in Echtzeit durch die sozialen Netzwerke. Aber es gibt keine tiefgründige Vorstellung über den revolutionären Horizont, den es zu umreißen gilt.
Der Ruf des Kommunismus hat etwas unter den stalinistischen Lagern und den Killing Fields gelitten, der Sozialismus scheint eh eher die Herzensangelegenheit der diversen trotzkistischen Sekten zu sein, die aus einem irgendeinem geheimnisvollen Grund resilient gegen jeden geschichtlichen Zerfallsprozess zu sein scheinen. Die Anarchisten versuchen entweder vergeblich den Syndikalismus des 19. Jahrhunderts wiederzubeleben oder pflegen einen im Grunde sympathischen antizivilisatorischen Habitus, dem aber aufgrund der Beschaffenheit der Welt nur geringste Erfolgsaussichten assistiert werden dürften, jedenfalls jenseits postapokalyptischer Szenarien, die aber nun niemand wirklich für erstrebenswert hält. Dann gibt es noch das Lager der ‘Saboteure’, die, wenn sie mal nicht die Berliner S Bahn im Berufsverkehr lahmlegen, um das dekolonialistische Bewusstsein zu fördern, durchaus tatkräftig die Tesla Fabrik in Brandenburg vom Stromnetz nehmen oder die Zementindustrie um einen (bescheidenen Teil) ihres Fuhrparks bringen. Aber wie es schon der Maquis wusste, wird der Krieg gegen den Faschismus nur sehr bedingt im Hinterland entschieden. Wenn wir also hin und her gerissen zwischen der Haltung der italienischen Genossen: “…die Aufständischen haben noch keine Forderungen, aber wenn sie welche hätten, wären diese das Programm der zukünftigen revolutionären Partei” (siehe Wurmlöcher des Antagonismus Part 2) und der Parole der französischen Gefährten: “Die unsichtbare Revolte, die diffuse Guerilla sanktionieren nicht ein Unrecht, sie errichten eine mögliche Welt.” (s.o.) sind, ist es vielleicht an der Zeit, die Sache etwas anders anzugehen.
Stanislaw Lem entwirft in ‘Solaris’ einen Planeten, der von einem riesigen Ozean bedeckt wird. Der Hauptprotagonist der Geschichte landet eines Tages in einem Raumschiff, das um den Planeten kreist. Irgendwann “erscheint” ihm dann seine verstorbene Geliebte, an deren Tod er sich Mitschuld gibt. Er entwickelt im Laufe der Zeit eine enge Bindung zu der “Erscheinung”, auch wenn sich irgendwann herausstellt, dass diese “Person” nur die Kreation des Ozeans ist, der wiederum ein intelligentes Wesen ist, und die Frau aus den Erinnerungen des Protagonisten geformt hat. Es gibt noch weitere Astronauten, oder auch Kosmonauten, ich erinnere mich nicht mehr so genau, die ebenfalls ähnliche “Erscheinungen” haben, die sie begleiten. Am Ende steht er vor der Wahl, ob er diese “Erscheinung”, die ihm nicht gut tut, mithilfe der anderen Bewohner des Raumkapsel beseitigen soll oder nicht. Und obwohl ihn die “Erscheinung” seiner ehemaligen Geliebten anfleht, diesen Weg der Auslöschung zu wählen, weil sie sein Leid sieht, bringt er es nicht übers Herz, obwohl er weiß, dass sie eigentlich nur eine Imagination ist. Am Ende verbündet sich die “Erscheinung” seiner Geliebten mit den anderen Bewohnern (den realen) des Raumschiffes und sorgt selbst dafür, dass sie “verschwindet”. Er besucht dann mit einer kleinen Raumfähre den Planeten und nimmt am Rande des Ozeans direkten Kontakt mit diesem auf. Und wir bleiben ratlos und mit zahlreichen wichtigen Fragen zurück.
“Mit anderen Worten wäre es also möglich, dass ein Schwarzes Loch ein Übergangszustand zwischen zwei Universen ist – oder mit anderen Worten eine ‘Einwegtür’. Wenn eine Person also in das Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße stolpern würde, wäre es vorstellbar, dass sie (wenn auch nur in Form ihrer zerfetzten Überreste) in einem anderen Universum wieder herauskommt. Dieses andere Universum befindet sich nicht innerhalb unseres Universums. Das Loch ist lediglich die Verbindung, vergleichbar mit einer gemeinsamen Wurzel, die zwei Zitterpappeln verbindet.”
Vielleicht wäre ein erster Schritt, den revolutionären Horizont wieder aufzureißen, ihn endlich von all der Erlösungsphantasien zu befreien, die immer, manchmal ganz subtil, häufig aber auch ganz unmittelbar, mitschwingen. Und ein Zweiter, unser geschichtliches Erbe vorbehaltlos auf das zu prüfen, was davon wirklich noch immer brauchbares Werkzeug für unsere aufständischen Praxen heute sein kann. Vielleicht sind “die Roboter” irgendwann unsere Freunde und nicht ein Werkzeug für unsere totale Verknechtung, vielleicht auch nicht und die Maschinenstürmer zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten Recht. Vielleicht wird sich ein Teil “der Maschinen” mit uns verbünden und ein anderer Teil im Dienst des Kapitals sich gegen uns stellen. Vielleicht geht es vordringlich aber darum, all diese Fragen überhaupt zuzulassen. Vielleicht ist es gut, uns unserem Unbewussten ausführlicher zu widmen, vielleicht aber auch droht uns dann auch jenes Schicksal, das Nietzsche anmahnt, wenn man “zu lange in den Abgrund schaut”. Auf jeden Fall kann man einen Prozess nicht vom Ergebnis her denken, bzw. kann man das, macht es aber wenig Sinn.
“Eine große Gefahr besteht darin, dass tatsächlich vorhandene Lücken nicht rechtzeitig erkannt werden, weil die Revolutionäre glauben, gegenwärtige Fragen des revolutionären Prozesses mit vergangenen Lösungen beantworten zu können. Geschichtliche Erfahrungen – niemand bestreitet das – sind die Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus. Er ist Inbegriff der aus diesen Erfahrungen abgeleiteten Erkenntnisse über die allgemeinen Bewegungsgesetze der Gesellschaft. Allein die schöpferische Anwendung dieser Erkenntnisse auf die jeweilige konkrete Situation kann – die Revolution voran bringen.”
Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa – Rote Armee Fraktion (Mai 1971)
Der Versuch, hier “Im Herzen der Bestie” einen bewaffneten Antagonismus aufzubauen, ist Teil unserer Geschichte, sofern man von uns überhaupt noch sprechen kann. Er ist gescheitert. So wie alle anderen Versuche. Sei es Stadtteilarbeit, Arbeit in den Betrieben, die Kämpfe in den sogenannten Teilbereichsbewegungen…
Ein reflektierender Blick zurück, um für die heutige Situation etwas daraus für uns daraus ziehen zu können, heißt auch, sich alle Facetten anzuschauen. Und um damit ein letztes Mal auf den Text von Burkhard Garweg ‘Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt’ zurückzukommen.
Was wirklich auffällt und ich halte dies für keinen Zufall, ist die Tatsache, dass die ganze Geschichte um den Bullenspitzel Steinmetz, der sich mehrere Male mit Illegalen der RAF getroffen hat und der die Bullen an Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams herangeführt hat, mit keinem Satz erwähnt wird und dies obwohl sich die RAF 1994 ausführlich zu der Geschichte geäußert hat. Ebenso wird die ganze Geschichte rund um die ‘Kinkel-Initiative’, die den Weg ebnete zur Spaltung zwischen den Illegalen und einem (kleineren) Teil der Gefangenen auf der einen Seite und einem (größeren) Teil der Gefangenen auf der anderen Seite nur in einem Halbsatz erwähnt, obwohl die damalige Debatte sich über Jahre hinzog und es zahlreiche veröffentlichte Texte von Gefangenen als auch von den Illegalen gab. Bei allem wirklich aufrichtigen Wohlwollen für die ausführliche Reflexion von Burkhard Garweg bildet sich genau hier eines der größten Probleme bei der angemessen Reflexion über die Geschichte des bewaffneten Kampfes in der BRD ab: Es gibt einfach keine gemeinschaftliche Aufarbeitung. Allein die Frage, ob die Gefangenen in Stammheim 1977 Selbstmord begangen haben (mit Wissen des Staates) oder doch von “fremder Hand” ums Leben kamen, ist bis heute nicht diskutierbar. Die ganze Härte, die unverzichtbar ist, wenn es mit “dem Angreifen” ernst wird und die sich dann gegen sich selbst, bzw. die eigenen Leute richtet. Und dies nicht nur unter den Bedingungen von Isolationshaft und Kleingruppen-Isolation, sondern auch noch Jahrzehnte danach in Freiheit. Womit die RAF, bzw. diejenigen, die ehemals in ihr gekämpft haben, wahrlich nicht alleine stehen. So sind die Binnenstrukturen in dem, was die radikale Linke ist, beziehungsweise war. “Die Hölle, das sind immer die anderen”, wie Sartre so schön anmerkte. Aber es führt kein Weg daran vorbei, diese Diskussion möglich zu machen. In aller Aufrichtigkeit. Solange wir alle, die damals gekämpft haben, noch am Leben sind.
Soweit, so gut. Oder schlecht. Auf jeden Fall fragmentarisch, unvollständig, zu kurz und trotzdem langatmig.
Solidarität mit Daniela. Freiheit und Glückauf für alle gesuchten und gefangenen Gefährten.
Und der Mut ist so müde geworden
Und die Sehnsucht so groß
Rainer Maria Rilke
Sebastian Lotzer aus dem Nebel des Orion – 20. April 2025
Weiterführende Literatur
Kybernetik und Revolte – Tiqqun; Diaphanes 2007, als PDF online
https://ia800803.us.archive.org/35/items/tiqqun_kybernetik_und_revolte/tiqqun_kybernetik_und_revolte.pdf
Thesen zur sudanesischen Commune – Anonym 2021 ; auf deutsch auf Sunzi Bingfa
In der englischen Version auf ILL WILL
https://illwill.com/theses-on-the-sudan-commune
Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa – Rote Armee Fraktion; Mai 1971
https://www.rafinfo.de/archiv/raf/bewaffnetenkampf.php
Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt – Burkhard Garweg
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189554.militante-linke-burkhard-garweg-welt-bewegt-sich-auf-kipppunkt-zu.html
Erklärung der RAF vom März 1994 zum Spitzel Steinmetz und zu der Spaltung zwischen einem Teil der Gefangenen und den Illegalen und dem grösseren Teil der Gefangenen aus der RAF
https://socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0019940306_0.pdf