Die Sachsen – Impfgegner aus Tradition

Sachsen war schon immer eine Hochburg der Impfgegner. Selbst in der DDR wurde die Impfpflicht nicht konsequent eingehalten. Ein Blick in die Geschichte.

Es begann mit einer Bombe. Vor genau 300 Jahren, 1721, sollte eine Explosion den Geistlichen Cotton Mather töten. Der Theologe hatte sich im nordamerikanischen Boston während der Pockenepidemie öffentlich für Impfungen ausgesprochen. An dem Sprengkörper, der den Impffreund in die Luft jagen sollte, hing ein Zettel: „Cotton Mather, verdammt seist Du, Du Hund; ich inokuliere Dich hiermit, mit einer Pocke für Dich.“

Das Attentat scheiterte. So konnte Mather nachträglich davon berichten. Auch wenn es schon lange davor erste Auseinandersetzungen um die Vorläufer der Pockenimpfung gegeben hatte, zeigt das Ereignis, wie lange die Geschichte der Impfgegner zurückreicht. Ende des 17. Jahrhunderts startete die westliche Welt mit der systematischen Erforschung der Immunisierung. Damit begann auch die Geschichte des Kampfes gegen diese medizinische Idee. So erklärt es heute der Medizinhistoriker Malte Thießen. Der Professor forscht seit Jahren zu dem Thema, veröffentlichte 2017 einen spannenden Überblick in seiner Habilitationsschrift „Immunisierte Gesellschaft – über Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert“.

Nach der Boston-Bombe kam die Angst vor der Kuh. Thießen erzählt: „1796 wagte der Arzt Edward Jenner in Berkeley im Westen Englands ein riskantes Experiment. Er steckte den Jungen James Phipps mit harmlosen Kuhpocken an, um ihn vor gefährlichen Menschenpocken zu schützen.“ Diese Impfmethode nannte Jenner Vakzination; der Name kommt von Vacca, lateinisch: Kuh. Sofort seien Impfgegner gegen die „Verkuhung“ ins Feld gezogen, weiß Thießen. Theorien kursierten, dass Kuhpocken und Syphilis miteinander verbunden seien. In Zeitungen erschienen Karikaturen, in denen Jenner Tausende Kinder in das Maul eines dämonischen Rindes schaufelte. In anderen Zeichnungen entwuchsen den geimpften Menschen Kühe aus dem Körper.

„Mit den Impfungen sind Urängste der Menschen verbunden“, sagt Thießen. Die Methode, so die Kritiker damals, greife von außen in den Körper ein, verändere die Säfte und verhindere dadurch Selbstimmunisierung. Die eigene Kraft des Körpers werde geschwächt. „Impfungen wurden als Teufelswerk der Moderne bezeichnet. Die Kritik daran ist eine Fortschrittskritik, verbunden mit Existenzängsten“, sagt der Historiker. Zugleich verbinde sich mit diesem Diskurs der Grundkonflikt zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde.

Das zeigte sich auch in der Gründung von Impfgegner-Vereinen. Die ersten dieser Organisationen entstanden 1869 in Leipzig und Stuttgart. Sachsen und Baden-Württemberg waren schon damals Hochburgen der Impfgegner, so wie sie es heute in Corona-Zeiten wieder sind. In beiden Regionen habe es damals starke naturheilkundliche Initiativen gegeben, sagt Thießen. Die Bewegung der Lebensreformer hatte hier ihre Zentren. Sie legten besonderen Wert auf richtige Ernährung, körperliche Ertüchtigung, frische Luft und Hygiene. Die Lebensreformer waren skeptisch gegenüber der Moderne, kritisierten Industrialisierung, Materialismus und Urbanisierung, verbunden mit dem Streben nach einem Naturzustand.

1872 erreichten erste impfskeptische Petitionen den Deutschen Reichstag. Darin wurde argumentiert, dass es „an einem, von der medicinischen Wissenschaft gelieferten philosophischen Nachweise“ fehle, ob einem „Eiterprodukt“ beziehungsweise einer „thierische[n] Krankheit“, die in den menschlichen Körper gebracht werde, „eine Heilkraft zugeschrieben werden könne“. Der Abgeordnete August Reichensperger von der Zentrumspartei sah die Gefahr „nämlich, dass, wenn die eine Krankheit vielleicht ferngehalten wird, dafür eine andere schlimmere Krankheit ihren Einzug in das betreffende Individuum hält“.

„Reichsimpfgesetz“ von 1874

Grund für die Kritik war der Plan der Regierung Bismarck, einen Impfzwang einzuführen. Der Reichskanzler wollte die Pockenschutzimpfung, die schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Bayern, Baden und Württemberg galt, reichsweit verpflichtend einführen. Allein zwischen Herbst 1870 bis 1872 waren im Reich rund 150.000 Menschen an oder mit der tückischen Infektion verstorben. 1874 diskutierte der Reichstag fünf Sitzungen lang den „Gesetzentwurf über den Impfzwang“. Der Staat habe die „Pflicht, die Freiheit des Einzelnen so weit einzuschränken, als es das wohl erkannte Interesse der Gesamtheit erfordere“, erklärten die Anhänger der Impfpflicht. „Dabei ging es nicht nur um die Ausweitung einer bewährten medizinischen Vorsorgemaßnahme, sondern zum ersten Mal um den ,interventionistischen Staat‘ und seine Aufgabe der ,Daseinsvorsorge‘“, sagt Medizinhistoriker Thießen.

Das Parlament verabschiedete das „Reichsimpfgesetz“ am 9. März 1874. Jetzt waren Eltern verpflichtet, ihre Kinder im Alter zwischen einem und zwölf Jahren gegen Pocken immunisieren zu lassen. Wer sich dem entzog, hatte „mit Geldstrafe bis zu fünfzig Mark oder mit Haft bis zu drei Tagen“ zu rechnen. Dagegen richteten sich immer mehr Petitionen, 1877 waren es 21 mit zusammen 30.000 Unterschriften, 1891 insgesamt 2.951 Petitionen mit 90.661 Unterschriften. Grundtenor der Kritik: Die zwangsweise Behandlung sei „eine Verletzung der Grundrechte“ des Einzelnen, „insbesondere des Selbstbestimmungsrechtes über den eigenen Leib“.

Von 1883 bis 1933 erschien sogar eine Zeitschrift mit dem Namen „Impfgegner“. Sie wurde vom Impfzwanggegner-Verein in Dresden herausgegeben, später in Leipzig unter der Leitung des ,Deutschen Reichsverbandes zur Bekämpfung der Impfung’, ab 1913 dann in Berlin.

Probleme bei der Pockenschutzimpfung

Nach dem Ersten Weltkrieg brach die Spanische Grippe aus. Doch von Impfgegnern war diesmal keine Spur. Der Grund: Es gab schlicht keinen Impfstoff gegen diese Pandemie. Darauf verweist der Dresdner Historiker Mike Schmeitzner, Professor am Hannah-Arendt-Institut, der gerade ein Projekt mit leitet, in dem die Spanische Grippe mit der Corona-Pandemie verglichen wird.

Im November 1918 kam das alte Impfgesetz erneut auf die Tagesordnung. Der „Reichsverbande zur Bekämpfung der Impfung“, der bis zu 300.000 Mitglieder gezählt haben soll, forderte das Ende der Impfpflicht und drohte, bei den kommenden Wahlen zum Reichstag gegen die „jetzige Regierung“ abzustimmen.

Mitte der 1920er-Jahre, so weiß Professor Thießen weiter zu erzählen, traten in Großbritannien, den Niederlanden und auch in Deutschland Probleme bei der Pockenschutzimpfung auf. Es ging um Todesfälle durch eine Nervenerkrankung. Die Fallhäufigkeit lag bei sechs bis sieben Todesfällen pro eine Million Erstimpfungen, statistisch berechnet bei 0,0007 Prozent. Erstmals fand sich danach im Reichstag eine Mehrheit, die einen Antrag auf Überprüfung der „wissenschaftlichen Grundlagen“ des Impfgesetzes unterstützte.

Der Streit entfachte erneut, als anderthalb Jahre später der „Lübecker Impfskandal“ mit verunreinigten Tuberkulose-Vakzinen für Schlagzeilen sorgte. Zwei Ärzte hatten mit einem französischen Impfstoff experimentiert. Von 256 versuchsweise geimpften Kindern sollen bis zu 77 gestorben sein, die anderen erkrankten schwer. Der SPD-Gesundheitspolitiker Julius Moses kritisierte damals die Ärzte: „Wie Götter über den Wolken auf dem wissenschaftlichen Olymp thronen, jede Kritik als Blasphemie, als Gotteslästerung betrachten, Opfer auf dem Altar der wissenschaftlichen Medizin immer nur von dem unwissenden Volk als etwas Selbstverständliches verlangen – das geht eben nicht mehr.“ Eine geplante Pflichtimpfung gegen Diphtherie war nach dem Skandal nicht mehr durchsetzbar.

Auch Antisemitismus spielte in der Impfdiskussion eine Rolle. Viele Nazis hätten die Impfpflicht „für eine jüdische Erfindung“ gehalten, so Thießen. 1934 behauptete der Deutsche Impfgegner-Ärztebund, das Reichsimpfgesetz sei vor allem von jüdischen Abgeordneten erarbeitet worden. Ein Verband der Impfgegner aus Wilhelmshaven bemühte in seinem Aufruf gleich die „Weisen von Zion“: Durch „Einimpfen von Krankheiten“ solle die Menschheit der „jüdischen Geldherrschaft unterworfen“ werden. Eine Verschwörungstheorie, die auch heute wieder weit verbreitet ist.

Das Vorgehen der Nationalsozialisten sei sehr ambivalent gewesen, erklärt Schmeitzner. Er verweist auf einen Artikel des sächsischen NS-Gauorgans „Der Freiheitskampf“. Der informierte am 19. April 1935 über die „sofortige“ Auflösung der Impfgegnervereine und des „Impfgegner-Ärztebundes“ für Sachsen. Die Impfgegner, so hieß es dort, hätten „trotz aller Ermahnungen“ zu „Ungehorsam“ aufgefordert und „neuerdings wieder versucht, die Staatsautorität zu untergraben“.

Polio, Diphtherie, Masern, Mumps, Röteln

Mit Blick auf die verpflichtende Pockenimpfung hieß es weiter: Der „Nutzen der Impfung für die Gemeinschaft des Volkes“ stehe in „jedem Falle unendlich viel höher als der Eigennutz“ von Einzelnen. Zumindest in dieser Frage und vor dem Hintergrund der Aufrüstung habe für Hitler der gesunde „Volkskörper“ mehr gezählt als Verschwörungstheorien einiger seiner Gefolgsleute, so Schmeitzner.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ließen sich viele Menschen im zerbombten Deutschland impfen, gegen Ruhr, Fleckfieber, Typhus und gegen Pocken. Nach 1949 gingen beide deutschen Staaten dann unterschiedliche Wege. Nur die Pockenimpfung war beiderseits der Grenzen verpflichtend. In der Bundesrepublik setzte der Staat zunehmend auf Freiwilligkeit. Aufklärung, Medienkampagnen und niedrigschwellige Angebote sollten es richten.

„Die DDR führte in den 1960er-Jahren, Impfpflichten ein und zwar für fast alle Impfprogramme, die es dort gab – außer für die Grippeschutzimpfung, die blieb freiwillig“, erklärt Thießen. Polio, Diphtherie, später Masern, Mumps, Röteln, gegen all diese Krankheiten gab es in der DDR Pflichtimpfungen, die fest im Kalender der Bevölkerung verankert waren.

„Man realisierte jedoch zugleich, dass eine forcierte Durchsetzung des Zwangs nicht unbedingt der goldene Weg ist“, sagt der Medizinhistoriker. Es habe immer wieder Repressionen gegeben, beispielsweise beim Studium, wo der Impfnachweis nachgefragt wurde, oder in bestimmten Berufen. Rund 20 verschiedene Schutzimpfungen waren bei Kindern am Ende vorgesehen. Wer die Termine vorsätzlich oder fahrlässig nicht einhielt, musste mit einer Ordnungsstrafe von bis zu 500 Mark rechnen. Doch meist wurde auf Überzeugungsarbeit oder höchstens sanften Druck gesetzt. Aber im Alltag sei die SED-Führung nicht gewillt oder nicht fähig gewesen, die 98-prozentige Impfquote, die immer wieder gefordert wurde, durchzusetzen.

Zugleich existierte eine landesweite Struktur, es wurden Dauerimpfstellen geschaffen, damit Eltern mit ihren Kindern zur Impfung gehen konnten, wann es ihnen passte. Doch es gab auch in der DDR Impfgegner, und man ging zum Teil ziemlich pragmatisch mit ihnen um. Manche Kreise oder Bezirke meldeten zwanzig bis dreißig Prozent nicht angetroffene Impflinge, die dann allerdings nicht als Impfgegner oder Impfskeptiker galten.

Nach der Wiedervereinigung war zunächst von Impfpflicht keine Rede mehr. Erst im März 2020 trat ein Masernschutzgesetz in Kraft. Es schreibt eine Pflichtimpfung für Menschen in Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen vor. So sollen unter anderem Schul- und Kindergartenkinder damit vor Masern geschützt werden. Eltern, die ihre Kinder in die Einrichtungen bringen und nicht impfen lassen, müssen mit einer Geldbuße von bis zu 2.500 Euro rechnen.