Hinnehmen oder durchdrehen? – Linke Konfusion in der Spätpandemie
Anarchist:innen verbreiten esoterische Impfkritik, Feministinnen treten an Anti-Massnahmen-Demonstrationen auf und an linken Veranstaltungen werden Ausweise kontrolliert. Am Anfang der fünften Corona-Welle zeigt sich: Es ist höchste Zeit, die vergangenen Debatten um emanzipatorische Perspektiven wieder aufzunehmen.
Anmerkung knack[punkt]: Folgender Text bezieht sich auf diesen auch hier veröffentlichten Artikel „Über Covid-Zertifikate, Impfungen und QR-Codes“
Als im Frühsommer in der Schweiz die Impfkampagne gegen das Corona-Virus startete, machte sich Erleichterung breit. Die Sehnsucht nach einer Rückkehr zum gewohnten Freizeit-, Konsum- und Arbeitsverhalten war nach über einem Jahr der gesundheitlichen und ökonomischen Ausnahmesituation gross. Durch die Impfung schien alles wieder langsam in gewohnte Bahnen zurückzukehren. Auch viele Linke rechneten mit so etwas wie «Normalität». Soliparties und Plena finden wieder statt, die Polizei löst Demonstrationen nicht mehr unter dem Vorwand der Pandemie-Bekämpfung auf und es treten auch wieder andere Themen in den Vordergrund.
Doch schon einige Monate später muss man konstatieren, dass von einem «Vor-Pandemie-Zustand» keine Rede sein kann. Die reiche Schweiz hat die niedrigste Impfquote in ganz Westeuropa. Dafür sind die Anti-Massnahmen-Proteste grösser als je zuvor. Mit ihnen etabliert sich zum ersten Mal seit den 1990er-Jahren eine kontinuierliche rechte Präsenz auf den Strassen von Schweizer Städten. Gleichzeitig steigen die Inzidenzen wieder an und die Situation im Gesundheitswesen bleibt angespannt.
Auch in der (radikalen und nicht-so-radikalen) Linken knarrt es im Gebälk. Insbesondere die Frage nach der Entscheidungsfreiheit in Bezug auf die Impfung, das Covid-Zertifikat und die Proteste dagegen sorgen für einige Konfusion und legen Widersprüche offen. Debatten um Analyse und Strategie wären sicher zu begrüssen, doch (noch) herrschen Gehässigkeiten und gegenseitige Unterstellungen auf Twitter, Mailinglisten und barrikade.info vor.
Linke Strategien in der Pandemie
Vor allem zu Beginn der Pandemie gab es durchaus Diskussionen darüber, wie emanzipatorische Strategien und Forderungen aussehen könnten. Die inflationäre Verwendung des Begriffs «Solidarität» im staatlichen Diskurs wurde von Linken mit Argwohn zur Kenntnis genommen. Statt die Solidarität an den Staat zu delegieren, wurde nach einem angemessenen Umgang mit der Pandemie gesucht. Für viele war klar, dass es wichtig ist, die vom Virus ausgehende Gefahr für die Gesundheit, wie auch die ökonomischen Konsequenzen eines Lockdowns für die Proletarisierten ernst zu nehmen und sich dabei nicht auf den Staat zu verlassen. Man war sich zudem weitgehend einig, dass physische Kontakte und damit das Risiko einer Ansteckung reduziert werden sollte.
Auf der Ebene der Praxis hatte die radikale Linke hierzulande zunächst Mühe, sich mit der veränderten Situation zurechtzufinden. Sie schwankte zwischen selbstreferenziellem Aktionismus, Internet-Engagement und direkter Unterstützung von Proletarisierten und Geflüchteten.
Plötzlich standen Aktions- und Organisationsformen, die jahrelang belächelt oder vernachlässigt wurden, wie beispielsweise Basisarbeit in den Betrieben oder solidarische Nachbarschaftsstrukturen, wieder im Zentrum der Diskussion. Der Zusammenschluss Solidarität gegen Corona rief auf Plakaten zur «kollektiven Verantwortung anstatt staatlicher Zwangsmassnahmen» sowie gegenseitiger Hilfe in Form von Nachbarschaftsstrukturen auf und forderte bessere Arbeitsbedingungen für das Gesundheitspersonal, kostenlose Gesundheitsversorgung für alle, Aussetzung der Mieten und genügend Unterstützung für Arbeiter:innen, Arbeitslose und Geflüchtete. Es wurde allerdings schnell klar, dass es keine gesellschaftliche Kraft gibt, die in der Lage wäre solche Forderungen durchzusetzen. Die fehlende Verankerung der radikalen Linken trat offen zu Tage und der Aufruf blieb ein Schrei ins Leere.
Andere setzten auf Appelle an den Staat. Die Initiative ZeroCovid, die auch in der Schweizer Linken einige Anhänger:innen fand, forderte einen «solidarischen Lockdown von unten», was vor allem die Schliessung der Arbeitsplätze meinte. Daraus entbrannte in der Linken kurzzeitig eine breite Debatte. Alex Demirović warnte davor, dass der Aufruf die autoritären Tendenzen der staatlichen Pandemiebekämpfung verstärken könnte und machte darauf aufmerksam, dass es problematisch sei, im Namen der Wissenschaftlichkeit und der Solidarität Isolation zu propagieren und keine eigene Positionen auf die Strasse zu bringen. Die Gruppe Solidarisch gegen Corona, welche die zahlreichen Kämpfe der Proletarisierten weltweit gegen die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Verheerungen der Pandemie dokumentierte, wies darauf hin, dass die Frage danach, wer die Massnahmen gestaltet, durchsetzt und bezahlt nicht einfach als Details abgetan werden können.
Eine Reflexion über die Erfahrungen während der Pandemie hat bisher aber nicht stattgefunden. Das mag auch daran liegen, dass die befürchtete gesundheitliche und ökonomische Katastrophe im eigenen Vorgarten ausgeblieben ist. Es gibt kein spektakuläres Scheitern aufzuarbeiten.
Ausweiskontrolle und Namenslisten im besetzten Haus?
In der aktuellen Diskussion um das Covid-Zertifikat bleibt es in der radikalen Linken bislang recht still. Es stellt sich vor allem die Frage, wie mit der Zertifikatspflicht und dem Contact-Tracing an Veranstaltungen und Partys umgegangen werden soll. Dabei setzen viele linke Räume und Veranstaltungen die Zertifikatspflicht und das Contact-Tracing klag- und kritiklos um. Verständlicherweise ist das Bedürfnis nach sozialen Kontakten gross und es besteht die Notwendigkeit, insbesondere für Anti-Rep Arbeit, finanzielle Mittel zu sammeln. Gerade deshalb wäre es wichtig zu diskutieren, unter welchen Umständen staatliche Massnahmen wie das Covid-Zertifikat oder Contact-Tracing mitgetragen werden sollen. Dabei geht es nicht in erster Linie um «emanzipatorische Hygienekonzepte», sondern darum, die gesellschaftliche Dimension dieser Massnahmen mitzudenken.
Das Zertifikat ist heikel weniger wegen seiner technischen Infrastruktur, sondern weil eine Gewöhnung und Normalisierung von Kontrollen stattfinden kann. Man zeigt regelmässig seinen Ausweis vor und gibt seine Kontaktdaten an, ohne zu fragen, ob das überhaupt sinnvoll ist und ob es Alternativen gibt. Man hat durchaus den Eindruck als hätte die Sensibilität in Bezug auf Datenschutz in den letzten Monaten bei linken Räume und ihren Besucher:innen eher ab- als zugenommen. Auf eine Aufforderung zum Tragen von Hygienemasken wird dagegen meist verzichtet, seit das nicht mehr staatlich vorgeschrieben wird.
Kritik kam indes von anderer Seite: Fankurven aus der ganzen Schweiz wehrten sich diesen Sommer erfolgreich gegen ID-Kontrollen an den Stadioneingängen im Zusammenhang mit der Zertifikatspflicht. Sie befürchteten, dass unter dem Vorwand der Pandemie repressive Massnahmen wie personalisierte Tickets eingeführt würden, die auch nach dem Ende der Zertifikatspflicht bestehen bleiben würden. Die Erfahrung zeigt, dass diese Sorge durchaus begründet ist. Nicht nur in der Schweiz dienen Fussballstadien den Behörden als Labors, in denen repressive Massnahmen erprobt werden, die dann später beispielsweise auch gegen Demonstrationen eingesetzt werden können.
Das Komitee Geimpfte gegen das Covid-Zertifikat argumentiert im aktuellen Abstimmungskampf zudem, dass das Zertifikat eine Scheinsicherheit biete. Mit der Einführung der Zertifikatspflicht seien die meisten Hygienemassnahmen aufgehoben worden, obwohl Zertifikate einfach gefälscht werden könnten und keinen Schutz vor einer Ansteckung böten. Es ist klar, dass dahinter das Interesse des Staates steht, dass der Laden wieder möglichst reibungslos läuft und nicht das Interesse nach Gesundheit der Bevölkerung.
Individualisierung der Pandemie
Jenseits solcher Detailfragen offenbaren sich aber auch gefährliche Abgründe. Im hitzigen Abstimmungskampf ist es die Sozialdemokratie, die an vorderster Front für das Covid-Gesetz kämpft. Viele Befürworter:innen verkaufen das Covid-Zertifikat als Allheilmittel, welche die Rückkehr zur Normalität ermögliche. Diese Position ist gefährlich und befördert – wie man aktuell vor allem in der sozialdemokratischen Twitteria beobachten kann – autoritäre Reflexe. Da werden ausschliesslich die dummen Impfverweigerer und Zertifikatsgegnerinnen für das Fortdauern der Pandemie verantwortlich gemacht und auch mal darüber sinniert, ob Ungeimpfte noch Anspruch auf ein Intensivbett haben sollten.
In Österreich verhängte die Regierung für kurze Zeit einen «Lockdown für Ungeimpfte» und in den meisten Teilen Deutschlands gilt die 2G-Regel für die meisten öffentlichen Orte. Solche Massnahmen zeigen wenig Wirkung gegen das Virus, sondern steigern vielmehr den Druck auf das Individuum. Der Staat entzieht sich der Verantwortung und schiebt das Fortdauern der Pandemie den Ungeimpften zu.
Das italienische Autor:innenkollektiv Wu Ming kritisiert die Linke dafür, dass sie ausschliesslich vom Virus, aber kaum über das desaströse und ungerechte Pandemie-Management der Regierung sprechen würde. Das italienische Covid-Zertifikat – den sogenannten Green Pass –bezeichnet Wu Ming als reines Propagandainstrument: «Um ihre Verantwortung für das Geschehen zu verschleiern, griff die Regierung zu einer Reihe von Ablenkungsmanövern, die auf dem klassischsten neoliberalen Trick basierten, der bereits vor der Pandemie in Bezug auf Umwelt, Klima und Gesundheit massiv eingesetzt wurde: Jede Verantwortung für die Ansteckungen wurde dem individuellen Verhalten der Bürgerinnen und Bürger zugeschoben.»
Diese Individualisierung der Verantwortung durch den Staat ist auch der Grund, weshalb sich die Basisgewerkschaft SI Cobas gegen den Green Pass wehrt: «Die Regierung und die Bosse interessieren sich nicht für die Gesundheit der Proletarier:innen! Während der Akutphase der Pandemie liessen sie uns zu Tausenden sterben, nur um die Fabriken und Lagerhäuser offen zu halten und weiterhin Gewinne zu erzielen! Jetzt zwingen sie uns den Green-Pass auf, um sich in Sachen Arbeitssicherheit vor der Verantwortung zu drücken. Sie schieben all die Probleme rund um das Virus auf die einzelnen Arbeiter:innen, während das kapitalistische Ausbeutungssystem nicht angetastet wird.»
Im Gegensatz zur italienischen Variante erstreckt sich die Zertifikatspflicht in der Schweiz nicht auf den Arbeitsplatz. Unternehmen können im Rahmen ihrer Schutzkonzepte eine Zertifikatspflicht einführen, müssen dafür aber Gratis-Tests anbieten. Das ist ein wichtiger Unterschied und mag ein Grund sein, weshalb die linke Kritik am Zertifikat bisher ausgeblieben ist. Allerdings ist es doch fraglich, ob angesichts der vehementen Verteidigung bei der sozialdemokratischen und oft achselzuckenden Umsetzung bei der radikalen Linken eine mögliche Ausweitung der Zertifikatspflicht dann nicht doch einfach hingenommen würde. Gut möglich, dass wir uns bald damit befassen müssen.
Anti-Massnahmen-Proteste: Intervenieren oder bekämpfen?
Es gibt aber nicht nur die linken Verteidiger:innen der staatlichen Massnahmen, sondern auch seine falschen Kritiker:innen. Die Bewegung, welche seit einiger Zeit wöchentlich auf die Strasse geht, um gegen das Covid-Gesetz, die Impfung und eine vermeintliche Diktatur zu lärmen, ist in den letzten Monaten immer grösser geworden. Auch einige Linke sympathisieren mit den Anti-Massnahmen-Protesten oder nehmen gar daran teil. Leider werfen sie dabei meist die letzten Reste emanzipatorischer Grundsätze über Bord.
Ein Beispiel für solche Verwirrungen erschien kürzlich auf barrikade.info, dem digitalen Flugblattständer der radikalen Linken in der Deutschschweiz. Die anonymen Autor:innen aus dem Milieu des insurrektionalistischen Anarchismus, legen eine «anarchistische und antiautoritäre» Position zu den aktuellen Pandemie-Massnahmen dar. Die Anführungszeichen sind uns in diesem Fall wichtig, denn die geäusserten Thesen entfernen sich weit von emanzipatorischen Inhalten. Einige Insurrektionalist:innen scheinen seit geraumer Zeit so fest auf ihre starren, subjektiven Ideale fixiert zu sein, dass das, was sie unter Kritik und Analyse verstehen, eher einem Perpetuum Mobile der ideologischen Selbstvergewisserung gleicht, als einer kritischen Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Widersprüchen. Die Devise und das unumstössliche Paradigma lautet dabei ganz lapidar: «Hauptsache gegen den Staat».
Die Autor:innen des Barrikade-Textes fordern zunächst eine Intervention in die Anti-Massnahmen-Proteste. Es folgt der in solchen Fällen übliche Verweis auf die Gilets-Jaunes-Bewegung in Frankreich, bei der anfänglich auch Rechte teilgenommen hätten, die durch linke Kräfte aber herausgedrängt wurden. Sie sind damit nicht die einzigen. Zuletzt sorgte etwa die Gruppe Feministischer Lookdown für Aufsehen, als sie an einer Anti-Massnahmen-Demonstration in Bern eine Rede hielt. Mit dabei war das Schwurbler-Spektrum von den «Freien Linken» über die «Freiheitstrychler», «Bündnis Urkantone» bis hin zu organisierten Neonazis. Auch die Lookdown-Gruppe schreibt, dass man nicht alle Massnahmen-Kritiker:innen als Nazis bezeichnen könne – was im Übrigen gar niemand tut. In Zürich wurde auf einem Transparent dazu lapidar festgehalten: «Wer mit Nazis marschiert, marschiert mit Nazis.»
Doch weder der Feministische Lookdown noch unsere anarchistischen Autor:innen beantworten die entscheidenden Fragen: Wie steht es um die soziale Zusammensetzung der Anti-Massnahmen-Proteste und welche Forderungen werden artikuliert? Welche Teile der Bewegung sind offen für linke Inhalte und Praxis? Wie könnte eine Intervention von linken Kräften aussehen, die die rechten Kräfte schwächen kann ohne sich gegen die Bewegung als Ganzes zu richten?
Um sich diesen Fragen zu nähern, braucht man analytische Begriffe. Hier lohnt sich erneut ein Blick über die Alpen. Wu Ming – deren Interview im Übrigen auch der Feministische Lookdown zur Lektüre empfiehlt – bezeichnet die Bewegung gegen den Green Pass in Italien als «bikonzeptuell»: Die Menschen hätten in der Krise eine Prekarisierung erfahren. Sie wollen sich mit diesen neuen materiellen Bedingungen aber nicht abfinden und halten deshalb an kleinbürgerlichen Werten fest. Obwohl sie also in ihrem politischen Ausdruck bürgerlich seien, könnten Linke sie erreichen, indem sie ihre materiellen Bedürfnisse und ihre Wut aufs System anspreche.
Bei der Betrachtung der Anti-Massnahmen-Proteste in der Schweiz hingegen kann man eine solche Konstellation beim besten Willen nicht erkennen. Aus den Äusserungen der Demonstrant:innen spricht keine Angst vor einem sozialen Abstieg, sondern vielmehr ein Unbehagen über die Eingriffe des Staates in ihre gewohnte Lebensweise. Ausserdem mobilisieren die Proteste primär ein bereits vor der Pandemie vorhandenes Potential an Verschwörungsgläubigen, Esoteriker:innen und rechten Kräfte von christlichen Fundis bis Neonazis. Es ist zu bezweifeln, dass es jemals die Möglichkeit einer linken Intervention gab. Von Beginn an waren Rechte und Neonazis aller Art nicht nur erkennbar dabei, sondern haben die Aktionen aktiv mitorganisiert. Nie sind sie auf Widerspruch oder Widerstand der anderen Demonstrant:innen gestossen. Im Gegenteil wurden regelmässig Passant:innen und antifaschistische Proteste aus den Demonstrationen heraus angegriffen, ohne dass dies zu einer Distanzierung oder Spaltung der Bewegung geführt hätte. Die Proteste wurden immer grösser. Es gibt überhaupt keine Anhaltspunkte dafür, dass es innerhalb der Anti-Massnahmen-Proteste ein Milieu gäbe, welches für linke Positionen auch nur halbwegs offen wäre.
Viel naheliegender erscheint deshalb die Einschätzung des Revolutionären Jugendbündnisses Winterthur (RJBW). Das RJBW schreibt über die Bewegung der Massnahmen-Kritiker:innen: «Die Demonstrierenden rekrutieren sich grösstenteils aus rechtskonservativen Kreisen des Kleinbürgertums. Es gibt aber auch einige Personen, welche sich politisch links der «Mitte» verorten würden. […] Neben patriotischen Stammtischgänger:innen und Freiheitstrychlern, einigen verwirrten Hippies und Esoteriker:innen sind allerdings auch gesellschaftspolitisch gefährlichere Gruppen mit ihren Positionen an den Demonstrationen vertreten. Denn rechtsextreme Kader und Einzelpersonen fühlen sich dort pudelwohl und stossen auf relativ wenig bis gar keine Gegenwehr. So wird ihnen eine Plattform geboten, um sich Wochenende für Wochenende besser vernetzen zu können und ihre Positionen nach aussen zu tragen.»
Diese Leute kämpfen nicht gegen «den Staat» (einige Insurrektionalist:innen) oder «autoritäre Massnahmen» (Feministischer Lookdown). Sie stellen sich nur gegen die staatlichen Massnahmen, weil sie es als ihre «Freiheit» ansehen, die Pandemie zu verleugnen, sie wollen ungeachtet des Virus weiterarbeiten und konsumieren. Dass es zudem viele Leute und Bewegungen gibt, die sich nur für eine begrenzte Zeitspanne gegen gewisse Auswüchse des Staatshandelns auflehnen, aber selbst eine autoritäre Agenda verfolgen, wird erstaunlicherweise gerade seitens einiger Insurrektionalist:innen ignoriert. Progressive Forderungen, wie etwa diejenige nach einem besser ausgebauten Gesundheitswesen oder nach mehr staatlichen Hilfen gegen die Auswirkungen der Krise – was die Gruppe Feministischer Lookdown propagiert – sucht man hingegen vergebens.
Die Freiheit des atomisierten Individuums
Beschäftigt sich man sich aber ein bisschen näher mit den Ausführungen unserer Barrikade-Insurrektionalist:nnen, fallen durchaus auch ideologische Überschneidungen mit den rechten Massnahmen-Gegner:innen auf. Beide Seiten stellen die Begriffe «Freiheit» und «Selbstbestimmung» des Individuums in den Mittelpunkt ihrer Politik. Sie hängen dabei einem neoliberal deformierten Freiheitsbegriff an, welcher das Soziale, die gesellschaftlichen Bedingungen völlig negiert. Man findet kein Wort über die Gefahr des Virus, keine Bemerkung zur Notwendigkeit des Infektionsschutzes, keine Empathie gegenüber denen, die daran erkrankt oder gestorben sind.
Die Betonung der Freiheit erfüllt in diesem Fall den Zweck, sich nicht mit der Gesellschaft auseinandersetzen zu müssen und die Verantwortung von sich zu schieben, wie es Klaus Klamm in diesem Magazin bereits ausgeführt hat: «Sie wollen ihre Willkür partout als Freiheit verstanden wissen, weil sie selbst nichts verstehen wollen. Es ist aber keine Freiheit, andere ins Grab zu husten, sondern die Zerstörung der Grundlagen der Freiheit: Mitmenschen, Gesundheitssystem, Solidarität.» Bei Kleinbürger:innen und Rechten ist diese Haltung Kern der politischen Ideologie. Dass sie von gewissen anarchistischen Strömungen übernommen wird, ist zwar nichts Neues, aber doch immer wieder irritierend.
Ein emanzipatorischer Begriff der Freiheit versteht das Individuum als soziales Wesen, dass von anderen Individuen nicht getrennt, sondern unmittelbar mit ihnen verbunden ist. Selbstbestimmung ist nur in einem gesellschaftlichen Zusammenhang möglich, der die herrschende Atomisierung der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft aufhebt. Der Kampf für die Freiheit ist also der Kampf für Solidarität im Sinne der gegenseitigen Hilfe, der kollektiven Selbstorganisation und des Zusammenhaltes der Unterdrückten im Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse.
Impfung ist keine Privatsache
Dieselbe Verwirrung – und damit sind die Autor:innen des Barrikade-Textes leider nicht alleine – zeigt sich auch in der Frage der Impfung. Die individualanarchistischen Autor:innen pochen auf die Freiheit, sich für oder gegen die Impfung zu entscheiden. Aber auch hier muss man fragen: Was soll das für eine Freiheit sein, bei der ein Mensch eine völlig uninformierte Entscheidung nach Bauchgefühl treffen kann (beziehungsweise muss), die sein Umfeld kritiklos hinzunehmen hat?
Die Krux bei der Impfung ist, dass die persönliche Entscheidung Konsequenzen für andere Menschen hat. Infektionskrankheiten zeichnen sich eben genau durch ihren sozialen Charakter aus. Sie sind schnell, leicht und flächendeckend übertragbar. Zu deren Eindämmung braucht es gegenseitige Rücksichtnahme, unter anderem in Form einer Impfung. Sie minimiert das Risiko von Ansteckung, Übertragung und schweren Verläufen. Je geringer die Verbreitung des Virus, desto geringer die Gefahr von neuartigen Mutationen. Insofern ist es völlig legitim, dass eine Debatte darüber stattfindet. Linke sollen gegenüber ihren Freund:innen, Mitbewohner:innen und Genoss:innen Rechenschaft über ihre Impfentscheidung ablegen. Das heisst, dass man innerhalb linker Zusammenhänge eine Entscheidung für oder gegen die Impfung rechtfertigt. Und auch wenn die Impfung kein Allheilmittel ist, spricht nach aktuellem Wissensstand alles dafür: Sie ist sicher, sie ist gratis, sie schützt einen selber und vor allem auch andere und die Nebenwirkungen sind im Vergleich zu einer Covid-Erkrankung vernachlässigbar. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Forderung nach «Entscheidungsfreiheit» primär von denjenigen Personen kommt, die sich nicht impfen lassen und das auch nicht begründen wollen.
Die Impfskepsis ist selten rational begründet, sondern rührt meist von religiösen, esoterischen oder sonstigen antimodernistischen Vorstellungen her. Politische Impfkritik kommt historisch primär von rechts. Darum ist es auch kein Zufall, dass deutschsprachige Regionen die tiefste Impfquote Europas aufweisen. Eine emanzipatorische Linke sollte solchen Vorstellungen mit Aufklärung entgegnen und sie insbesondere da bekämpfen, wo sie sich politisch ausdrückt und die Gesundheit und Selbstbestimmung anderer gefährdet. Dass von Impfgegner:innen die Parole «my body, my choice» zu hören ist, ist also nicht nur zynisch, sondern verdreht die Verhältnisse komplett.
Eine linke Position sollte alle Leute dazu motivieren, sich impfen zu lassen und gleichzeitig einen Zugang zur Corona-Impfung für alle fordern. Das schliesst auch an Kampagnen für internationale Impfgerechtigkeit und Freigabe der Patente an, denn während hierzulande die Booster-Impfung langsam an Fahrt aufnimmt, warten weltweit Millionen von Menschen immer noch auf ihre erste Impfung. Das heisst natürlich auch, die Bedenken der Menschen ernst zu nehmen und in politische Forderungen einfliessen zu lassen. Statt Gratiskonzerte mit abgehalfterten Popsternchen auf dem Bundesplatz würde es sich etwa anbieten, bezahlte Freitage zu fordern, um sich impfen zu lassen und von allfälligen Nebenwirkungen erholen zu können. Auch die Wiedereinführung von Gratis-Tests sollte auf einer linken Agenda stehen, genauso wie die Kritik an der Ökonomisierung des Gesundheitswesens und der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.
Eine solche Position schliesst nicht aus, Proletarisierte, die aus welchen Gründen auch immer nicht geimpft sind, gegen die Angriffe des Staates und der Bosse zu verteidigen, wie die bereits erwähnte Basisgewerkschaft SI Cobas angesichts der Zertifikatspflicht am Arbeitsplatz in Italien betont: «Wir haben von Anfang an die Wichtigkeit von Impfungen hervorgehoben und stellen uns entschlossen gegen Impfverweigerer. Doch wenn sich auf den Arbeitsplätzen nichts ändert, hat die Impfung nur eine minimale Wirkung und wir können nicht akzeptieren, dass nicht geimpfte Leute keinen Lohn erhalten und sich ihre Lebensbedingungen verschlechtern.»
Wissenschaftskritik muss materialistisch sein
Dieses Plädoyer für die Corona-Impfung soll nicht heissen, dass man der Pharmaindustrie, den staatlichen Zulassungsbehörden oder der medizinischen Forschung kritiklos vertrauen sollte. Wissenschaftliche Forschung und pharmazeutische Produktion erfolgen unter kapitalistischen Bedingungen. Sie orientiert sich an der Möglichkeit zur Profitmaximierung und nicht primär an den menschlichen Bedürfnissen. So weit, so banal.
Erkenntnis und Wissen können nicht von den Herrschafts- und Machtstrukturen abstrahiert werden. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen steigern Wissenschaft und Technik die dem Kapitalismus inhärenten Destruktivkräfte. Die moderne Wissenschaft ebnete nicht nur den Weg zur Industrialisierung und der fortschreitenden Beherrschung und Zerstörung der Natur, sondern auch für die barbarischen Kriege des 20. Jahrhunderts. Wissenschaft und Technik unterliegen der «instrumentellen Vernunft» – wie Horkheimer und Adorno sie nannten – das heisst sie sind zweckrational orientiert und zementieren die gegebenen Herrschaftsverhältnisse.
Einer kritischen Auseinandersetzung mit den Wissenschaften geht es nicht nur um die historische und strukturelle Einbettung und um die finanziellen und militärischen Interessen des Wissenschaftsbetriebs, sondern auch um die ideologische und disziplinarische Funktion der Wissenschaft. Viele einschneidende Massnahmen in verschiedenen Ländern, wären nicht so passiv hingenommen worden ohne den scheinbar objektiven Diskurs der Virolog:innen und Epidemolog:innen.
Dennoch ist es falsch, die Ablehnung der Vernunft mit dem Widerstand gegen die Herrschaftsverhältnisse zu verwechseln. Im Gegenteil wohnt der Vernunft auch das Potential der Kritik inne. Eine Kritik an den Wissenschaften, ihren Erkenntnissen und Resultaten muss sich auf ihren Diskurs beziehen. Falsch ist die Annahme, dass jegliche:r Wissenschaftler:in oder jede wissenschaftliche Arbeit oder Diskurs per se falsch oder nutzlos ist. Dasselbe lässt sich auch über die Pharmaindustrie sagen: Trotz berechtigter Kritik an ihrem Gebaren, muss man feststellen, dass sie Medikamente produziert, die für viele Menschen überlebensnotwendig sind oder das Leben massiv erleichtern.
Bereits früher haben wir die anarchistische Wissenschaftsfeindlichkeit kritisiert. Diese hat «mehr mit Verschwörungstheorien gemein als mit Bakunin. Dieser kritisierte zwar die unhinterfragte Autorität und Machtposition der Wissenschaft, gestand aber trotzdem ein, dass es Leute gibt, die in einem bestimmten Gebiet über mehr Wissen und Erfahrung verfügen als andere. Daraus folgt nicht, dass man sich unüberlegt der Expertise eines anderen zu unterwerfen hat, sondern, dass sich die eigene Position in der Auseinandersetzung mit Argumenten und verschiedenen Positionen entwickeln sollte. Eine Haltung, die davon ausgeht, dass alles, was nach institutionalisierter Autorität riecht, per se falsch ist, kann damit nicht begründet werden.»
Es ist unredlich, mit Kritik an Wissenschaft und medizinischer Forschung unter kapitalistischen Bedingungen einen quasi-religiösen Antimodernismus zu legitimieren. Ebenso falsch ist es, durch das Verharmlosen der Pandemie und ihren gesundheitlichen Konsequenzen und mit einem Verweis auf die «Natur des Menschen» dem Sozialdarwinismus das Wort zu reden. Genau dies geschieht jedoch, wenn etwa im Barrikade-Text geraunt wird, dass Menschen durch den Konsum von medizinischen Lösungen den Bezug zum eigenen Körper und zur Natur verlieren würden. Unsere «antiautoritären» Autor:innen sind hoffentlich auch dafür, dass alle Menschen ungeachtet ihrer körperlichen Verfassung ein angenehmes Leben führen können. Da gehört es eben oftmals dazu, dass sie ihrem Körper und der «Natur» immer mal wieder ein Schnippchen schlagen und nicht an jedem Infekt einfach sterben.
Eine emanzipatorische Position will kapitalistische Produktivkräfte, Technologien und Medizin nicht planlos und umfassend zerstören, sondern sie den kapitalistischen Zwängen entziehen und in den Dienst der Menschheit stellen. Natürlich gibt es auch Technologien und Produktivkräfte, die nicht mit einem emanzipatorischen Projekt kongruieren. Doch dort, wo sie das Leben und die (Nicht)-Arbeit der Menschen leichter machen, sind sie sicher begrüssenswert.
Warten auf Godot
Unter Linken war zu Beginn der Pandemie so etwas wie Euphorie zu spüren: Es schien möglich, dass die deutliche Sichtbarmachung der gesellschaftlichen Widersprüche zu einer breiten emanzipatorischen Mobilisierung führen könnte. Daraus wurde bald Lethargie, nur um später der Ohnmacht und der Konfusion den Weg zu ebnen. Kritiklose und affirmative Haltung gegenüber dem Staat und realitätsverdrängender Nihilismus sind dabei zwei Seiten derselben Medaille.
Einige Insurrektionalist:innen scheinen Mühe zu haben, die gesundheitliche Dimension der Pandemie zu verstehen. Verbalradikalismus und religiös aufgeladene Bilder eines Schiffes, dass Richtung Freiheit gelenkt werden muss, die am Horizont als Erlösung erschient, sind mehr als bloss pathetisch – die Analyse dahinter ist regressiv und autoritär, weil das Leben von Menschen ungeniert herabgesetzt wird. Wie ernst soll eine Position genommen werden, die zwar vorgibt eine kritische Haltung gegenüber dem wissenschaftlichen Diskurs und dem Staat einzunehmen, aber keine Perspektive zu bieten hat ausser dem Rückzug auf ein abstraktes Individuum innerhalb einer falschen Freiheit, gekoppelt an die Relativierung oder gar Leugnung der Pandemie?
Global betrachtet ist die momentane Lage vielleicht nur der Auftakt zu widersprüchlichen Zeiten. Der Autoritarismus erscheint in Gestalt der Individualisierung gesellschaftlicher Konflikte. Dadurch wird das Kapitalverhältnis zementiert. Deshalb darf der Autoritarismus nicht bloss auf den Staat reduziert werden, er zeigt sich auch im autoritären Charakter moderner Individuen, in der Pseudorebellion gegen die staatlichen Massnahmen und dem Zynismus einer atomisierten Freiheit. Es ist deshalb notwendig, an denjenigen Ansätzen anzuknüpfen, die die gesundheitliche Dimension der Pandemie ernst nehmen, ohne dabei die ökonomischen, repressiven, politischen und sozialen Verwerfungen gewissermassen als «pandemische Nebenwidersprüche» abzutun.
Es gilt eine kämpferische, solidarische Perspektive und eine Praxis der gegenseitige Hilfe zu entwickeln: Basisarbeit und Strukturen, die nicht nur an die Lebensrealität der Menschen anschliessen, sondern auch eine sichtbare linke und antiautoritäre Position auf die Strasse bringen. Wir werden in zukünftigen Kämpfen solche Strukturen dringend benötigen. Denn auch die postpandemischen Zeiten, werden voller Verwerfungen sein. Sollte so was wie eine Normalität die nächsten Jahre zurückkehren, wird sie von trügerischer Natur und kurzer Dauer sein.
gefunden auf: https://www.ajourmag.ch/covid5/ am 26.11.2021