Das Konzept der Kulturellen Aneignung – eine Kritik des Rassismus auf seinen eigenen Grundlagen
In den letzten Jahren wurde in einigen antirassistischen Kreisen eine neue Form von Rassismus kritisiert, die Kulturelle Aneignung. Die entdecken sie immer dort, wo Angehörige einer Gruppe kulturelle Hervorbringungen (z.B. bestimmte kulturelle Bräuche, Frisuren, Kleidungsstücke,…) übernehmen, die nach Ansicht der Verfechter*innen des Konzepts der Kulturellen Aneignung von anderen Gruppen stammen, und zwar solchen, die gegenüber der übernehmenden Gruppe aufgrund rassistischer Diskriminierung weniger Macht haben. In der Kritik von Kultureller Aneignung wird ein Respekt vor diesen Kulturen eingefordert. Dieser Respekt soll dann zur Bekämpfung rassistischer Diskriminierung beitragen.
So wurde kritisiert, dass eine nicht-indigene Künstlerin in Kanada Elemente indigener Kunst in ihre Kunstwerke integriert hat.1 Auch wenn „weiße“2 Menschen Dreadlocks tragen oder sich gegenseitig mit Farbpulver bewerfen (eine Praxis, die durch das indische Holi-Fest inspiriert ist), wird das als Kulturelle Aneignung kritisiert.
Der Ausgangspunkt der Kritik an Kultureller Aneignung mag in Einzelfällen verständlich sein. Wenn die Trendscouts großer Modeunternehmen irgendwelche Stickmuster von Communities aus Mexiko3 als das nächste große Ding entdecken, ist es verständlich, wenn Leute angesichts des Geldes, das damit verdient wird, und der Armut in diesen Communities ein komisches Gefühl haben. Dieses komische Gefühl können wir nachvollziehen, die Schlüsse, die Kritiker*innen der Kulturellen Aneignung aus diesem Gefühl folgen, teilen wir in vielen Fällen nicht. Dieser Text setzt sich mit einigen aus unserer Sicht falschen Argumenten auseinander.
Der Gedanke einer Kulturellen Aneignung ist aus mehreren Gründen problematisch. Er geht davon aus, dass es Menschengruppen gibt, die ganz wesentlich durch ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur definiert sind. Dieser Gedanke funktioniert nur, wenn die einer Gruppe zugeschriebene Kultur, also die Gesamtheit von Musik, bestimmten Speisen, Kleidung, Festen und anderen Praktiken, als homogenes Ganzes gesehen wird. Nähme mensch nämlich die auch innerhalb einer Gruppe vorhandenen Unterschiede wahr und ernst, dann könnte von „der Kultur“ einer Gruppe nicht mehr die Rede sein. Ausgehend von dieser Konstruktion einer zu einer bestimmten Menschengruppe gehörigen einheitlichen Kultur wird dann den Angehörigen dieser Gruppe eine Art Eigentumsrecht daran zugesprochen. Als Konsequenz soll dann z.B. das Werfen mit Farbpulver den Angehörigen einer „privilegierten“4 Gruppe nur mit Zustimmung der „Urhebergruppe“ erlaubt sein. Die damit verbundene Anerkennung und ggf. auch eine materielle Kompensation sollen den betroffenen Menschen helfen.
Unsere These ist, dass das Konzept der Kulturellen Aneignung für dieses Ziel der Abschaffung des Rassismus nicht dienlich, sondern vielmehr hinderlich ist. Wir denken, dass die Vorstellung einer Kulturellen Aneignung erstens auf verkehrten Vorstellungen von Kultur beruht, und zweitens eine wesentliche geistige Grundlage des Rassismus – ungewollt – bejaht und fördert. Deswegen erweist das Konzept der Kulturellen Aneignung rassistisch diskriminierten Menschen einen Bärendienst, anstatt ihnen zu helfen. Dieses Konzept kritisiert den Rassismus nicht, sondern bestätigt und bestärkt seine Grundlagen. Das wollen wir in diesem Text begründen.
Dieser Text beschäftigt sich nicht mit der Frage, wie mit Kulturgütern nicht-europäischer Kulturen umgegangen wird, die ihren Weg in europäische Sammlungen gefunden haben, z.B. mit den Benin-Bronzen5. Dort geht es um den Umgang mit materiellen Gegenständen, die sich tatsächlich nur an einer Stelle befinden können. Er diskutiert auch nicht die Frage, inwieweit z.B. das Tragen von „Indianer“kostümen (was auch häufig als Kulturelle Aneignung bezeichnet wird) oder das sogenannte Blackfacing rassistische Klischees reproduzieren und deswegen problematisch sein könnten. Alles interessante Themen, die ein andermal diskutiert werden sollen.
Auch wenn klar ist, dass für die Kritiker*innen der Kulturellen Aneignung, die Kulturelle Aneignung eine Form von Rassismus ist, kritisieren wir hier nicht das dahinterstehende Rassismuskonzept. Stattdessen beschränken wir uns darauf, das Verständnis von Kultur und Volk kritisch unter die Lupe zu nehmen.
1. Geistiges Eigentum
Wie bereits oben angemerkt, basiert die Kritik an Kultureller Aneignung auf dem Gedanken, dass Kleidungsstile, Musik oder Bräuche Eigentum einer bestimmten Menschengruppe seien. Nur unter dieser Voraussetzung kommt mensch auf die Idee, dass ihre unerlaubte Übernahme eine Art Diebstahl sei. Es wird also ein geistiges Eigentum behauptet, ganz ähnlich wie es als Urheberrecht für Software bzw. Filme oder als Patent für technische Erfindungen bereits existiert.
Denn eines ist mexikanischen Stickmustern, Hollywood-Filmen, Software und technischen Erfindungen gemein: Es handelt sich immer um immaterielle Produkte. Die haben die Eigenschaft, sich durch Benutzung und Verbreitung nicht zu verbrauchen. Im Gegenteil: Sie vermehren sich dadurch. Wenn ein Computerprogramm kopiert wird, kann es gleichzeitig von mehr Menschen genutzt werden. Wenn nun ein Modeunternehmen Muster herstellt, die durch traditionelle Vorbilder inspiriert sind, können mehr Menschen entsprechende Kleidung tragen. Was an diesen erweiterten Möglichkeiten verkehrt sein soll, erschließt sich uns nicht. Dass es diese erweiterten Konsummöglichkeiten nur weil und solange gibt wie kapitalistische Unternehmen damit einen Gewinn erzielen können, unterscheidet die Produktion mexikanisch inspirierter Stickmuster nicht von der Herstellung Nürnberger Lebkuchen. Und das ist tatsächlich zu kritisieren.
In vielen Fällen stören sich (vor allem) Linke an dem Ausschluss, der durch geistiges Eigentum bewirkt wird. Patente, insbesondere Patente auf Arzneimittel, beschränken den Zugang zu den durch Patenten geschützten Produkten, weil sich die einzelnen Menschen bzw. die Gesundheitssysteme in vielen Ländern die durch die Lizenzgebühren verteuerten Preise nicht leisten können. Das kann im Fall von Medikamenten, z.B. gegen HIV, mitunter tödliche Folgen haben. Auch das Urheberrecht auf Software genießt absolut zu Recht nicht den besten Ruf, weswegen freie Software als Alternative propagiert wird.
Wer ein geistiges Eigentum marginalisierter Communities an ihren kulturellen Hervorbringungen fordert, sollte zumindest überlegen, ob er*sie das Urheber- und Patentrecht genauso toll findet und wo der Unterschied zwischen diesen Formen geistigen Eigentums liegen soll. In allen Fällen werden ja durch die Definition eines immateriellen Produkts als Eigentum Menschen von seiner Nutzung ausgeschlossen. Das ist zunächst ein schädlicher Umgang mit Wissen, der aber ganz in der Logik des Kapitalismus liegt: Erst der Ausschluss anderer von dem, was sie benötigen oder gerne haben möchten, ermöglicht ein Geschäft damit. Microsoft macht mit Software-Lizenzen das gleiche Geschäft wie es nach Ansicht wohlmeinender Beobachter*innen mexikanische Communities mit ihren Stickmustern möglich sein soll. Die gleiche Art von Geschäft nur deswegen anders zu bewerten, weil die Akteure unterschiedlich groß sind oder unterschiedlich viel Geld haben, verkennt das schädliche Prinzip dem Kleinunternehmer*innen wie Großkonzerne folgen: mit ihrem Eigentum möglichst viel Geld zu verdienen.
Bei anderen gerne aufgeführten Beispielen Kultureller Aneignung werden nicht nur diejenigen kritisiert, die die Produkte verkaufen, sondern auch diejenigen, die sie nutzen. Für letztere fehlt es von vornherein schon am materiellen Nutzen der „Aneigner*innen“. Wenn Leute sich – inspiriert durch das indische Holi-Fest – gegenseitig mit Farbpulver bewerfen, dann machen sie das aus Spaß oder wegen der schönen Fotos, die mensch dabei machen kann. Geld verdienen sie damit keines. Und wie oben dargelegt, nehmen sie auch niemandem materiell etwas weg.
2. Wo Eigentum, da auch Eigentümer*innen
Wirklich problematisch wird der Gedanke von kulturellen Produkten als geistigem Eigentum aber in anderer Hinsicht: Eigentum bedeutet die ausschließliche Zuordnung einer Sache oder eines Rechts zu einer Person (oder einer definierten Gruppe), die dann Trägerin des Eigentums ist, also Eigentümerin.6
Wer darf denn dem Modeunternehmen die Benutzung der traditionellen mexikanischen Muster erlauben? Die einzelne Näher*in, die die entsprechenden Techniken beherrscht? Müssen alle Näher*innen zustimmen? Oder nur eine (eventuell qualifizierte) Mehrheit? Oder gleich die ganze Community? Und wer wäre das? Nur die, die dort wohnen, wo diese Tradition praktiziert wird? Oder auch die, die seit drei Generationen in einer US-amerikanischen Großstadt leben und mit dem Herkunftsort ihrer Urgroßeltern nichts mehr am Hut haben?
Hier wird deutlich, dass die Vorstellung von Communities als Eigentümer*innen geistiger Produkte auf einem folgenschweren Fehler basiert: Es werden Gruppen konstruiert, die angeblich durch mehr verbunden sind als durch den Umstand, dass sie in einem bestimmten Gebiet leben und dort in irgendeiner Form in einem sozialen Zusammenhang stehen. Das könnte man über die Kreuzberger*innen oder Kopenhagener*innen ja auch sagen. Hier wird eine (angeblich) geteilte Kultur zu dem Merkmal erklärt, das die Gruppe konstituiert.7 Dieser Gedanke ist nicht mehr weit von der Vorstellung entfernt, kulturelle Besonderheiten würden Völker konstituieren, und nicht die staatliche Herrschaft, die definiert wer zum Volk gehört, und dieses mit Gewalt zusammenhält.8 Wenn jemand behaupten würde Bach, Kommaregeln und Sauerkraut würden das deutsche Volk ausmachen, hätten vermutlich auch die Vertreter*innen des Konzepts der Kulturellen Aneignung ein ungutes Gefühl. Bei traditionellen Gemeinschaften hingegen fällt ihnen nichts auf, wenn sie sich diese als Subjekte mit eigenen Rechten vorstellen. Beides folgt aber der gleichen Logik: Anhand tatsächlicher oder behaupteter Gemeinsamkeiten in Küche, Sprache, Musik etc. wird die Homogenität einer Gruppe behauptet (dazu im nächsten Abschnitt mehr). Diese Gemeinsamkeiten sollen die Gruppe ausmachen. Und diese Gruppe soll dann bestimmte Sonderrechte an den ihr zugeschriebenen geistigen Produkten erhalten.9
Wer in der oben beschriebenen Weise eine indigene Community zu einer abgrenzbaren Gruppe mit eigenen Rechten erklärt, nimmt dieselbe Unterteilung vor, die auch im Rassismus erfolgt. Der Unterschied liegt nur darin, dass der Rassismus die unterdrückte Gruppe als minderwertig oder zumindest nicht zur Mehrheitsgesellschaft zugehörig betrachtet und ausgrenzen will, während die Vertreter*innen des Konzepts der Kulturellen Aneignung die Gruppe durch Gewährung bestimmter Sonderrechte schützen wollen. Die Vertreter*innen des Konzepts der Kulturellen Aneignung betonen dabei immer, dass diese Sonderrechte wegen des bestehenden Machtungleichgewichts zwischen Mehrheitsgesellschaft und unterdrückter Gruppe notwendig seien. Sie sehen darin den Weg zu einer Welt, in der die verschiedenen Gruppen in respektvoller Eintracht zusammenleben, anstatt einander zu bekämpfen.
Leider hat diese schöne Vorstellung den Haken, dass mit der Definition von „Anderen“, die irgendwie besonders sind, der Übergang zur Hierarchisierung immer auch nahegelegt ist. Ihre Wurzel hat die Vorstellung von Gruppen, die durch eine gemeinsame Kultur verbunden sind, nämlich im Patriotismus. Diese Welt ist in Staaten eingeteilt, die durch ihr Staatsbürgerschaftsrecht jeweils ganz praktisch für sich definieren, wer Deutsche*r, Nigerianer*in oder Chines*in ist. Der Patriotismus dreht diese Realität gedanklich um: Er behauptet, dass die von den Staaten durch ihr Recht – und mit viel Gewalt – hergestellten Staatsbürger*innenkollektive auch schon vor der Gründung der betreffenden Staaten existierten und die Staaten deswegen nur Ausdruck und Vollstrecker einer auch ohne ihre Tätigkeit bestehenden Gemeinsamkeit seien. Diese Sortierung muss nicht deckungsgleich mit den bestehenden Staatsgrenzen sein. So kann jemand auch außerhalb der Staatsgrenzen Angehörige des „eigenen“ Volks entdecken, die durch Neuziehung der Staatsgrenzen „heimgeholt“ werden müssen. Umgekehrt, können z.B. Bask*innen im Widerspruch zur offiziellen spanischen Politik, die sie als Spanier*innen in Beschlag nimmt, darauf bestehen, dass sie ein eigenes Volk sind und deswegen einen eigenen Staat brauchen.
Von der Vorstellung, dass die Gemeinsamkeit biologischer Art sei, ist der moderne Patriotismus abgekommen. Stattdessen werden im Normalfall eine gemeinsame Sprache, Geschichte und kulturelle Besonderheiten als angeblich das Volk konstituierende Eigenschaften behauptet. Welche Gemeinsamkeiten Patriot*innen nun als typisch deutsch oder argentinisch entdeckt haben wollen, ist dabei relativ egal. Mit dem Gedanken an eine unabhängig vom Staat existierende Volkseinheit wird der Staat zum Dienstleister verfabelt, der es einem Volk ermögliche, gemäß seiner immer schon bestehenden Besonderheiten zu leben.
Mit der Behauptung, die Staatsangehörigen seien durch bestimmte Gemeinsamkeiten gekennzeichnet, ist aber eines immer schon geleistet: Diejenigen, denen diese Eigenschaften abgesprochen werden, können und werden immer wieder auch als nicht zugehörig markiert. Wen genau das trifft und mit welchen Folgen, hängt dann von der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Situation ab.
Die Kritiker*innen der Kulturellen Aneignung erkennen die Abwertung bestimmter Bevölkerungsgruppen. Sie kritisieren aber nicht die Vorstellung von wesensmäßig unterschiedenen Bevölkerungsgruppen als den geistigen Ausgangspunkt rassistischer Abwertungen10, sondern wollen die Sortierung als positive Grundlage ihrer antirassistisch gemeinten Politik machen. Es stört sie nicht, dass es eine Sortierung in („Volks“)gruppen gibt, sondern nur, dass einige davon dabei schlecht wegkommen. Ihr Gegenmittel ist ganz viel Respekt für die unterdrückten Gruppen und ihre kulturellen Hervorbringungen.
Wir halten dieses politische Programm für theoretisch verkehrt und praktisch schädlich. Es unterscheidet sich nämlich in seinen Grundannahmen nicht vom gängigen Patriotismus/Rassismus, der auch ganz viele durch ihre je eigene Kultur charakterisierte Völkerschaften kennt. Deswegen trifft die nachfolgende Kritik nicht nur das Konzept der Kulturellen Aneignung, sondern auch den gängigen Patriotismus und Rassismus, gegen den sich die Kritiker*innen der Kulturellen Aneignung wenden.
Nachtrag und Exkurs: unheiteres Unterdrückungsquartett
Die Übernahme Kultureller Hervorbringungen soll nur dann verwerflich sein, wenn sie zwischen Gruppen mit unterschiedlicher Macht erfolgt. Den Gedanken ernst genommen, folgt daraus ein Unterdrückungsquartett: Wenn nur in Zusammenhang mit einem Machtgefälle von Kultureller Aneignung gesprochen werden kann, muss geklärt werden, welche Gruppe stärker diskriminiert wird als die andere. „Schwarze“ schlimmer als Asiat*innen? Und wo sortieren sich dann Türk*innen oder Jüd*innen ein? Will mensch wirklich anfangen, verschiedene Formen rassistischer Diskriminierung, die jeweils auf ihre eigene Weise brutal sind, in eine Rangfolge zu bringen?
Die Einordnung der verschiedenen Gruppen in eine rassistische Hierarchie ist natürlich auch von Land zu Land unterschiedlich und ändert sich mit der Zeit. Darf ein „Schwarzer“ also Buddha-Figuren im Vorgarten aufstellen und eine Chinesin Dreadlocks tragen? Und macht es dabei einen Unterschied, ob sich die Chinesin gerade in Deutschland oder den USA befindet, wo sie potentiell rassistisch diskriminiert wird, oder ob sie in China als Teil der Mehrheitsgesellschaft lebt? Gerade am letzten Beispiel wird deutlich, wohin die Bewertung von Verhalten anhand von Machtungleichgewichten führt. Dieselbe Frisur bei derselben Person wird durch einen Flug von zehn oder zwölf Stunden Dauer potentiell zu Kultureller Aneignung.
3. Kultur als angeblich homogene und abgrenzbare Sache
Zentral für das Thema der Kulturellen Aneignung ist der Bezug auf eine angebliche Kultur marginalisierter Gruppen, wie auch immer diese Kultur im jeweiligen Fall definiert wird. Dem liegen äußerst zweifelhafte Annahmen über Kultur überhaupt zugrunde, teils implizit, in den meisten Fällen aber auch ganz explizit. Wenn von der Kultur einer marginalisierten Gruppe gesprochen wird, dann ist damit unterstellt, dass diese Gruppe die entsprechenden Eigenheiten ganz aus sich selbst hervorgebracht hat. Dieser Gedanke ignoriert, dass sich (von extremen Ausnahmen abgesehen) kulturelle Praktiken immer durch Austausch und Übernahme weiterentwickeln (3.1). Zusätzlich enthält dieser Gedanke die Vorstellung, dass kulturelle Praktiken und Vorlieben eine Gruppe als Ganzes kennzeichnen, dass sie also Ausdruck der spezifischen Identität der Gruppe seien und deswegen von praktisch allen Gruppenmitgliedern geteilt würden (3.2). Die Kritik an der Kulturellen Aneignung beruht auf der Idee, dass im antirassistischen Kampf schon viel gewonnen wäre, wenn nur die marginalisierten Gruppen mit Respekt behandelt würden. Daher folgt aus der Vorstellung einer Kultur, die für die Identität einer marginalisierten Gruppen wichtig sei, die Forderung nach Respekt für diese Kultur, ganz unabhängig davon, ob die entsprechenden kulturellen Praktiken besonders klug oder sympathisch sind (3.3). Diese Vorstellung von verschiedenen Gruppen, die durch ihre je eigene Kultur gekennzeichnet seien, verbunden mit der Forderung nach dem unbedingten Erhalt dieser Kulturen findet sich als Ethnopluralismus auch bei politischen Strömungen, mit denen Antirassist*innen wohl nicht viel zu tun haben möchten (3.4).
3.1: Kultur sei autochthon und bewahrenswert
Der Gedanke einer Übereinstimmung von Gruppe und ihrer ganz spezifischen Kultur betrachtet Kultur als etwas, das von der Gruppe ganz alleine nur aus sich selbst heraus hervorgebracht wird. Das ignoriert, dass es derartige Kulturen allerhöchstens in Menschengruppen gibt, die wenigstens seit etlichen Jahrhunderten von jedem Austausch mit dem Rest der Welt ausgeschlossen waren, z.B. auf abgelegenen Inseln. Ansonsten entwickeln sich die Gewohnheiten und Gebräuche in einer Gesellschaft (also das, was gemeinhin unter Kultur verstanden wird) immer auch dadurch, dass Menschen Einflüssen von „außen“ ausgesetzt sind und diese in irgendeiner Form in ihr Leben integrieren, modifizieren und weiter entwickeln.
Aus Sicht der Verfechter*in der zuvor in der gesamten Gruppe angeblich bestehenden Lebensgewohnheiten ist die Aufnahme neuer Einflüsse oder die Veränderung bestehender Praktiken immer ein Verlust oder eine Verfälschung der Tradition. Tradition ist ja nichts anderes als das Kürzel für „So ist es halt bisher immer gemacht worden“. Dabei ist das „immer“ bereits eine ideologische Konstruktion, weil auch die bisherigen Verhaltensweisen nicht praktiziert wurden, seit die Vorfahren der Menschen von den Bäumen gestiegen sind. Die Behauptung einer „schon immer“ bestehenden Praxis taucht typischerweise dann auf, wenn jemand einen Zustand, der ihm*ihr gefällt, bedroht sieht. Die Behauptung des „schon immer“ soll aus Sicht der Sprecher*in dafür stehen, dass dieser Zustand auch nicht verändert werden soll.11
Da wird dann schnell aus einer Entwicklung, die eigentlich erst wenige Jahrzehnte alt ist, eine quasi ewige Tradition. So ist das, was heute für die jeweilige deutsche oder österreichische Region als typische „Tracht“ gilt, kein Ergebnis jahrhundertealter Tradition, sondern eine eher neue Erfindung.12 In diesen erfundenen Trachten sollte ein deutscher Volkscharakter zum Ausdruck kommen. Diese Behauptung einer altehrwürdigen Tradition soll einen Anspruch an die Leute begründen: Sie sollen sich auch entsprechend verhalten und sich in die Gemeinschaft, die diese Kultur hervorgebracht hat und sie trägt, einfügen und sich mit ihr identifizieren.
Beim Lob der Kultur wird auch gerne übersehen, dass ein großer Teil der Verhaltensweisen und Gewohnheiten Produkt von Herrschaft sind. Religionen z.B. setzen sich in den meisten Fällen nicht durch einfache Überzeugungsarbeit durch, sondern werden durch eine Obrigkeit durchgesetzt, indem sie andere Glaubensrichtungen diskriminiert oder gar verbietet.13 Auf der Grundlage entstehen dann Volksbräuche mit all den dazugehörigen Festen und Gewohnheiten bis hin zu bestimmten Bekleidungen. Die Durchsetzung einer bestimmten Sprache und eines Bestandes an literarischen Werken, der als „typisch“ gilt, ist zumindest deutlich einfacher, wenn eine Herrschaft das durch ihr Bildungswesen fördert. Andere Gebräuche entwickeln sich als Versuch, mit den Härten der Herrschaft in irgendeiner Form zurechtzukommen. Auch wenn mensch versuchen kann, da irgendeinen Widerstandswillen hineinzulesen, bleibt es dabei, dass die entsprechenden Gewohnheiten und Praktiken nicht frei gewählt wurden, sondern unter den Bedingungen von Zwang und Mangel entstanden. Diese autochthone Kultur soll dann auch besonders bewahrenswert sein:
„Abgesehen davon, dass ‚Cultural Appropriation‘ von Angehörigen der Gruppe schlicht als respektlos empfunden werden kann, kann sie auch dazu führen, dass Traditionen verloren gehen oder verfälscht werden.“ 14
Eine „reine“ und „unverfälschte“ Kultur in dem Sinne gibt es deswegen – von den oben erwähnten Ausnahmen abgesehen – nie und nirgendwo. Und warum sollte sie auch erstrebenswert und besonders schutzwürdig sein? Viel sinnvoller wäre es doch, die eigenen Lebensgewohnheiten vernünftig und nach eigenen Bedürfnissen zu verändern und dabei auch von anderen zu lernen.
Anmerkung zum Kulturaustausch:
Die Betonung der Frage, inwieweit der Kulturaustausch „auf Augenhöhe“ stattfindet oder im Rahmen eines Machtungleichgewichts geht an der Sache vorbei. Die Thematisierung dieser Frage ignoriert den Umstand, dass der Kulturaustausch in den letzten paar tausend Jahren in einer Welt stattfand, die durch die Konkurrenz verschiedener Herrschaften, häufig in kriegerischer Form, geprägt war. Da dürfte als Grundlage für so ziemlich jeden Akt des kulturellen Austauschs ein Machtverhältnis festzustellen sein. Das war so und wird auch solange so bleiben, wie die Gründe für die Machtverhältnisse existieren: eine Konkurrenz von Herrschaften um Land, Leute und Reichtum. Auch der friedlich-schiedliche Handel setzt im Regelfall geklärte Machtverhältnisse voraus und basiert in vielen Fällen auf deutlichen wirtschaftlichen und militärischen Machtungleichgewichten. In so einer Welt ist es ein absurdes Reinheitsgebot, die einzelne Übernahme kultureller Hervorbringungen nur zu akzeptieren, wenn sie auf Grundlage gleicher Möglichkeiten stattfindet. Eine Welt ohne derartige Macht- und Gewaltverhältnisse einzurichten, wäre da schon das sinnvollere Ziel. Dazu tragen aber die Fragen, die bei der Debatte über Kulturelle Aneignung gewälzt werden, leider nichts bei.
3.2: Kultur sei homogen und es gebe eine Übereinstimmung von Gruppe und Kultur
Wenn von einer Kultur einer marginalisierten Gruppe gesprochen wird, dann ist damit einiges unterstellt. Die Bestandteile dieser Kultur sollen angeblich nicht nur häufiger gemeinsam auftreten, sondern einen notwendigen inneren Zusammenhang haben und allen Angehörigen einer bestimmten Gruppe gemein sein. Es soll also ein Zusammenhang bestehen z.B. zwischen bestimmten Bekleidungsstilen und Tänzen, der sich nicht darin erschöpft, dass viele Menschen derselben Gruppe beides pflegen. Vielmehr sollen diese Elemente nur Äußerungen einer Kultur sein, die sich in den Trachten und Tänzen ausdrückt. Und diese Kultur wird dann allen Mitgliedern der Gruppe als geteilte Eigenschaft zugeschrieben.
Das Faktum lässt sich ja auch nicht bestreiten: In bestimmten Regionen oder innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Gruppen gibt es empirische Häufungen von bestimmten Verhaltensweisen. So findet mensch in einer Region viele Leute, die auf eine bestimmte Art tanzen, die mensch woanders nicht findet. Und Menschen, die auf diese Art tanzen, begehen häufig auch bestimmte Feiertage und kleiden sich oft auf eine bestimmte Weise.
Allerdings sind es nie alle Mitglieder einer Gruppe, für die das zutrifft. Einzelne finden die Tänze vielleicht total nervig (oder haben überhaupt kein Rhythmusgefühl), andere finden den Kleidungsstil unpraktisch und hässlich und wieder andere mögen die Bekleidung zwar, können sie aber nicht herstellen. Wenn von „der Kultur“ einer Gruppe die Rede ist, dann wird aber davon abgesehen und die entsprechenden Bräuche und Praktiken werden allen Mitgliedern zugeschrieben. Und dabei werden völlig disparate Dinge wie kulinarische Vorlieben, Hochzeitstraditionen, Handwerk etc. zu einer Einheit verdinglicht.
Diese Ignoranz gegenüber den tatsächlich erkennbaren Unterschieden innerhalb der Gruppe und dem Umstand, dass die einer Kultur zugerechneten Praktiken gar keinen inneren Zusammenhang haben, ist kein bloßer Irrtum. Diese Ignoranz zielt vielmehr auf einen verkehrten Übergang ab: Die einzelnen Verhaltensweisen und Bräuche werden als bloße Ausdrucksformen einer angeblich gemeinsamen Kultur gesehen, der sie entspringen. In den Vorlieben für Schweinshaxe und Lederhose soll sich so eine dahinter stehende „bayrische Kultur“ ausdrücken, zu der dann auch der Schuhplattler gehört. Aber ein Bayer kann durchaus gerne Lederhosen tragen und Schweinshaxe essen, Schuhplattler aber hassen.
Diese gemeinsame Kultur, die angeblich hinter den einzelnen Bräuchen und Verhaltensweisen steht, soll dann die Bayer*in ausmachen. So wird eine über eine angeblich homogene und von allen Gruppenmitgliedern geteilte Kultur eine Volksgruppe konstruiert. Dabei schadet es dieser Vorstellung auch nicht, dass keineswegs jeder Mann in Bayern gerne Lederhosen trägt und Schweinshaxe mag. Wenn diese Vorlieben als bloßer Ausdruck eines bayrischen Volkscharakters gedacht werden, dann muss gar nicht jeder empirisch vorfindliche Bayer sie teilen. Wer einen Menschen gedanklich als Bayer*in einsortiert hat, wird an dieser Person schon ein anderes Merkmal finden, von dem sich sagen lässt: „typisch bayrisch!“.
Gleichzeitig können diese Zuschreibungen von Kultur zu einer Gruppe Menschen dann auch in diesen Zuschreibungen „einsperren“ – sie müssen und/oder wollen versuchen die kulturellen Praxen auch (gut) auszuüben, um wirklich zur Gruppe zu gehören. Wenn das nicht gelingt, kann auch schon mal das Urteil fällig sein, dass sie ja keine „richtigen“ Bayer*innen seien.
„Die“ Kultur einer bestimmten Gruppe ist also höchstens eine übertriebene Verallgemeinerung von bestimmten statistischen Häufungen. Und der Zweck, von „der Kultur“ zu reden, ist ein ideologischer: Menschen soll über die angeblich geteilte Kultur eine Gruppenzugehörigkeit zugeschrieben werden. Mit dieser Gruppenzugehörigkeit hätten diese Menschen auch bestimmte Eigenschaften gemein, also ein ganz spezifisches Wesen. Kurz gesagt: „so sind diese Leute eben“. Diese Gruppenzugehörigkeit samt dem angeblichen Wesenskern soll ihrerseits einen Anspruch auf diese Menschen als Mittel für ein politisches oder gesellschaftliches Programm begründen15.
3.3: Traditionelle Kultur sei gut und müsse respektiert werden
Der Vorwurf der Kulturellen Aneignung enthält den Vorwurf des fehlenden Respekts vor den Kulturen marginalisierter Gruppen. Cultural Appropiation, also die gedankenlose und eigennützige Aneignung, bei der der Wert bestimmter Kulturen nicht respektiert wird, soll nicht sein:
„Kulturelle Aneignung ist also stark vom eigennützigen und rücksichtslosen Vorgehen einer ausgegrenzten16 Kultur geprägt. Bewirft man sich gegenseitig mit Farbpulver, nur um etliche Fotos davon für Instagram zu machen – oder kennt und achtet man den Hintergrund des heiligen Festes aus Indien, bei dem sich Menschen verschiedenster Gesellschaftsschichten mit geweihten (!) Farben bewerfen?“17
Das Gegenbild ist die Cultural Appreciation, bei der ein intensiver Dialog „mit der betroffenen marginalisierten Kultur“18 geführt wird und der Kontext respektiert wird. Das Ziel der Kritiker*innen der Kulturellen Aneignung ist also ein respektvolles und gleichberechtigtes Zusammenleben der verschiedenen „Kulturen“. Wenn „Kultur“ als Ausfluss des Wesens eines bestimmten Menschenschlages gesehen wird, hat diese Forderung ihre verkehrte Logik: Wenn ich den Ausdruck des Wesens eines Menschenschlags nicht respektiere, respektiere ich auch den Menschenschlag nicht. Ich verachte also seine Mitglieder. Weil die Kritiker*innen der Kulturellen Aneignung nicht zwischen Verhaltensweisen/Bräuchen („Kultur“) und ihren Träger*innen trennen, ist die „Kultur“ einer marginalisierten Gruppe nicht mehr zu kritisieren, weil diese Kritik ja ein Angriff auf die Gruppe selbst wäre.
Abgesehen von der Kritik an der Konstruktion einer einheitlichen „Kultur“ und einer Volksgruppe, als ihrer Eigentümerin (siehe oben), ist hier eine Frage zu stellen: Warum muss etwas unbedingt respektiert werden, bloß weil es kulturelle Praxis einer marginalisierten Gruppe ist? Religiöse Vorstellungen sollten doch auch dann als schädliche Einbildungen19 kritisiert werden, wenn sie bei einer marginalisierten Gruppe vorkommen. Die Vorstellung, dass Krishna einen beschütze, erscheint uns jedenfalls als genauso unvernünftig wie der Glaube an die Wiederauferstehung der Toten nach dem Jüngsten Gericht.
Weiter gedacht: Manche kulturelle Praktiken marginalisierter Gruppen dürften z.B. nicht weniger sexistisch sein als der westliche Normalzustand, gerade wenn es traditionelle Praktiken sind, die aus patriarchal strukturierten Gesellschaften übernommen wurden. Müssen derartige kulturelle Praxen als Tradition und Besitzstand marginalisierter Gruppen respektiert werden oder ist hier nicht eine durchaus scharfe Kritik angebracht?
Auch die „eigene“, „unverfälschte“, „traditionelle“ oder was-auch-immer Kultur einer Gruppe – und sei sie noch so marginalisiert – kann unsäglich dumm, reaktionär oder brutal sein.
3.4: Ethnopluralismus von links?
Leute, die Kulturelle Aneignung kritisieren, stören sich an dem üblichen Rassismus in der Gesellschaft, der „andere Kulturen“ als minderwertig bis schräg exotisch kritisiert, der aber gar kein Problem hat, sie als Selbstbedienungsladen zu benutzen, wo es passt. Mit dem Gedanken von klar getrennten „Kulturen“, die einen bestimmten Menschenschlag kennzeichnen, Ausdruck dessen Wesens und deswegen autonom von ihm hervorgebracht sind, sind Kritiker*innen der Kulturellen Aneignung aber nicht alleine. Sondern sie teilen da Grundlagen mit Leuten, die ziemlich das Gegenteil von Antirassismus wollen. Denn den kulturalistischen Essentialismus teilen z.B. – unter anderen Vorzeichen – auch die Identitäre Bewegung und ähnliche Rechtsradikale.
Auch der unbedingte Respekt vor den einzelnen Kulturen und die Forderung, sie unverfälscht (d.h. unvermischt) zu erhalten, ist Rechtsradikalen nicht fremd. Zum Dissens kommt es erst, wenn die Rechten aus diesen Gedanken dann die Forderung nach einer räumlichen Trennung ableiten und nicht-„weiße“ Menschen aus angeblich fremden Kulturen nicht in Europa dulden wollen.
Die Vertreter*innen des Konzepts der Kulturellen Aneignung machen beim Kulturschutz dann noch eine zusätzliche Unterscheidung. Für sie ist nicht die Mehrheitskultur schützenswert, sondern nur die marginalisierte, denn sie kritisieren ja nicht die Verfälschung der „aneignenden“ Kultur, sondern nur den angeblichen Diebstahl. Mit dem Gedanken begeben sie sich aber auf eine schiefe Ebene, denn so manche*r Deutsche*r sieht auch die gute deutsche Kultur durch Amerikanisierung und Hollywood marginalisiert. Wer diesen Übergang dann mit dem Gedanken der Kulturellen Aneignung kritisieren will, kann sich mit deutschen Nationalist*innen darüber streiten, wie unterdrückt Deutschland ist. Eine Diskussion, an der wir uns eher nicht beteiligen möchten…
4. Conclusio
Der Gedanke der Kulturellen Aneignung konstruiert Gruppen anhand einer von ihren Mitgliedern angeblich geteilten Kultur. Diese Kultur müsse respektiert und erhalten werden. Dabei wird den Gruppenmitgliedern eine Art Eigentumsrecht an den Elementen „ihrer“ Kultur zugesprochen.
Dieser Gedanke entspricht der gängigen Vorstellung, dass es Völker „einfach so“, natürlicherweise gebe und sie sich durch ihre jeweilige, ureigene Kultur auszeichneten. Wegen ihrer Besonderheiten hätten sie das Recht, unter Ihresgleichen in eigenen Staaten zu leben. In ihrer radikalen Form wird diese Vorstellung von Rechtsradikalen vertreten. Abgeschwächt findet sie sich aber auch im stinknormalen Patriotismus („Die Deutschen/Engländer*innen/Nigerianer*innen/was-auch-immer sind eben so und so“). Genau diese Vorstellung von nationalen Kollektiven, die sich aufgrund vorstaatlicher Gemeinsamkeiten unterscheiden würden, ist die ideologische Grundlage bei der Ausgrenzung von Gruppen, denen diese Eigenschaften abgesprochen und – häufig – schädliche Eigenschaften zugesprochen werden. Ohne diese gedankliche Operation, die Gruppen als irgendwie „anders“ als die Mehrheitsgesellschaft konstruiert, kommt keine rassistische Ausgrenzung aus.
Die Kritik Kultureller Aneignung beruht auf einem Wunsch, den wir teilen. Die Kritiker*innen stören sich am ganz normalen Durchschnittspatriotismus und -rassismus vor allem in westlichen Ländern. Gute Idee, aber grundverkehrte Umsetzung: Wer die Grundlage von „wir“ und „die“, von angeblichen „Leitkulturen“ und „Parallelkulturen“ nicht infrage stellt, der*die kritisiert die Grundlagen des Rassismus gerade nicht.
Eine Rassismuskritik, die an die Wurzel des Problems geht, müsste auch diesen gedanklichen Fehler angreifen. Die Verfechter*innen des Konzepts der Kulturellen Aneignung gehen aber anders vor. Sie stellen fest, dass es rassistisch unterdrückte Gruppen gibt. Ausgehend von dieser Feststellung kritisieren sie nicht, dass Menschen in unterschiedliche Gruppen einsortiert werden. Ihre Kritik beginnt erst da, wo sie wahrnehmen, dass mit der Einsortierung in eine bestimmte Gruppe eine Abwertung der Gruppenangehörigen verbunden ist. Der Schaden besteht für sie vor allem im fehlenden Respekt. Die Sortierung an sich halten sie für unproblematisch.
Deswegen machen die Kritiker*innen der Kulturellen Aneignung die Sortierung der Menschen in auf einer – vermeintlich – geteilten Kultur basierende Gruppen, zur positiven Grundlage ihrer politischen Forderungen. Die Angehörigen der unterdrückten Gruppen sollen respektiert werden. So kommen sie auf die Idee, dass die so unterdrückten Gruppen mit Sonderrechten ausgestattet werden müssten, um die Diskriminierung zu bekämpfen. Dahinter steht die Vorstellung einer Gesellschaft gleichberechtigter „Kulturen“, die sich gegenseitig respektieren. Im Ergebnis treten die Kritiker*innen der Kulturellen Aneignung mit dieser Strategie aber nur in eine Konkurrenz mit dem normalen Patriotismus darüber, welche Gruppen jetzt welche Rechte haben sollen. Das ist leider das Gegenteil einer vernünftigen Rassismuskritik.
1 https://www.cbc.ca/news/canada/british-columbia/newman-coleman-artists-open-letter-indigenous-appropriation-1.4437958
2 Wir setzen die Begriffe „schwarz“ und „weiß“ in Anführungszeichen, weil sie sich 1. zwar auf Farben beziehen, aber im Regelfall mit der wirklichen Hautfarbe (im Farbkontinuum von beige-rosa bis dunkelbraun) wenig zu tun haben und weil sie aber 2. für eine rassistische Sortierung stehen, die sich an der wirklichen oder angeblichen Hautfarbe festmacht und behauptet, dass die entsprechenden Menschen eine Gruppe bilden würden, die mehr Gemeinsamkeiten hätte als ihre Pigmentierung. Und, dass 3. diese Sortierung impliziert, dass Gemeinsamkeiten innerhalb dieser konstruierten Gruppe wichtiger wären als all die vielen Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen.
3 https://orf.at/stories/3126664/
4 An der Vorstellung von „privilegierten“ Gruppen haben wir einiges auszusetzen: Eine Kritik, die mit dem moralischen Vorwurf der „Privilegien“ arbeitet, beruht auf falschen Vorstellungen über Herrschaft, Konkurrenz und Rassismus. Dass es z.B. trotz formal gleicher Rechte jede Menge rassistischer Diskriminierungen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt gibt, wird sich schwerlich bestreiten lassen. Nur: Die bitteren Notwendigkeiten, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen und für das bloße irgendwo Wohnen Miete zu zahlen, verwandeln sich deswegen, weil es einigen Leuten damit sehr viel schlechter geht, nicht in ein tolles „Privileg“ für diejenigen, die den (rassistischen) Anforderungen von ‚Arbeitgeber*innen‘ und Vermieter*innen besser genügen. Zwar ist es richtig, dass Leute, die nicht von bestimmte Diskriminierungen betroffen sind, häufig keinen Blick dafür haben, wie diese Vorab-Aussortierung aus bestimmten Konkurrenzen Leuten das Leben zusätzlich (!) schwer macht. „Weißen“ Lohnabhängigen und Mieter*innen aber zu erzählen, sie hätten da Privilegien, ist eine Verklärung der Zwänge und geht auch voll an deren Lebensrealität vorbei. Zudem fordert es sie geradezu auf, Leute, die diskriminiert werden, als Konkurrent*innen um so erstrebenswerte Güter wie einen Scheiß-Arbeitsplatz und eine miese, überteuerte Absteige zu sehen – anstatt gemeinsam etwas an den gemeinsamen Zwangslagen zu ändern.
5 Skulpturen und Platten aus Bronze, die den Königspalast von Benin geschmückt haben und nach der Eroberung des Königreich 1897 von Großbritannien geplündert wurden und ihren Weg in viele europäische Museen gefunden haben.
6 Beim geistigen Eigentum spricht man auch vom Eigentum an Rechten, z.B. Eigentum an einem Patent.
7 Auch die Konstruktion einer Gemeinschaft „schwarzer“ Menschen, die über die tatsächliche Gemeinsamkeit vieler „schwarzer“ Menschen von Rassismuserfahrungen hinausgeht und dabei eine gemeinsame Kultur oder gar verbindende Wesenseigenschaften behauptet, ist unsinnig.
8 Passend dazu sei unser Text empfohlen: „Gibt es das deutsche Volk“? https://gegen-kapital-und-nation.org/gibt-es-das-deutsche-volk-50f50a/
9 Sonderrechte deswegen, weil das reguläre Urheberrecht derartige Dinge nicht schützt. Deswegen läuft der Gedanke der kulturellen Aneignung auf die Forderung hinaus, hier eine Art Extra-Urheberrecht einzurichten. In der Regel ist die Forderung aber weniger ein Appell an den Staat, dass er Gesetze erlassen solle, sondern mehr ein moralischer Appell an alle: „daran sollte sich gehalten werden“.
10 Es ist übrigens ein verbreiteter Fehler des Antirassismus, den Schaden von rassistischen Zuschreibungen nur bei denen zu erkennen, die ausgegrenzt oder abgewertet werden. Auch die positiven Zuschreibungen, z.B. dass Deutsche fleißig und tapfer seien, haben es in sich: Darin steckt nämlich ein Anspruch an die Adressaten, von eigenen Interessen abzusehen, wenn gerade Opfer für „das Gemeinwesen“ angesagt sind (nicht zuletzt im Kriegsfall).
11 Stichhaltig ist das Traditionsargument aber nicht: https://despair.com/collections/posters/products/tradition?variant=2457305795
12 https://www.mucbook.de/tracht-traditiogeschichte-herkunft-bayern-dirdnl-lederhose/
13 Ein schönes Beispiel ist Tirol. Nach der Reformation ganz überwiegend protestantisch, hat erst eine sehr hart durchgeführte Gegenreformation daraus das katholische Musterland geschaffen, das es dann bis weit ins 20. Jahrhundert war. Auch die Ausbreitung des Islams wurde durch Kriege unterstützt.
14 https://www.globalcitizen.org/de/content/kulturelle-aneignung-warum-mode-rassistisch-sein-k/
15 Die zwei typischen Formen: 1) Eine existierende Herrschaft definiert Menschen anhand ihrer angeblichen Kultur z.B. als „Deutsche“. Damit begründet sie, dass ihre Herrschaft über diese Menschen, die sie auch ganz ohne diese Rechtfertigung schon ausübt, in Ordnung geht. 2) Menschen sind mit der Herrschaft, der sie unterworfen sind, unzufrieden und entdecken an sich und vielen ihrer Mitmenschen eine abweichende kulturelle Identität, z.B. eine kurdische. Diese Identität soll dann den Grund dafür abgeben, dass all diese Menschen eine eigene ihrer kulturellen Identität gemäße Herrschaft bräuchten und bei der Errichtung dieser Herrschaft gefälligst mitmachen sollen.
16 Gemeint ist vermutlich: gegen eine ausgegrenzte Kultur
17 https://enorm-magazin.de/gesellschaft/gleichstellung/kulturelle-aneignung-indianer-ist-keine-verkleidung
18 https://ze.tt/cultural-appropriation-kulturelle-aneignung/
19 Mehr Argument zur Religionskritik hier: https://gegen-kapital-und-nation.org/kaum-zu-glauben-kritik-der-religion/