Die Kinder vom „Nazi-Kiez“ in Bautzen
Sie begrüßen sich mit „Sieg Heil“ und pöbeln gegen Ausländer: In Bautzen ist Rechtsextremismus unter Jugendlichen zum Mainstream geworden. Wie kommt das? Sächsische.de hat mit einigen von ihnen gesprochen.
Der Kornmarkt in Bautzen, er wirkt an diesem verregneten Sonntag im März wie eine kleine Insel, um die Raubfische ihre Kreise ziehen. Die Inselbewohner, das sind rund 200 Menschen, die gegen Rassismus und für Demokratie demonstrieren. Eng zusammengedrängt stehen sie auf dem Platz, tragen bunte Jacken und schwenken Regenbogenfahnen. Die Raubfische, das sind die Jugendlichen, die in den angrenzenden Gassen lauern – ganz in schwarz gekleidet, mit vermummten Gesichtern und Kapuzen.
Wer die Szene beobachtet, der ist schnell geneigt, die Jugendlichen in eine Schublade zu stecken, auf der steht: rechtsextrem. Aber wer mit ihnen spricht, der merkt bald: Unter den Masken stecken ganz unterschiedliche Geschichten. Da gibt es solche, die sofort zuschlagen würden. Solche, die ihre Freunde mit „Sieg Heil“ begrüßen und die Ausländer offenkundig hassen. Andere dagegen sind fast noch Kinder, und manche sprechen reflektiert über Geflüchtete und Menschenrechte.
Sie alle eint, das wird dieser Text zeigen, nicht so sehr die Gesinnung – sondern ein Gefühl von Verlorenheit und der Wunsch, dazuzugehören.
„Das essen die Kanacken“
Fünf Tage vor der Demo sitzt Pauli, die wie alle Personen in diesem Text anders heißt, mit Freunden auf einer Bank im Bautzener Stadtviertel Gesundbrunnen. Die Fenster der Bäckerei gegenüber sind mit Spanplatten vernagelt, hinter der Kauflandfiliale ragen Plattenbauten in den Himmel. Hier – im Ghetto, wie Pauli und ihre Freunde ihr Viertel nennen – wohnen mehr Menschen mit Migrationshintergrund als in anderen Teilen Bautzens. Aber die Fußgängerzone vor dem Kaufland ist auch Treffpunkt der rechten Jugendszene.
Pauli ist 14 Jahre alt und besucht ein Bautzener Gymnasium. Im Sommerurlaub fährt sie mit ihren Eltern an die Ostsee. Und Pauli ist rechts. Sie sagt das mit fester Stimme und klingt dabei ein bisschen stolz. Wegen der vielen Ausländer fühle sie sich hier nicht mehr sicher, sagt sie. Sie ist groß für ihr Alter, sitzt breitbeinig auf der Bank und spuckt immer wieder auf den Boden. Als zwei junge Frauen mit Kopftuch vorbeikommen, ruft Pauli ihnen hinterher: „Ey, die haben meine Gardinen geklaut!“ Ihre Freunde lachen.
Max ist etwas älter als Pauli, ein korpulenter Typ, von Beruf Handwerker. Max bezeichnet sich selbst als Patriot. Er war im Februar beim „Gedenkmarsch“ in Dresden dabei, zu dem sich alljährlich mehrere Hundert Neonazis anlässlich der Bombardierung Dresdens versammeln. Mit dem Schuh scharrt Max ein paar Sonnenblumenkerne neben der Bank zur Seite. „Das essen die Kanacken“, sagt er. Dann holt er sein Handy heraus und zeigt ein Bild von seinem Zimmer. Über dem Bett hängt eine schwarze Fahne, auf der ein Reichsadler mit dem Eisernen Kreuz prangt. Darüber steht in altdeutscher Schrift: Deutschland.
Aber nicht nur im Schlafzimmer von Max werden rechtsextreme Weltbilder zur Normalität. An Türen und Laternen in Bautzen kleben Sticker mit Inhalten wie „Nazikiez“, „Grüne an die Ostfront“ oder „Antifaschismus ist ein Verbrechen“.
Das Medienkollektiv „Balaclava Graphics“, deren Anführer Benjamin Moses ein dem Verfassungsschutz bekannter Rechtsextremist ist, vertreibt neben Grafikdesigns und Fotos seine eigene Klamottenmarke. „The White Race“, also die weiße Rasse, steht in Großbuchstaben auf den Mützen und T-Shirts.
Auch Max trägt so ein T-Shirt. Den Namen Balaclava, das bedeutet Sturmhaube, spricht er beinahe ehrfürchtig aus, und eine Freundin von Pauli sagt leichthin: „Ach ja, von der Marke habe ich auch einen Pullover. Voll teuer war der.“ Die weiße Rasse – ja und? Rassismus und die Glorifizierung des Nationalsozialismus, sie sind zu einem Lifestyle geworden.
An der Schule, das sind „Zeckenlehrer“
Es ist ein Lifestyle, dem man als junger Mensch in Bautzen nur schwer entkommen kann. „Die Jugendlichen hier sehnen sich nach Anerkennung, dem Gefühl, dazuzugehören“, sagt ein Bautzener Sozialarbeiter, der anonym bleiben möchte. „Sie haben das Gefühl, am Arsch der Welt zu leben – alle gehen weg und wer bleibt, hat anscheinend etwas falsch gemacht.“ Im Umland gebe es kaum Freizeitangebote, sagt ein anderer Sozialarbeiter, und auch so gut wie keine pädagogisch geschulten Ansprechpartner, mit denen die Jugendlichen über ihre Probleme reden können. „Viele suchen aber verzweifelt eine Beziehung.“ Was läge da näher, als sich einer Gruppe anzuschließen? Einer, für die es reicht, zusammen gegen etwas sein?
Fünf Tage nach dem Treffen in der Fußgängerzone geht eine in einen regenbogenfarbenen Mantel gehüllte Frau die Straße zur Demo in Bautzen hinauf. Etwa zehn Jugendliche stehen am Rand, aus der Gruppe ist verächtliches Gejohle zu hören. Pauli ist fast nicht zu erkennen unter der schwarzen Kapuze und dem Schal, den sie sich um den Mund gewickelt hat. Neben ihr steht Mascha. „Das da drüben auf der Demo sind alles Zecken“, sagt Mascha, während sie an einem Stromkasten am Rand des Kornmarkts lehnt. Sie ist 17, drei Jahre älter als Pauli und macht gerade eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin. Zecken, erklärt sie, das seien alle, die LGBTQ okay finden. Alle, die für Ausländer sind. Alle, die nicht die AfD wählen. Sternburg ist ein Zeckenbier. An der Schule, das sind Zeckenlehrer. Und die blauen Adidas der Reporterin sind Zeckenschuhe.
Während Mascha erzählt, geben ihr Leute aus ihrer Gruppe deshalb immer wieder Handzeichen, sie solle das Gespräch abbrechen. Aber Mascha will reden. Ihr Mund bewegt sich jetzt schneller unter dem schwarzen Fleecetuch. Sie erzählt davon, wie sie als Kind mit ansehen musste, wie ihrer Mutter Gewalt angetan wurde, wie sie schließlich in ein Heim kam. Dass sie manches, was dort drüben auf der Demo gesagt wird, auch gut findet. Dass eine nahe Verwandte von ihr trans ist, also ihr Geschlecht geändert hat. Und dass sie das überhaupt nicht schlimm findet.
„Bist du dann auch eine Zecke?“, will man da natürlich wissen. „Ja, irgendwie schon“, sagt sie und muss ein bisschen lachen. „Aber in der Gruppe fühle ich mich sicher. Wenn ich diesen Freundeskreis verlassen würde, hätte ich niemanden mehr. Dann müsste ich hier wegziehen.“ Als später jemand sagt, trans zu sein gehe überhaupt nicht, ist Mascha still.
Ihre Freundin Noelle, die gerne Polizistin werden möchte, sagt, alle Ausländer seien scheiße. Fragt man nach, relativiert sie: „Naja, wenn sie sich benehmen und arbeiten, sind sie schon okay.“ Und dann hört man sogar Sätze wie: „Die können ja auch nichts dafür, dass sie flüchten müssen und dann hier nicht arbeiten dürfen.“ Pauli, Mascha und Noelle sind zweifellos empfänglich für rechtes Gedankengut, aber die menschfeindlichen Sprüche, der Ausländerhass? Sie kommen offenbar nicht aus ihrem Herzen.
Aber der Dönermann ist voll nett
Theresa Lehmann forscht an der Amadeu-Antonio-Stiftung zu Rechtsextremismus auf TikTok. Sie sagt: Auf Social Media tummeln sich haufenweise junge Menschen auf der Suche danach, was sie denken und glauben sollen. Doch politische Bildungsangebote und demokratische Parteien sind dort kaum vertreten. Stattdessen sehen sich Jugendliche mit emotional zugespitzten oder falsch dargestellten Inhalten konfrontiert, erklärt Lehmann. Rechtsextreme haben das Potential von Social Media schon früh erkannt. Sie streuen dort gezielt Desinformationen und schüren damit Verunsicherung und Ängste.
Das führt dann zum Beispiel dazu, dass Pauli Dinge sagt wie: „Man muss immer mehr aufpassen, dass man nicht von Ausländern abgestochen wird.“ Sie selbst sei zwar noch nie bedroht worden. Aber einem Bekannten, dem habe neulich ein Migrant die Jacke aufgeschlitzt. Anfang des Jahres machte diese Geschichte tatsächlich die Runde auf Instagram, die AfD brachte das Thema im Bautzener Stadtrat ein. Die Polizei nahm Ermittlungen auf und stellte fest: Die Tat war frei erfunden.
Nach der Demonstration auf dem Kornmarkt sitzt Pauli mit Mascha und Noelle vor einem Dönerrestaurant. „Der Dönermann ist ja auch ein Ausländer, aber der ist voll nett“, sagt Noelle.
Währenddessen erzählt Pauli von sich: wie sie letztes Jahr mit der Klasse im Skilager war und so gut gefahren ist, obwohl es ihr erstes Mal war. Dass sie einmal die Woche Musikunterricht nimmt – vor dem Weihnachtskonzert hat sie nächtelang geübt, weil sie ein Solo spielen durfte. „Meine Eltern waren komplett stolz“, erinnert sich Pauli, und es ist eines der wenigen Male, dass man sie lächeln sieht.
Zwei vermummte junge Männer kommen dazu, einer von ihnen begrüßt die Gruppe in lockerem Ton mit „Sieg Heil, Kameraden!“ Fragt man ihn, warum er das sagt, antwortet er: „Willst du dich schnicken?“ Schnicken, das heißt „sich schlagen“, und er ist an diesem Tag nicht der Einzige, der damit droht. Fast alle in der Gruppe trainieren Boxen oder eine andere Kampfsportart.
Auch Pauli denkt darüber nach, aber sie hat keinen Bock auf die Kämpfe. „Wäre ja voll peinlich, wenn ich verliere.“
Mascha, immer noch vermummt, schiebt dafür ihr Handy über den Tisch und zeigt ein Video, wie sie übt. Man sieht eine zierliche junge Frau, dunkle, schulterlange Haare und ein fröhliches Gesicht. Deckung, Deckung, zuschlagen. Alle in der Gruppe erzählen, dass sie schon mal Opfer von körperlicher Gewalt wurden oder selbst jemanden geschlagen haben. Nachprüfen lässt sich das nicht. Aber auch Mascha wird Drohungen erhalten, weil sie mit den Autoren dieses Textes gesprochen hat.
Die Stimmung kippt in Sekundenschnelle
Eine halbe Stunde später bricht die Sonne durch die Wolken und taucht den Bahnhof Bautzen in warmes Abendlicht. Familien stehen am Bahnsteig mit ihren Kindern, Frauen mit Aktentaschen, ein Mann hält einen Blumenstrauß. Für einen Moment ist Bautzen wieder nur eine beschauliche deutsche Kleinstadt.
Dann strömen schwarzgekleidete Jugendliche auf den Bahnsteig. Die jüngsten sind kaum älter als zwölf, andere fast erwachsen. Vier Polizisten stellen sich schützend vor die zwei Antifa-Aktivisten, eine junge Frau und ein Mann, die vorher auf der Demo waren. Die Stimmung auf dem kleinen Bahnhof kippt in Sekundenschnelle. Einer der schwarz Vermummten macht einen Schritt nach vorne, eine junge Polizistin stellt sich ihm in den Weg. Dann kommt der Zug Richtung Görlitz. Als er wieder abgefahren ist, steht die junge Frau von der Antifa allein auf dem Bahnsteig.
Die vier Polizisten eskortieren sie durch die Unterführung zwischen den beiden Gleisen und die Treppe auf der anderen Seite hinauf. Die junge Frau geht in ihrer Mitte und hält sich ein Tuch fest vor ihr Gesicht, den Blick auf den Boden gerichtet. Zu beiden Seiten des Treppenaufgangs steht jetzt ein schwarzer Pulk, knapp dreißig vermummte Gesichter starren die Frau an. Niemand sagt ein Wort. Die Situation wirkt so bedrohlich, so surreal, dass es einem kalt den Rücken herunterläuft.
Irgendwo in dem schwarzen Pulk stehen auch Pauli, Mascha und Noelle. Pauli, die eben noch erzählte, wie sie beim Weihnachtskonzert ein Solo spielte. Mascha, die angehende Rettungssanitäterin, die vorhin so reflektiert über Trans-Sein gesprochen hat. Noelle, die davon träumt, Polizistin zu werden.
Unter der schwarzen Kapuze ist von alldem nichts zu sehen. Die drei jungen Frauen stehen Schulter an Schulter mit gewaltbereiten Neonazis.