Die Erneuerung der Sozialdemokratie in der Linkspartei…

…und ein pragmatischer, anarchistisches Umgang damit

Die Karte der Wahlkreise verschiebt sich ins Blaue, da die AfD im Osten der BRD fast durchgängig zwischen 32 und 46% der Zweitstimmen erhielt. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die neofaschistische und rechtspopulistische Partei selbst im konservativ-autoritären Bayern auf 19% der Stimmen kam. Damit verdoppelt die AfD ihren Stimmenanteil auf 20,8% verdoppelte und erhält somit 152 von 630 Sitze im Bundeskasperletheater.

So erschreckend und folgenreich diese Entwicklungen auch sind, so absehbar waren sie. Insofern ist die Frage berechtigt, ob die AfD 2029 oder früher in der Regierung beteiligt sein oder diese sogar anführen wird. Denn die multiplen gesellschaftlichen Krisen, aus denen sie politisches Kapital schöpft, werden sich weiter zuspitzen. Das BSW erzielte mit 4,97% ebenfalls einen beachtlichen Erfolg – scheiterte aber dennoch an der autoritär-demokratischen 5%-Hürde. Ob ihr Stimmvieh seine Hoffnungen wieder auf links setzt, sich entpolitisiert oder doch den einfachen Lösungsangeboten von rechts folgen wird, bleibt aktuell offen.

Parallel zu diesen Tendenzen erneuert sich in der Linkspartei die Sozialdemokratie, erzielte 8,77% und schickt damit 64 Abgeordnete ins große Parlament. In ihrer jüngeren Geschichte waren die Sozialist*innen auch schon mal stärker vertreten (2009: 11,9%, 2013: 8,6%, 2017: 9,2%). Zum einen versetzte der lange verzögerte Weggang der Wagenknechte dem Projekt aber einen herben Schlag. Andererseits galt die Linkspartei als zerstritten und handlungsunfähig. Die Medien sagten sie schon tot, verkannten auf Effektivität von Basisengagement und den Faktor Zufall.

Ähnlich wie der AfD gelingt es der Linkspartei, eine Brücke zwischen jüngeren und älteren Generationen zu schlagen. Weiterhin präsentierte sie sich als konsequenter Gegenpol zum Rechts-Autoritarismus und setzte unter anderem auf das Thema Mieten-Regulierung, dass sein zu größeren Teilen urbanes und gebildetes Klientel betrifft. Relevant ist hierbei, dass sie es auch schaffte, in linken Milieus westdeutscher Städte Fuß zu fassen, die zuvor noch Grünen oder SPD ihre Stimme gegeben hatten.

Doch nicht nur in Wahlergebnissen ist die Linkspartei zurück. Im Zuge ihrer Wahlkampagne erlebte sie einen beachtlichen Mitgliederzuwachs und überschritt die Marke 100.000. Darunter befinden sich viele Menschen, die der sogenannten „Bewegungslinken“ angehören / angehörten. Diese bringen ihr Wissen und ihre Erfahrungen aus feministischen und ökologischen Auseinandersetzungen und Organisationen mit. Sicherlich traten auch eine ganze Anzahl Leute bei, die sich selbst als linksradikal verstehen würden – und vorher deswegen zurecht skeptisch gegenüber Parteipolitik waren. Langsam hat sich durchgesetzt, dass man mit der innerlinken Sektierei keinen Blumenstrauß mehr gewinnen kann und die aktuellen und bevorstehenden gesellschaftlichen Konflikte zu ernst und unmittelbar sind, als dass man sich die ewige Streiterei noch leisten könnte.

Dennoch gilt es den Finger in die Wunde zu legen und die Frage zu stellen, was hier vor sich geht. Denn so beachtlich diese Entwicklungen sein und einen Hoffnungsblick für die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse sein mögen, so wenig besonders ist das Ganze tatsächlich. In der Linkspartei erneuert sich die genuine Sozialdemokratie und wirkt zumindest teilweise parlamentarisch-politischer Ausdruck emanzipatorischer sozialer Bewegungen. Das ist ein zeitgemäßer politischer Sozialismus im geografisch-gesellschaftlichen Kontext der BRD im 21. Jahrhundert.

Sollten Anarchist*innen nun der Linkspartei beitreten, sich in ihr organisieren, weil die Zeichen der Zeit darauf hinweisen, dass hier noch effektiv etwas zu verteidigen oder zu holen wäre? „In Zeiten wie diesen …“ heißt es doch immer wieder, da müsse man als engagierter Mensch … einer Partei beitreten?

Die Frage muss offen gestellt werden, um sie ernsthaft und fundiert verneinen zu können. Und selbstverständlich verneine ich sie. Nicht, weil ich Anarchist bin müsste ich krampfhaft eine Differenz zum politischen Sozialismus wahren. Stattdessen ist eine Distanz zur erneuerten Sozialdemokratie sehr wichtig, wenn man eine Vision für eine andere Gesellschaftsform aufrechterhalten und erneuern möchte. Dazu gilt es, entsprechende Projekte zu formieren, die diese verkörpern, umsetzen und voran kämpfen. Diese Positionierung – und die daraus folgenden Handlungen – sind dann anarchistisch.

Dass anarchistische Ansätze in ihrer Pluralität (mutualistisch, individualistisch, kommunistisch, insurrektionalistisch, syndikalistisch, kommunitär) derzeit nicht besonders wirkmächtig erscheinen und Erfolge verbuchen können, machte diese weder grundsätzlich falsch, noch geht daraus zwangsläufig eine verschrobene Selbstbezüglichkeit hervor. Was es unter uns ganz Wenigen aber bräuchte, sind Kontinuität, gemeinsame Vorstellungen, eine geteilte Perspektive und das Selbstbewusstsein um als handelnder Faktor aufzutreten.

Ich glaube daran, dass es prinzipiell möglich ist, anarchistische Projekte zu erneuern. Dies setzt voraus, dass Sektierertum und Kreisen um die eigene Identität endlich hinter sich zu lassen, sowie die Zielvorstellung nicht als abstraktes Ideal anzubeten, sondern konkret zu skizzieren. – Dahingehend ließe sich vom Pragmatismus der Linkspartei und ihrer Anhänger*innen einiges abschauen. Nicht an nächste Woche sollten wir denken – sondern im Denken von Jahrzehnten täglich improvisieren.