Was macht die Polizei gegen die verbotenen Demos?

In Sachsen demonstrieren immer mehr Menschen gegen Corona- Maßnahmen. Sie verstoßen bewusst gegen Regeln. Die Polizei stößt an gewaltige Grenzen.

Freiberg. Weiße Flocken rieseln auf Weihnachtsmarkt-Buden hinab, die sich um eine hölzerne Pyramide reihen. Zweige schmücken das alte Steingemäuer, eine weiße Schicht legt sich auf Dächer und Straßen. Wie ein vorweihnachtliches Idyll könnte Freiberg an diesem Montagabend wirken – hätten nicht Kritiker der Corona-Maßnahmen und Rechtsradikale zu einem illegalen Aufmarsch gerufen, läge die Sieben-Tages-Inzidenz in Sachsen nicht bei 1.284,8, und wären nicht die Intensivstation so voll mit Ungeimpften, dass einige ausgeflogen werden müssen.

Dunkelheit hat die Bergstadt Freiberg längst eingehüllt und doch leuchtet sie. Die Straßengirlanden, der beleuchtete Weihnachtsbaum auf dem Obermarkt – und die Lichterketten, die Teilnehmerinnen des illegalen Protestmarschs um die Hälse tragen. Versammeln dürfen sich in Sachsen noch zehn Leute. Am Montag voriger Woche hatten das viele ignoriert. In Bautzen erteilte der Landrat eine Sondergenehmigung für 300 Demonstrierende, in Freiberg protestierten 600 illegal und unbeirrt, ihnen gegenüber standen nur vier Beamte.

Rechtsextremisten mobilisieren in Sachsen breite Masse an Menschen

Während man den Fokus vergangene Woche auf die für ihre radikalen Proteste berüchtigte Erzgebirgsstadt Zwönitz gelegt habe, konzentriere man sich diesen Montag auf Freiberg, heißt es nun von der Polizeidirektion Chemnitz. Um 17.20 Uhr deutet wenig darauf hin, dass sich in Freiberg Protestmarsch formieren wird. Auch den Behörden ist keiner gemeldet. Polizei wimmelt dennoch durch den Albertpark.

Verbreitet haben die Initiatoren ihr Vorhaben über das russische soziale Netzwerk Telegram. Die Splitterpartei „Freie Sachsen“ um Neonazi Martin Kohlmann und Ex-NPD-Kader Stefan Hartung hat angekündigt, dass in mehr als 70 sächsischen Städten Protest geplant sei. Nach Freiberg hat nicht nur die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte Gruppe mobilisiert, sondern weitere Szene-Größen, darunter Jürgen Elsässer, Gesicht des rechtsradikalen Boulevard-Magazins Compact. Auch AfD-Newcomerin Carolin Bachmann, Direktkandidatin des Wahlkreises Mittelsachsen im Bundestag, feuert den Freiberger Protest an.

Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) hat vor wenigen Tagen bekräftigt: „Gewalt ist nicht das Mittel der Wahl.“ Er formulierte damit eine Linie, die Jana Ulbricht am Montagabend wiederholt. „Man muss auch immer die Verhältnismäßigkeit in Betracht ziehen“, sagt die Sprecherin der Chemnitzer Polizeidirektion. Was sind geeignete Mittel? „So lange die Personen, die hier spazieren gehen, friedlich sind, werden wir sicher nicht gewaltsam gegen sie vorgehen.“

Gut zwei Hundertschaften stellen die Polizeidirektion Chemnitz und die Bereitschaftspolizei in Freiberg. „Die Zielrichtung ist heute, die Leute frühzeitig anzusprechen“, so Ulbricht. „Ziel ist, das ganze aus der Innenstadt rauszuhalten.“ Die Versammlung auf die zehn Personen zu reduzieren, die mit der Corona-Notverordnung noch erlaubt sind, ist nachrangig.

Die Corona-Randalierer auf Telegram verfolgen, was Polizei und Minister sagen. In einer der Gruppen, die regelmäßig Inhalte der „Freien Sachsen“ teilt, heißt es am Montag: „Viele Blicke richten sich heute nach Freiberg. Die Polizei hat angekündigt, den Montagsspaziergang (…) stoppen zu wollen. Gleichzeitig versprach (…) Wöller jedoch, dass es keine Gewalt geben würde, wenn eine große Menschenmenge auf die Straße geht.“ Ähnlich kommentiert Elsässer die Lage und kündigt dazu an: „Wir lassen uns auch von den Drohgebärden des Regimes nicht einschüchtern.“

Elsässer, der sich früher scharf gegen Antisemitismus aussprach, hat heute offenbar kein Problem mehr mit einer Klientel, die mitunter den Holocaust verharmlost. In Telegram-Gruppen, die zum Protest aufgerufen hat, erscheinen Fotos von Grablichtern und Plakaten, die Protestierende am Wochenende vor Kliniken in der Region drapiert haben. „2G/3G ist wie damals 1933“, heißt es auf einem Schild. Und: „Dieses Mal geht es um die Ausgrenzung von Ungeimpften statt Juden.“ Sechs Millionen ermordete Jüdinnen und Juden als Vergleich mit Menschen, die nicht mehr shoppen und essen gehen dürfen – was sie ändern könnten, wenn sie sich impfen ließen.

Auch in Plauen, Hochburg der rechtsextremen Splitterpartei III. Weg, haben am Sonntag fast 1.000 Menschen protestiert. Die Polizei ermittelt wegen Landfriedensbruchs und tätlichen Angriffs.

Teiche, historische Bauten und ein Springbrunnen zieren den Albertpark in Freiberg, der sich schlauchförmig neben der Altstadt entlangzieht. Elsässer wartet gegen 17.30 Uhr fast allein im Dunkeln zwischen den Bäumen. „Wir waren zunächst frustriert und dachten, dass Corona-Regime hätte gesiegt“, heißt es hinterher. „In rüdem Ton wurden wir wenigen von den Uniformierten aufgefordert, uns zu zerstreuen, ansonsten gebe es Strafanzeigen.“

Vor 18 Uhr gelingt es den Beamten, Ankommende anzusprechen und zu zerstreuen. Weil via Telegram auch Menschen von weiter her ihr Kommen angekündigt haben, kontrollieren Beamte auch Zufahrtsstraßen.

Gegen 18 Uhr strömen plötzlich Menschen aus allen Richtungen zum Park. So schnell sie kommen, formieren sie sich und stapfen los. Eine Frau mit Nikolausmütze schwingt einen Lautsprecher durch die Luft, aus dem Weihnachtsmusik trällert. Auf dem Kapuzenpullover eines Mannes ist zu lesen: „Wir haben nicht laufen gelernt, um heute zu kriechen. Wir bleiben Germanen.“ Die Mischung der Menschen ist so diffus wie häufig bei Corona-Protesten.

Die Teilnehmenden sind bunt durchmischt. Frauen um die 50 mit bunten Stirnbändern und Jacken so gelb wie Sonnenblumen marschieren neben bärtigen Mittzwanzigern in Dynamo-Fankleidung. Die dauerrauchende Jugendliche, deren blondierte Haare über den Rücken wischen, stapft in weißen Ghetto-Hosen neben dem Mittsechziger her, über dessen Hals ein Bart mit Zopfgummis hängt.

Den „Freien Sachsen“ scheint zumindest teilweise gelungen zu sein, was häufig ein Ziel von Rechtsextremisten ist: Ihr Einfluss reicht weit über ihr eigentliches Klientel hinaus. Familien, die an einem Adventsmontag sonst womöglich daheim Plätzchen backen würden, schließen sich Märschen an, zu denen Hardliner mobilisiert haben. In Telegram-Gruppen und teils bei Kundgebungen mischt sich Protest-Folklore mit Morddrohungen. Wo Teilnehmer Romantik erkennen wollen, wächst immer mehr Radikalität.

Auf einem Freiberger Telegramkanal teilt ein User ein Video, das auf den Montag einstimmen soll. Zu sehen sind immer wieder Symbole der QAnon-Bewegung, deren Theorien schon oft von Mördern und Terroristen zitiert wurden, darunter der Attentäter, der neun Menschen in Hanau ermordete.

Schneeflocken schlagen den Marschierenden in die maskenlosen Gesichter. Ein blondes Mädchen in rosa Winterjacke trampelt durch den Schnee. Manche haben Hunde dabei. „Fünf Tests den Tag, die ham se doch nich mehr alle“, beschwert sich eine Mitläuferin bei ihrer Gruppe. 700 Menschen sind nach Polizeiangaben gekommen. Womöglich sind es noch mehr; weil sie sich immer wieder zerteilen, lässt sich ein Überblick schwer gewinnen.

„Wir wollen die (Polizei) doch verwirren“

Zur gleichen Zeit versammeln sich Menschen in vielen sächsischen Städten. Durch Chemnitz marschieren Hunderte, durch Dresden rollt ein Korso mit knapp 100 Autos, in Bautzen eröffnet ein Rädelsführer eine illegale Versammlung mit Redebeiträgen. Geschrei übertönt Lautsprecher-Durchsagen der Polizei. Manchmal gibt es Gegenproteste. In Pirna, Sebnitz, Riesa, Großenhain und weiteren Orten gelingt es der Polizei, Versammlungen recht schnell aufzulösen. In Bautzen widersetzen sich massenweise Menschen der Aufforderung, den Kornmarkt zu verlassen. Ein Mann stößt einen Beamten mit dem Ellbogen und beißt ihn in die Wade.

In Freiberg gibt es nicht viel, wogegen sich Demonstrierende widersetzen könnten. Einige hatten mit mehr Konfrontation gerechnet, erzählen sie. Die Polizei begleitet den Aufzug, ohne einzugreifen. Überfordert scheint sie mit der Lage zu sein, fährt mal hierhin, mal dorthin, lässt Blaulicht durch die Nacht blinken, staut sich mit ihren Mannschaftswagen vor schmaleren Gassen. Nur ins Herz der Stadt lässt sie den Zug nicht dringen.

Die Demonstrierenden teilen sich auf, schlagen Haken. „Wir wollen die doch verwirren“, raunt ein Mann mit Mütze, deutet in Richtung Polizei und grinst. Manchmal führt der Kreuz-und-Quer-Zug einen Abhang hinunter. Einige Frauen rutschen aus und kichern. Ein paar Bärtige nehmen Anlauf und schlittern über die eisige Straße.

Das Steigerlied, Traditionsgut des Erzgebirges, hallt immer wieder in die Nacht. Blaues Polizeilicht spiegelt sich in dicken Flocken. „Friede, Freiheit, keine Diktatur“ skandiert der Marsch. Sein Weg führt vorbei an Rossmann, Rewe, Fressnapf, dann wieder durch Straßen mit Altbauhäuschen, aus deren Fenstern Schwibbogen leuchten.

Manche Anwohner lehnen ihre Oberkörper hinaus, um zu beobachten. Aus einem Fenster bellt ein schwarzer Hund, als wolle er schimpfen. Mancher hat Alkohol dabei. Gegen 19 Uhr hat der Zug so viele Haken geschlagen, sich so häufig aufgeteilt, dass er aus verschiedenen Richtungen auf einer verschneiten Kreuzung aufeinanderprallt. „Wo jetzt lang?“, fragen einige. Viele der größeren Demonstrationen in sächsischen Städten lösen sich zu dieser Zeit schon auf. Auch in Freiberg scheren einige aus.

Vor dem Albertpark hat jemand ein Antifa-Symbol in den Schnee gezeichnet. Ein Tross maskierter Beamter spricht über die Einsatzstrategie. Dann führt alles dorthin, wo es begonnen hat. Die Polizei kesselt 24 Männer zwischen Bäumen und Spielplatz ein. Sie sollen die Initiatoren sein, liefen immer wieder an seiner Spitze. Ein Mann mit brauner Pufferjacke und Jogginghose gestikuliert, schreit Beamte an.

Der Reihe nach führt die Polizei die Männer mit je einer Nummer versehen vor einen Wagen, fotografiert Gesichter, nimmt Personalien auf. Am Dienstagabend ist klar: Gegen die mutmaßlich rechtsextremen Rädelsführer wird ermittelt. Die „jungen Erwachsenen“ seien „durchaus als gewaltgeneigt und rechtsgerichtet einzuordnen“, sagte ein Sprecher der Polizei dem Nachrichtenportal t-online. Wegen der Durchführung einer nichtangezeigten Versammlung drohen Bußgelder.

In Zwickau hat die Polizei die ganze Versammlung eingekesselt und Personalien aufgenommen, in anderen Städten wie etwa Bautzen die besonders Widerständigen. Eine Strategie für Corona-Proteste zu finden, fällt der Polizei seit langem schwer. Mal grölten Abertausende in Leipzig „Maskenlos durch die Nacht“, mal drängten sie sich stundenlang in Dresden eng aneinander, immer wieder kam es zu Gewalt gegen Beamte. In Pirna schnitt die Polizei Wege ab. 30 Männer gingen auf sie los. Manchmal konnte die Polizei Versammlungen gänzlich verhindern. In Dresden etwa sprach im April ein Großaufgebot alle Menschentrauben an, zerschlug sie damit. Damals halfen Kräfte aus anderen Bundesländern, Wasserwerfer und Räumpanzer sorgten für eine Drohkulisse.

Kapituliert Sachsens Polizei gerade vor jenen, die öffentlich Regeln missachten, aus Mangel an Durchsetzungskraft und Personalstärke? „Versammlungen werden im Rahmen polizeilicher Einsätze abgesichert, wenn dies erforderlich ist“, heißt es von der Polizei. „Die Anzahl der eingesetzten Kräfte richtet sich dabei nach der Lagebeurteilung der einsatzführenden Dienststelle und den vorhandenen Ressourcen.“ Die Strategie sei „grundsätzlich kommunikativ, deeskalierend und verhältnismäßig.“

Sachsens Innenminister bezeichnet die Märsche als „ignorant und egoistisch“. Wöller gibt sich problembewusst: „In dieser dramatischen Situation mit einer immer weiter ansteigenden Anzahl an Toten, einer ständig neu mutierenden, hochinfektiösen Virusvariante und übervollen Intensivstationen mit bundesweiten Patientenverlegungen sind Menschenansammlungen Brandbeschleuniger und gefährden die Gesundheit von uns allen. Die Auflösung von friedlichen Protesten mit Gewalt, auch wenn einige dies fordern, ist dabei allerdings nicht das Mittel der Wahl.“

Innenminister Wöller sieht Verantwortung woanders

Nach Wöllers Ansicht liegt die Verantwortung nicht bei der Polizei: „Diese Pandemie und die Unvernunft von vielen lassen sich nicht mit polizeilichen Mitteln und schon gar nicht mit Gewalt bekämpfen.“

In Freiberg ist der Einsatz am Montag gegen 20.45 Uhr beendet. Später versammeln sich einige auf dem leeren Weihnachtsmarkt. Freibergs Oberbürgermeister hält noch immer daran fest, dass die Buden Mitte Dezember öffnen sollen. Auf Telegram jubeln viele über den Abend. Einige fabulieren, dass nächsten Montag 100.000 marschieren würden, einer schreibt: „Vielen Dank an die Polizei, welche nahezu mitgelaufen war.“ Die Inzidenz im Landkreis Mittelsachsen liegt am Dienstag bei 930. Für Sachsen ist das sogar noch vergleichsweise wenig.


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