„Die meisten Männer bei uns sind Family-only-Täter“
Der Sozialpädagoge Mario Stahr arbeitet mit gewalttätigen Männern daran, ihre Wut zu kontrollieren. Und spricht über den Moment, in dem viele beginnen, umzudenken.
Alle drei Minuten erlebt eine Frau in Deutschland statistisch gesehen häusliche Gewalt. In den überwiegenden Fällen sind die Täter Menschen, die ihnen am nächsten stehen: ihre Partner und Ehemänner. Der Sozialpädagoge Mario Stahr leitet in Ulm Trainingskurse, in denen gewalttätige Männer in der Gruppe lernen sollen, diese Gewalt zu beenden. Dafür müssen sie auf ihren Milchtopf aufpassen, sagt Stahr.
ZEIT ONLINE: Herr Stahr, in der Politik wird derzeit diskutiert, gewalttätige Männer stärker zu Anti-Gewalttrainings zu verpflichten. Ist das sinnvoll oder ist es besser, wenn sich jemand von sich aus bei Ihnen meldet?
Mario Stahr: Das lässt sich nicht eindeutig sagen. Wer sich selbst bei uns meldet – das ist etwa ein Drittel –, hat zunächst vielleicht die höhere Motivation, das eigene Verhalten zu verändern. Gleichzeitig kann es bei Selbstmeldern dazu kommen, dass sie durch die Täterarbeit aus ihrer Sicht erste Fortschritte machen: Sie nehmen wieder Kontakt zur Partnerin auf, kommen vielleicht wieder mit ihr zusammen, weil sie ja nun an sich arbeiten. Und dann denken sie: Ich brauche das Ganze nicht mehr, es ist ja alles wieder gut. Es ist aber nicht alles gut, weil er noch gar nicht so weit ist. Es geht darum, langfristig gewaltfrei zu leben. In einem solchen Fall wäre eine Auflage durch die Staatsanwaltschaft oder das Jugendamt besser, die für die gesamte Zeit unserer Arbeit gilt und Verbindlichkeit schafft.
ZEIT ONLINE: Wer sind die Männer, die zu Ihnen kommen?
Stahr: Es ist egal, welches Alter, welcher soziale Status, welche Herkunft – Gewalt gegen Frauen zieht sich durch alle gesellschaftlichen Gruppen. Was ich beobachte, ist, dass Menschen, die die 60 deutlich überschritten haben, weniger auftauchen. Da ist offenbar die Scham noch mal höher – sowohl für die Gewaltbetroffenen, die Polizei zu rufen, als auch bei den Gewaltausübenden, sich Hilfe zu suchen. Die meisten Männer bei uns sind sogenannte Family-only-Täter: Sie sind nur in der Beziehung oder Familie gewalttätig. Nach außen sind sie unauffällig und haben zum Beispiel keine Suchtprobleme oder Anzeigen wegen anderer Gesetzesverstöße.
ZEIT ONLINE: Gibt es weitere Gemeinsamkeiten?
Stahr: Sie haben alle keinen gesunden Umgang mit Konflikten und den eigenen Emotionen gelernt. Sie können auch nicht gut für sich sorgen. Für viele ist es schon ein Lernprozess, dass Gewalt nicht zu einer Beziehung gehört. Und was überhaupt alles Gewalt ist. Die beginnt nicht erst bei körperlichen Taten. Die meiste ausgeübte Gewalt ist psychische Gewalt und beginnt oft mit Kontrolle. Die Partnerin wird etwa abgewertet, kontrolliert und von der eigenen Familie und Freundinnen isoliert.
ZEIT ONLINE: Wie setzen Sie bei diesen Männern an?
Stahr: Unsere Haltung ist: Als Mensch begegnen wir den Männern wertschätzend, aber jegliche Gewalt lehnen wir ab. Die Verantwortung für Gewalt liegt immer bei dem, der sie ausübt. Nur er kann sie beenden. Das müssen die Männer verstehen. Natürlich gibt es in Beziehungen wiederkehrende Konflikte, in denen sich auch die, die gewalttätig werden, unter Druck gesetzt fühlen, sich vielleicht sogar als Opfer sehen. Ich kann aber nicht mit jemandem arbeiten, der dasitzt und sagt: „Ich weiß gar nicht, was ich hier soll, ich habe nichts gemacht. Schauen Sie sich mal meine Frau an, die ist auch schlimm.“ So was höre ich anfangs oft.
ZEIT ONLINE: Wie können Sie den Männern trotzdem helfen?
Stahr: Es geht sehr viel darum, sich bewusst zu werden, wie man an den Punkt kommt, dass man eskaliert, und dass Kontrolle, Macht und Abwertungen auch Gewalt ist. Dann lassen sich auch Strategien finden, um sich anders zu verhalten. Ich vergleiche das gern mit einem Topf Milch, der auf dem Herd steht und der schnell überkocht, wenn ich nicht aufpasse. Ein weiterer wichtiger Schritt ist die genaue Rekonstruktion einer Tat: Was ist vorher passiert? Wo sind Momente, in denen man aussteigen, sich hätte rausziehen können? Wie haben sich die einzelnen Beteiligten gefühlt? Das gehen wir in Rollenspielen in der Gruppe durch. Und wir erarbeiten mit jedem einen Notfallplan.
ZEIT ONLINE: Wie sieht der aus?
Stahr: Beispielsweise darauf zu achten, in welchem Raum gestritten wird. Bin ich in der Küche? Dann ist im Zweifel die Schublade mit den Messern nicht weit. Möglichst habe ich in einer Konfliktsituation gar nichts in der Hand. Jeder Gegenstand kann letztlich zum Wurfgeschoss werden. Wo steht meine Partnerin? Mindestens zwei Armlängen von mir entfernt? Oder steht sie vor der Tür und blockiert damit einen möglichen Ausweg aus der Situation? Viele sagen, dass sie ja eine Runde rausgehen könnten, wenn sie spüren, dass ihre Wut hochkocht. Da frage ich nach: Machen Sie das auch, wenn es minus 15 Grad hat oder es mitten in der Nacht ist? Es ist wichtig, dass jeder einen Kontakt hat, einen Menschen, der in das Problem eingeweiht ist und bei dem man sich melden kann: Ich brauche dich jetzt, kann ich vorbeikommen? Da zeigt sich leider oft, dass viele Männer außerhalb der Beziehung kein gutes soziales Netz haben.
ZEIT ONLINE: Gibt es Momente, in denen Sie bei vielen ein Umdenken beobachten?
Stahr: Für die meisten Männer ist der Schlüssel für Veränderung nicht die Partnerin, sondern es sind die Kinder. Gerade bei denen, und das sind viele, die selbst von Gewalt in ihrer Kindheit berichten. Sie fangen an zu verstehen: Wie sie sich jetzt verhalten, wird sich auf ihre Kinder auswirken. So wie einst auf sie selbst. Der nächste Schritt wäre zu sehen, dass die Auswirkungen für die betroffene Frau ähnlich gravierend sind. Wenn es möglich ist und die Frauen einverstanden, sprechen wir auch mit ihnen, um die Dynamiken der Gewalt in der Beziehung besser zu verstehen.
ZEIT ONLINE: Täterarbeit findet größtenteils in der Gruppe statt. Was bewirkt das?
Stahr: Am Anfang ist das für die meisten schwer, da muss ich Überzeugungsarbeit leisten. Ich erkläre, dass es ein geschützter Raum ist und alle hier ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Bis auf wenige Ausnahmen finden sich die Männer dann aber schnell zusammen und merken, wie gut es tun kann, mit dem Problem nicht allein zu sein. Manchmal entstehen daraus sogar Freundschaften. Der Vorteil an der Arbeit in der Gruppe ist, dass die meisten Männer sehr klare Worte finden, um andere mit ihren Taten zu konfrontieren.
ZEIT ONLINE: Ist das erst mal leichter, als das eigene Fehlverhalten zu sehen?
Stahr: Klar gibt es solche, die gern auf andere und deren Taten schauen und nicht so sehr auf sich selbst. Das wird ihnen aber sehr schnell von der Gruppe gespiegelt. Auch jemand, der sich zunächst eher versteckt, wird irgendwann mitmachen müssen. Das fordern wir Kursleiter ein, aber vor allem auch die anderen Männer. Und es ist etwas ganz anderes, ob ich das sage oder jemand, der in derselben Situation ist.
ZEIT ONLINE: Wann ist Ihre Arbeit aus Ihrer Sicht erfolgreich?
Stahr: Täterarbeit ist keine Therapie. Wir haben nicht die Zeit, die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten, aber die konkreten Übungen, die wir machen, können durchaus therapeutisch für manche sein. Ich würde sagen, wir waren erfolgreich, wenn jemand den ganzen Kurs über dabeibleibt und für sich geklärt hat, wie es bei ihm zur Eskalation kommt, warum er immer wieder gewalttätig wird, wie er vorher aussteigt und wie er empathischer mit anderen sein kann. Das sind gute Voraussetzungen, aber natürlich keine Garantie, dass es auf Dauer nicht mehr zu Gewalt kommt. Wer an einem Kurs teilgenommen hat, kann sich jederzeit wieder bei uns melden. Manche tun das auch.
Was ist Täterarbeit?
Ein sozialer Trainingskurs für Täter besteht nach anfänglichen Einzelgesprächen aus mindestens 25 Sitzungen in der Gruppe, die in der Regel wöchentlich stattfinden. Er dauert mindestens sechs Monate. Die Hauptziele sind, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und langfristig keine Gewalt mehr auszuüben. Wer während des Kurses wieder gewalttätig wird, kann deshalb ausgeschlossen werden.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt e.V. ist der Dachverband von 89 Beratungsstellen in Deutschland, die mit Tätern arbeiten. Zu wenig für eine flächendeckende Versorgung, kritisiert Vorstandsmitglied Mario Stahr.
Mario Stahr
56, ist Sozialpädagoge und arbeitet bei der Diakonie in Ulm und seit acht Jahren mit Tätern. Davor war er in der Beratung von Paaren und in hochstrittigen Familienfällen tätig. Stahr ist Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt e. V.
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»Ein guter Tag für den Schutz von Frauen«
07.01.2025, 16:23 Uhr — Erstveröffentlichung (aktuell) Sächsisches Staatsministerium der Justiz
Fußfessel nach dem spanischen Modell wird in Deutschland erstmalig angewendet
Wiesbaden/Dresden. Hessens Justizminister Christian Heinz und die Sächsische Justizministerin Constanze Geiert haben an diesem Dienstag mitgeteilt, dass es den ersten Fall in Deutschland gibt, bei dem die Fußfessel nach dem spanischen Modell angewendet wird. »Zum ersten Mal wird die Fußfessel nach dem spanischen Modell in Sachsen angewendet. Bei der zu schützenden Person handelt es sich um die Ex-Frau des Täters, der bereits eine Haftstrafe verbüßt hat.
Das Kontakt- und Annäherungsverbot wird nun bei ihm mithilfe der Fußfessel nach dem spanischen Modell kontrolliert. Heute ist ein guter Tag für den Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt«, sagten die beiden Justizminister und ergänzten: »Für uns ist klar, dass dies ein wichtiger, aber nur ein erster Schritt sein kann. Wir wollen die neue so genannte DV-Technik zum Schutz vor häuslicher Gewalt weitreichender einsetzen, die Erfolge in Spanien sprechen für sich. Daher setzen wir uns für eine Änderung im Gewaltschutzgesetz ein.«
Hessen hat die Fußfessel der neuen Generation, mit der das spanische Modell umsetzbar ist, im vergangenen Jahr eingeführt. Die Länder können sie in den Fällen der so genannten Führungsaufsicht schon jetzt anwenden. Dabei handelt es sich um eine Maßnahme, die nach einer Haftstrafe angewendet werden kann. »So können wir das Schutzniveau der Opfer bereits jetzt bei der strafrechtlichen Führungsaufsicht signifikant erhöhen.
Damit solche Fälle von häuslicher Gewalt gar nicht erst entstehen können, brauchen wir eine Änderung im Gewaltschutzgesetz, um mögliche Opfer präventiv zu schützen. Der Bundesrat hat sich mit Hessens Initiative eindeutig hierzu positioniert, jetzt muss die Bundesregierung handeln«, sagte Hessens Justizminister.
Der wesentliche Unterschied des spanischen Modells zum bisherigen Einsatz der Elektronischen Aufenthaltsüberwachung (EAÜ) besteht darin, dass keine vordefinierten feste Verbotszonen überwacht werden, sondern sich das zu schützende Opfer in Bewegung befindet. Die Überwachungstechnik der neuen Generation, die derzeit in Hessen eingeführt wird, bietet eine technische Lösung durch die sogenannte DV-Technik.
Dabei trägt der Täter eine elektronische Fußfessel, die mit einer GPS-Einheit kommunizieren kann, die das Opfer bei sich trägt. Das System überwacht dadurch sowohl den Standort des Überwachten als auch des Opfers und verwendet feste wie auch dynamische geografische Sperrzonen, um einen Alarm auszulösen, wenn sich der Überwachte und das Opfer entweder absichtlich oder unabsichtlich begegnen.
In Hessen ist die Gemeinsame elektronische Überwachungsstelle der Länder (GÜL) angesiedelt. Ihre Aufgabe ist die fachliche Überwachung der Fußfesselträger. Sie nimmt die Ereignismeldungen zu jeder Tages- und Nachtzeit entgegen und bewertet diese im Hinblick auf möglicherweise notwendige Maßnahmen der Gefahrenabwehr oder der Führungsaufsicht. »Die Fälle von häuslicher Gewalt steigen. Es ist klar, wir müssen mehr tun, um vermeintliche Opfer zu schützen. Daher freue ich mich sehr über den konstruktiven Austausch mit meinem hessischen Kollegen.
Hessen setzt wichtige Impulse in dieser Frage. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Hessen die neue DV-Technik bereits jetzt schon technisch bereitgestellt hat. Gemeinsam werden wir alles tun, dass es weniger Taten von häuslicher Gewalt gibt. Der heutige Tag ist dafür ein erster wichtiger Schritt«, sagte Sachsens Justizministerin.