Vier Jahre paradox-a.de

In diesem Beitrag formuliere ich Gedanken zu einigen Themen, die mich beschäftigen und gebe am Ende einen Rückblick bzw. hebe einige Beiträge aus den vergangenen zwölf Monaten hervor.

Seit inzwischen vier Jahren betreibe ich den Blog paradox-a.de. Seitdem ist viel passiert – und irgendwie auch nicht viel. Beziehungsweise rollt das Rad immer weiter, die Zivilisation geht dem Abgrund entgegen und ist die Hölle für viele, die unter ihren Auswirkungen am elendsten leiden. Dass emanzipatorische soziale Bewegungen dagegen ernsthaft nach Autonomie und Selbstorganisation streben und dabei ein treibender Faktor werden, scheint eher ein Wunschtraum zu sein. Zu würdigen und wertzuschätzen sind dessen ungeachtet alle Personen und Zusammenhänge, die sich entschieden, konsequent und kontinuierlich für sozial-revolutionäre Bestrebungen engagieren – ob ihnen das bewusst ist oder sie intuitiv das Richtige tun.

Lichtblicke gibt es leider selten. „Linke Szenen“ werden von Repression überzogen, während das rechtspopulistische und neofaschistische Lager sich fest in der politischen Landschaft etabliert hat, auch wenn sich kosmopolitisch orientierte Kapitalfraktionen davon distanzieren und die Regierung an die Zivilgesellschaft appelliert, um die Menschenverachtung einzudämmen, deren Ursachen in einer schlechten Gesellschaftsform liegen. Die Geldströme für die Bonzen versiegen nicht, werden nicht angetastet und selten nur noch überhaupt in Frage gestellt. Feminismus, Ökologie, Antirassismus sind unheimlich wichtige Kampffelder – aber letztendlich braucht es Akteur*innen, die die Privateigentumsordnung konfrontieren.

Trotz einiger Zusammenkünfte und Debatten wie in Saint Imier oder bei Anarchistischen Tagen, trotz mancher guter Aktionen und Initiativen, scheint mir das anarchistische Lager weiterhin desorientiert und fragmentiert zu sein. Die Einstellungen zum russischen Invasionskrieg in der Ukraine, zum Krieg in Israel-Palästina, zu taktischen Fragen und in Hinblick auf Grundannahmen gehen häfig auseinander, während eine kontinuierliche und zielgerichete Verständigung über schwierige Probleme über kleine Kreise hinaus kaum zu Stande kommt und leider all zu oft Identitäts-bezogen diskutiert wird.

Dagegen bietet auch die populistische Wagenknechtschaft bietet keine Antworten für die multiple gesellschaftliche Krise, sondern etabliert sich als rassistischer, nationalstaatlich-bornierter und machtgeiler Akteur. Als weiteren Ausdruck der Verschärfung des Autoritarismus erleben wir seit drei bis vier Jahren einen neuen Aufschwung der autoritär-kommunistischen K-Gruppen, die mit ihren verkürzten Parolen auf die Verunsicherung, Haltungslosigkeit und Desorganisation der gesellschaftlichen Linken reagieren, um mit ihren historisch und theoretisch völlig überholten Konzepten zu punkten.

Im Trubel dieser Konstellation muss ich – inzwischen in meiner Lebensmitte angekommen – selbst schauen, wie ich meine Lebensbedingungen organisiere, um auf längere Sicht weiter aktiv bleiben zu können. Gerade Tätigkeiten in der Theorie, Bildung und Agitation brauchen ihre Zeit, um wirksam zu werden. Ich hangele mich mit Lehraufträgen in verschiedenen Orten durch, um weiter zu lernen, etwas wieder zu geben, weil ich das für sinnvoll halte und dran bleiben möchte. Perspektivisch brauche ich einen anderen Rahmen für meine Tätigkeiten.

Dafür habe ich endlich ein Buch veröffentlichen können, welches den Titel „Politische Theorie des Anarchismus“ erhalten hat und als Grundlage einer möglichen theoretischen Erneuerung des Anarchismus dienen kann. Dieser Prozess bei einem kommerziellen Wissenschaftsverlag hat mich Nerven, Geld und Glaubwürdigkeit gekostet. Ich habe mich entschieden, das so zu machen, um das zugewiesene Szene-Ghetto zu verlassen. Als open access Publikation mit CC-Lizenz wird das Buch hoffentlich eine gewisse Verbreitung finden, damit Menschen Anregungen finden und weiterarbeiten können. Einige weitere Projekte habe ich im Sinn. Es kann sein, dass sie öffentlich gemacht werden. Eventuell konzentriere ich mich aber auch auf Aktivitäten, die ich nicht kommunizieren werde.

Ansonsten gibt es auch ein Leben jenseits meines Äußerungsbedürfnisses in der Öffentlichkeit. Chaos, Liebe, Anarchie begleiten mich weiterhin auch persönlich. Vor allem freue ich mich über einige gute Freundschaften, Beziehungen, Begegnungen. Irgendwie machen wir weiter und hangeln uns durch. Nach einem Kollektiv, mit dem ich gemeinsam und über einzelne Projekte hinaus tätig sein kann, suche ich nach wie vor vergeblich, will die Hoffnung darauf aber nicht aufgeben. Ich kann inzwischen besser dazu stehen, dass ich eigensinnige Sichtweisen habe und sozial speziell bin. Darüber hinaus will ich aber auch bestimmte Dinge und habe einen bestimmten Erfahrungshintergrund, hinter den ich nicht zurück, sondern mit dem ich nur vorwärts gehen kann.

In diesem Zusammenhang interessiert mich insbesondere der Aufbau eines überregionalen Zusammenhangs für anarchistische Agitation, Theorie und Bildung im deutschsprachigen Raum. Wer eine Ahnung hat, was ich damit meine und warum das bedeutend wäre, mag mit mir in Kontakt treten…

Rückblick über die letzten 12 Monate:

In Hinblick auf Ereignisse kommt mir vor allem der letzte Sommer in den Sinn, wo ich beim Treffen vom Saint Imier, dem rebellischen Zusammentreffen und beim Kantine-Festival in Chemnitz teilgenommen habe. Um meine Position klarer zu kriegen und mich zu distanzieren, konnte ich weiterhin bei einer politikwissenschaftlichen Konferenz teilnehmen.

Weiterhin habe ich einige Veranstaltungen durchgeführt, wobei ich etwas stärker in spezifische Kontexte gegangen bin. Erwähnenswert waren unter anderem Entfremdung, Bewusstwerdung und Ermächtigung beim Drogenkulturkongress, ein Vortrag zu Anarchistischen Transformationsstrategien [Folien] für den Kongress des Chaos Computer Clubs und einen Beitrag zum Verhältnis von Kommunismus und Anarchismus in der Reihe „Goodbye Stalin!“. Weiterhin organsierte und führte ich eine Reihe von ganztätigen Workshops unter dem Titel „Anarchie bilden!“ durch, reflektierte bei der anarchistischen Buchmesse in Mannheim über das Getriebensein und Treibenlassen meiner Generation und versuche Reflexionsanstöße zu geben mit dem Workshop „How to win?“.

Ich habe einige theoretische Überlegungen angestellt, zum Beispiel über das Streben nach Autonomie im Anarch@-Syndikalismus, in der Constraste über den Begriff Sozialismus und in Hinblick auf mein Verständnis vom Insurrektionalismus.

Darüber hinaus habe ich mich an Debatten beteiligt mit Kommentaren dazu, warum der Begriff „antiautoritär“ nicht genug ist, dass wir keinen identitären Abgrenzungsreflexen erliegen sollten und uns nicht pseudo-akademisch gegen die eigene Szene wenden sollten. Anfang des Jahres kommentierte ich außerdem einen „marktanarchistischen“ Versuch, die „Bauernproteste“ und die Anrufung der Zivilgesellschaft aus schlechtem bürgerlichen Gewissen.

Auch auf einige Publikationen habe ich hingewiesen und diese teilweise besprochen, so beispielsweise von Geoffroy de Lagasnerie Das politische Bewusstsein; Paul Sörensens Theorie der Präfiguration; Catharine Malabous Ausführungen zu Anarchismus und Philosophie bei gleichzeitiger Kritik an Robert Paul Wolffs philosophischem Anarchismus. Hingewiesen habe ich auf Chiara Botticis Anarchafeminism, die deutsche Neuveröffentlichung dreier Aufsätze von Élisée Reclus, auf Starhawks spirituellem Anarchismus der achtziger Jahre und auf eine Studie zur anarchistischen Aspekten im jiddischen Milieus von Lilian Türk.

In den letzten Monaten sind auch einige Materialien entstanden wie zu Basisbegriffen anarchistischen Denkens, Kriterien für sozial-revolutionäre Bewegungen, zu Verfallsformen aozial-revolutionärer (Anti-)Politik, sowie zu verschiedenen Politikbegriffen. Ich hoffe, das Menschen etwas damit anfangen und Inspiration darin finden können.

Abschließend möchte ich noch auf einige lyrische Gedankenfetzen hinweisen. So zu Entfremdung und Selbstfindung, zur Vergegenstandpunktlichung der Idiotie, zur Affirmation der Gesamtscheiße, der PFZ Colditz, zur Stressbewältigung, zur holistischen Regeneration, sowie zum Zerbasteln der Welt.

Ich werde das Projekt paradox-a.de ein weiteres Jahr betreiben. Die Frequenz der Postings wird vermutlich aufgrund anderer Tätigkeiten abnehmen. Im Verlauf der Monate werde ich entscheiden, ob ich es für sinnvoll halte, den Blog als Einzelperson weiter zu betreiben. Denn zugegebenermaßen füllt es vor allem eine Lücke, nämlich jene einer respektvollen und fundierten inhaltlichen und theoretischen Diskussion im anarchistischen Lager im deutschsprachigen Raum.

Gastbeiträge die aus einer ähnlichen Perspektive formuliert sind, sind prinzipiell weiter willkommen, wenn sie eine gewisse Qualität aufweisen.