Sorgenkind Zivilgesellschaft

In einer 32-seitigen kleinen Anfrage vom 24.02. an die abgewählte Bundesregierung – also unmittelbar nach dem Wahltag – wollten die Chefs der CDU/CSU dreierlei erreichen: Erstens ging es ihnen um pure Rache an jenen tausenden engagierten Menschen, die mittels ihrer jeweiligen Verbände Protest gegen den Schulterschluss mit den Faschisten organisiert hatten. Zweitens will die CDU/CSU der AfD die Hände reichen – mit dem Vorwand, ihr das Wasser abzugraben – und sie umarmen. Drittens ist die Beschneidung der Meinungsfreiheit durchaus im Sinne einer autoritär-konservativen Politik, für die Friedrich Merz und sein Machtzirkel eintreten.

Die Meinungsfreiheit wird deswegen beschnitten, weil sich aus der direkten oder indirekten Ko-Finanzierung von zivilgesellschaftlichen Vereinen, Verbänden und NGOs kein Verbot der politischen Meinungsäußerung ableitet. Sicherlich ist es politische und juristische Auslegungssache, was das sogenannte „Neutralitätsgebot“ für derartige Institutionen tatsächlich bedeutet.
Nach bisheriger Auffassung und Praxis folgt daraus jedoch nicht, dass man einen Schulterschluss mit Faschisten nicht demokratisch kritisieren dürfte. Und so geschah es dann auch, als hunderttausende Menschen Anfang Februar für die Demokratie empört im Kreis liefen. Über 2000 Wissenschaftler*innen haben daher einen Offenen Brief unterzeichnet, um gegen die Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zu protestieren.

Der relativ überraschende Rundumschlag deutet nicht nur an, wohin die autoritär-konservativen Kreise wollen – er zielt auch auf eine direkte Disziplinierung der sogenannten Zivilgesellschaft ab. Genannt werden unter anderem BUND, Campact, CORRECTIV gGmbH, Omas gegen Rechts Deutschland, Attac, Amadeu Antonio Stiftung, Peta, Animal Rights Watch, Foodwatch, Dezernat Zukunft, Deutschen Umwelthilfe, Greenpeace und Netzwerk Recherche. Insgesamt haben wir es hier also mit einer ganzen Anzahl bekannter Vereine zu tun, mit denen sich auch eine Menge Menschen identifizieren dürften.

Zivilgesellschaft, das ist kein ominöses Zauberwort, sondern eine Vielzahl an Institutionen, welche eine Pufferzone zwischen Bevölkerung und Staat bilden. Einerseits übermitteln sie staatliche Anliegen in die Bevölkerung, andererseits deren Vorstellungen und Forderungen zum Staat zurück. Wenn man Antonio Gramsci, der dieses „Bollwerk des Staates“ prominent thematisierte, aus anarchistischer Sicht ernst nimmt, findet man also nicht viel Verteidigenswertes an der Zivilgesellschaft. Zugespitzt ließe sich sogar die These aufstellen, dass das korporatistische Geflecht die Selbstorganisation der Gesellschaft gerade verhindern soll. Denn statt das Menschen Verantwortung für ihre Umgebung, ihr Gemeinwesen und sich selbst übernehmen, schieben sie diese auch mit dem Bezug auf die Zivilgesellschaft an Vereine ab, von denen schon irgendeiner zuständig sein muss, für Thema und Problem XY.

Auf ähnliche Weise wurde historisch der Sozialstaat installiert: Mit staatlicher sozialer Absicherung (Rente, Kranken- und Unfallversicherung, Arbeitslosengeld, Arbeitszeitbegrenzung) wurde erstens der sozialistischen Bewegungen das Wasser abgegraben, um zu verhindern, dass diese selbst an die Staatsmacht gelangt. Zweitens wurden die Arbeiter*innen so im Staat vertreten und integriert, was eine deutlich stabilere Herrschaftsordnung ermöglichte. Drittens konnten Produktivität und Ressourcenverteilung in der Arbeiter*innenklasse staatlich weit besser gesteuert werden. Der Unterschied zwischen Sozialstaat und Zivilgesellschaft besteht darin, dass letztere eine stärkere Unabhängigkeit vom Staat wahren muss, um die Bürger*innen diesem gegenüber überhaupt vertreten zu können.

Anarchistisch gesinnte Menschen, die sich etwas differenzierter mit dem Thema beschäftigen und das Anliegen verfolgen, die Gesellschaft zu verändern, wissen, dass eine plumpe Ablehnung der sogenannten „Zivilgesellschaft“ bedeutet, die Situation von Menschen in vielen ländlichen Gebieten zu ignorieren. Dort gibt es häufig wenige bis so gut wie keine demokratische Strukturen und gelebte Demokratie.
Dabei muss man nicht Fan von Demokratie sein, um feststellen zu können, dass es weit Problematischeres gibt. Die erwähnten zivilgesellschaftlichen Akteure, zeigen dort zumindest einige Wege der Beteiligung auf, klären Menschen über ihre Rechte auf, unterstützen Minderheitsgruppen usw.. Und in einigen Fällen stellen sie sich eben auch Rechtsextremen und anderen Menschenfeinden entgegen. – Wer darauf pauschal verzichten will, sollte andere Vorschläge machen, wie Menschen sich in ländlichen Gebieten erreichen lassen.

Linke Akteure offenbaren bei ihrer Verteidigung der Zivilgesellschaft und in ihrer Empörung über deren Disziplinierung, ihre Angewiesenheit auf diese und damit ihre Abhängigkeit von staatlicher Legitimation und Finanzierung. Es ist völlig nachvollziehbar, dass hierbei auch Interessen verteidigt werden – nur wäre es fair, diese zu benennen. Denn jene Demokratie, für welche ein Großteil der oben aufgezählten Vereine eintreten, scheint eben eine ganz andere zu sein, als jene Demokratie, die uns einen Bundeskanzler Merz beschert hat – und welche jener anstrebt.

Mit anderen Worten ist es lobens- und unterstützenswert, wenn zahlreiche Aktive in der Zivilgesellschaft Haltung beweisen, sich nicht reglementieren lassen, sondern sich einmischen wollen. Dass sie dafür von einem autoritärer werdenden Staat diszipliniert werden, ehrt viele zivilgesellschaftliche Vereine in gewisser Weise gerade. Interessanterweise glauben sie an Demokratie und wollen dies auch Leuten vermitteln. Langfristig werden sie sich vermutlich dennoch der strikten Auslegung des Neutralitätsgebots unterwerfen müssen oder ihren Status als inkorporierten Elemente verlieren. Der konservativ-autoritäre Staat versucht sich vom Sorgenkind Zivilgesellschaft zu befreien, das der sozialdemokratisch-vermittelnde Staat geschaffen hat, um politische Teilhabe zu ermöglichen, emanzipatorische Kräfte einzubinden und sie zu entradikalisieren.

Die Antwort darauf wäre konsequenterweise, dass die verstoßenen Teile der Zivilgesellschaft sich selbst organisieren und kampfeslustiger werden. Dies wird in Deutschland jedoch aus einem einfachen Grund nicht funktionieren: Die Ausweitung der Zivilgesellschaft und der erwähnte Korporatismus haben Abhängigkeiten und Gewohnheiten unter Menschen geschaffen, die nun glauben, dass immer irgendwer anderes verantwortlich sein müsse.
Stellvertretung verhindert echte Demokratie – und erfüllt also einen herrschaftlichen Zweck. Diesen kann man benennen, ganz ohne Verschwörungsdenken zu bedienen. Anarchist*innen müssen ihn auch benennen, um überhaupt die Frage stellen zu können, welche Umgangsmöglichkeiten es mit diesem Problem gibt. In dem Moment, wo gewohnte demokratische Institutionen wegbrechen, wird allerdings auch eine Lücke sichtbar, die emanzipatorische Kräfte nicht einfach ausfüllen können… Daher ist das Thema auch aus anarchistischer Sicht weiter zu diskutieren.