Eine Staatsanwältin und sexuelle Gewalt: „Befangen als Feministin und persönlich Betroffene“
Der Fall einer Leipziger Staatsanwältin sorgt in Justizkreisen für Aufsehen: In einem Prozess um Sexualstraftaten erklärte sich die Anklagevertreterin selbst für befangen. Der Bundesgerichtshof äußerte rechtliche Bedenken. Und doch darf sie weiterhin solche Delikte bearbeiten. Wie kann das sein?
Diese Personalie sorgt in der Leipziger Justiz seit Wochen für Diskussionsstoff: Wie kann eine Staatsanwältin, die sich bei Sexualdelikten vor Gericht selbst für befangen erklärte, weiterhin als Anklägerin in derartigen Fällen auftreten? Anfang dieses Jahres äußerte der Bundesgerichtshof (BGH) in einem bemerkenswerten Beschluss rechtliche Bedenken am Verhalten der Juristin und auch hinsichtlich ihrer Objektivität. Doch die Staatsanwaltschaft sieht auf Nachfrage der LVZ keinen Grund zum Eingreifen.
Aktenkundig wurde die Problematik im Frühjahr 2023 bei einem Prozess am Landgericht Leipzig. Da verurteilte die zuständige Strafkammer einen Angeklagten wegen mehrfacher gefährlicher Körperverletzung und versuchter Nötigung zu einer Geldstrafe, sprach ihn aber vom Vorwurf der Vergewaltigung in sechs Fällen aus tatsächlichen Gründen frei. In seiner Revision beanstandete der Verteidiger eine mutmaßliche Befangenheit jener Staatsanwältin, die knapp vier Jahre Haft gefordert hatte, und machte einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren geltend.
Bundesrichter: Äußerungen rechtlich bedenklich
Immerhin soll die Anklagevertreterin in ihrem Plädoyer eine Selbstauskunft mit gewissem Nachhall abgegeben haben. Sie sei „bei Vorwürfen sexualisierter Gewalt gegen Frauen im Allgemeinen und im konkreten Fall befangen“. Und: Sie empfinde es als „unerträglich“, wenn sich eine Frau „als Opfer sexualisierter Gewalt im Rahmen einer öffentlichen Hauptverhandlung kritischen Fragen des Gerichts und der Verteidigung stellen und wegen ihres Aussageverhaltens rechtfertigen müsse“. Im Hauptverhandlungsprotokoll wurde insofern vermerkt: „Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft hält den Schlussvortrag: Sie sei in Fällen häuslicher und sexueller Gewalt als Feministin und persönlich Betroffene befangen. Das sei unproblematisch, denn sie lege es hier offen.“
Der BGH hielt die Äußerungen der Staatsanwältin in dem Prozess gleich aus mehreren Gründen für „rechtlich bedenklich“. Etwa ihr „mit außergewöhnlich scharfen Worten zum Ausdruck gebrachtes Befremden über die kritische Befragung der geschädigten Frau“, so der 5. Strafsenat. Dies lasse vermuten, dass ein grundlegendes Missverständnis von der richterlichen Aufklärungspflicht vorliege. Ein Gericht habe zur Erforschung der Wahrheit alle Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen, heißt es in der Strafprozessordnung. Wie sonst sollten Richter feststellen, dass belastende Aussagen, beispielsweise auch von Hauptbelastungszeuginnen, womöglich nicht den Tatsachen entsprechen?
Staatsanwaltschaft: Keine Anhaltspunkte für Versetzung
Zudem sei es „nicht mit der staatsanwaltschaftlichen Pflicht zur Objektivität in Einklang zu bringen“, dass die Staatsanwältin in dem Prozess an allen sieben Verhandlungstagen die Anklage vertrat. „Hält sich ein Staatsanwalt für voreingenommen, hat er die Gründe hierfür seinem Dienstvorgesetzten vor- und um Ersetzung anzutragen“, stellt der BGH klar. „Dadurch wird gewährleistet, dass die im Gesetz angelegte Selbstkontrolle der Staatsanwaltschaft effektiv stattfinden kann.“
Doch spürbare Konsequenzen – etwa eine Versetzung der Staatsanwältin in eine andere Abteilung, die keine Sexualdelikte bearbeitet – blieben aus. „Soweit der Bundesgerichtshof das Verhalten der Kollegin in der Hauptverhandlung kritisiert hat, ist dies mit ihr ausgewertet worden“, teilte die Sprecherin der Leipziger Staatsanwaltschaft, Vanessa Fink, auf Anfrage der LVZ mit. „Dies ist selbstverständlich die Folge von Kritik am dienstlichen Verhalten von Beamten – unabhängig davon, wer sie äußert. Es ergaben sich aber weder daraus noch aus anderen Umständen ihrer Arbeit Anhaltspunkte, die dafür sprechen könnten, sie mit anderen dienstlichen Aufgaben zu befassen.“
Um ihre Mitarbeiterin aus der Schusslinie zu bringen, verfolgt die Staatsanwaltschaft interessante Argumentationslinien. So sei gar nicht klar, was die Kollegin in der fraglichen Gerichtsverhandlung eigentlich gesagt hat. Der BGH stütze seine Ausführungen auf den Prozessverlauf, wie ihn der Angeklagte in seiner Revision und das Protokoll der Hauptverhandlung beschreibe. Die Staatsanwaltschaft habe hingegen auf eine eigene Darstellung verzichtet. Das Fehlen einer solchen Revisionsgegenerklärung sei „jedoch nicht so zu verstehen, dass die der Sitzungsvertreterin zugeschriebenen Äußerungen tatsächlich in exakt dem wiedergegebenen Wortlaut gefallen sind“, erläuterte Fink. Zudem folge allein aus der Benutzung des Wortes „befangen“ noch nicht, „dass die Kollegin tatsächlich befangen im Rechtssinne war“, so die Behördensprecherin. „Angesichts dessen war sie auch nicht gehalten, während laufender Hauptverhandlung um ihre Ersetzung zu bitten.“
Richter: Bedenken im Hinblick auf Fairness des Verfahrens
Immerhin stellte der Vorsitzende der damals zuständigen Strafkammer in einer dienstlichen Erklärung fest, das Verhalten der Sitzungsvertreterin sei „von Gesetzes wegen nicht zu beanstanden“ gewesen. Auch die Begründung ihrer Schlussvorträge sei „vertretbar und nicht offensichtlich von verfahrensfremden Überlegungen bestimmt gewesen“. Die Staatsanwaltschaft sieht damit ihre Auffassung bestätigt.
„Offensichtlich aus diesem Grund hat sich weder der Vorsitzende, noch ein anderer Verfahrensbeteiligter während der gesamten Hauptverhandlung an die Behördenleiterin der Staatsanwaltschaft Leipzig gewandt, um darauf hinzuwirken, dass eine andere Sitzungsvertreterin zu dem Verfahren entsandt wird“, so Sprecherin Fink.
Sie erwähnte allerdings nicht, wie besorgt sich der Vorsitzende Richter darüber hinaus zum Befangenheitsbekenntnis der Staatsanwältin äußerte. „Hätte sie sich zu einem früheren Zeitpunkt in vergleichbarer Weise erklärt“, heißt es in seiner dienstlichen Erklärung, „hätte das Gericht im Hinblick auf die Fairness des Verfahrens Bedenken gehabt, die Hauptverhandlung unter ihrer Beteiligung fortzusetzen.“
In Leipziger Justizkreisen hat der BGH-Beschluss durchaus für Aufsehen gesorgt. Auch wenn der 5. Strafsenat die Revision letztlich verwarf und befand: „Das Fehlverhalten der Sitzungsvertreterin hatte noch nicht ein Ausmaß angenommen, das einen Verfahrensfehler begründen würde.“ Selbst erfahrene Juristen können sich nicht daran erinnern, dass die oberste Strafrechtsinstanz das Verhalten eines Anklagevertreters schon einmal derart ausführlich thematisierte. Was bedeutet das im Hinblick auf künftige Verfahren um sexuelle Gewalt? Wie unbefangen wird die Staatsanwältin dann vor Gericht agieren? Und: Wie unbefangen wird man ihr begegnen?
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Frank Döring 15.09.2024
Befangenheit vor Gericht – Staatsanwaltschaft macht sich angreifbar
Eine Anklagevertreterin erklärt sich selbst für befangen bei Verfahren zu häuslicher und sexueller Gewalt. LVZ-Reporter Frank Döring ist der Ansicht, dass die Behörde hier eingreifen muss, um ihre Mitarbeiterin zu schützen und sich nicht angreifbar zu machen.
Es ist ein Outing, das man vor Gericht eher selten vernimmt – und schon gar nicht von Seiten der Anklagebehörde: Eine Staatsanwältin erklärt sich in Fällen häuslicher und sexueller Gewalt selbst für befangen, und zwar „als Feministin und persönlich Betroffene“. Selbst wenn der Bundesgerichtshof darin keinen Revisionsgrund erkannte: Das ehrliche Bekenntnis ihrer Mitarbeiterin hätte die Staatsanwaltschaft längst zum Handeln zwingen müssen.
Man muss der bisher untadeligen Juristin nicht einmal unprofessionelles Verhalten unterstellen. In dem konkreten Verfahren hatte die zuständige Strafkammer nichts zu beanstanden. Allerdings merkten die Richter an, im Hinblick auf die Fairness des Verfahrens Bedenken gehabt zu haben. Es ist auch ziemlich schwer vorstellbar, wie sich eine solche persönliche Betroffenheit mit der staatsanwaltschaftlichen Pflicht zur Objektivität in Einklang bringen lässt.
Der Gang zum Gericht als persönliche Mission
Und muss man nicht auch befürchten, dass Richter und Verfahrensgegner der Staatsanwältin fortan mit gewissen Vorbehalten begegnen? Werden sie nicht besonders kritisch hinterfragen, warum sie diesen Beweisantrag stellt oder jenes Sachverständigengutachten ablehnt? Ohne Not macht sich die Anklagebehörde in diesem Fall angreifbar. Außerdem tut sie ihrer Mitarbeiterin wohl keinen Gefallen. Mag sein, dass die Staatsanwältin gerade aufgrund ihrer Betroffenheit bei Verfahren häuslicher und sexueller Gewalt besonders engagiert ist. Aber genau das kann dann eben auch schnell dazu führen, dass der Gang zum Gericht einer persönlichen Mission gleichkommt.