Nach Berichten über Hamas-Vergewaltigungen – „Sexualisierte Kriegsgewalt ist auf so furchtbare Weise effizient“
Die Vereinten Nationen sehen deutliche Anzeichen dafür, dass Hamas-Terroristen bei und nach ihrem Überfall auf Israel Frauen vergewaltigt haben. Dahinter steckt eine klare Strategie, erklärt Frauenrechtlerin Monica Hauser. Im Interview erklärt sie, warum sexuelle Gewalt gegen Frauen eine Kriegswaffe ist.
Fünf Monate nach dem Überfall der Hamas haben die Vereinten Nationen Vorwürfe sexualisierter Gewalt während des Massakers am 7. Oktober als glaubwürdig eingestuft. Es gebe „berechtigten Grund zur Annahme“, dass es zu Vergewaltigungen und Gruppenvergewaltigungen an mindestens drei Orten gekommen ist.
Was sexualisierte Gewalt mit den Betroffenen und einer Gesellschaft macht und wieso sie nicht nur im Krieg trauriger Alltag ist, erklärt Monica Hauser. Sie ist Gynäkologin und gründete in den 1990er Jahren die Frauenrechtsorganisation medica mondiale. Ihr Ziel ist, kriegstraumatisieren Frauen medizinische und psychologische Hilfe zu leisten.
Frau Hauser, ein Bericht der Vereinten Nationen sieht sexualisierte Gewalt bei dem Terroranschlag der radikal-islamistischen Hamas am 7. Oktober in Israel als „wahrscheinlich“ an. Überrascht Sie das?
Die Gewalt überrascht uns nicht. Als Organisation, die seit über 30 Jahren zu sexualisierter Kriegsgewalt arbeitet, wissen wir, dass die Gefahr sexualisierter Gewalt in Krisen- und Konfliktkontexten stark zunimmt. Dabei wird oft vor allem über Vergewaltigungen gesprochen. Der Begriff umfasst jedoch auch andere sexualisierte Gewalttaten, wie unerwünschtes Anfassen von Körperteilen, erzwungenes Auskleiden, Zwangsprostitution und sexuelle Versklavung. Wir verurteilen alle diese Formen sexualisierter Gewalt auf das Schärfste und sind solidarisch mit allen Betroffenen, Überlebenden und Angehörigen. Ihr Schutz und ihre Bedarfe müssen jetzt im Fokus stehen und Priorität haben!
Wieso kommt es in Kriegs- und Krisensituationen immer wieder zu Vergewaltigungen und sexualisierter Gewalt?
Sexualisierte Gewalt ist auch in Friedenszeiten allgegenwärtig. Ebenso die systematische Ausgrenzung und Unterdrückung von Frauen. In Kriegen und Konflikten eskaliert beides: Männer nutzen ihre Macht aus, um Frauen zu vergewaltigen, zu verschleppen und zu versklaven. Patriarchale Strukturen sind die Ursache sexualisierter Gewalt. Auch queere, nicht-binäre oder trans Personen sind davon betroffen, sowie Jungen und Männer.
Was sind die Folgen?
Dabei kommt es nicht nur im Kontext der unmittelbaren militärischen Auseinandersetzung zu Gewalt, das heißt, wenn Soldaten oder Milizen Frauen vergewaltigen. Auch außerhalb der Kampfhandlungen steigt die Gefahr. Die öffentliche Sicherheit ist eingeschränkt, Abhängigkeiten nehmen zu, und auch in Familien und Gesellschaften nehmen Gewaltdynamiken zu.
Werden solche Taten offiziell angeordnet?
Es reicht häufig aus, wenn innerhalb des Militärs oder bewaffneter Gruppen sexualisierte Übergriffe durch Vorgesetzte geduldet werden und eine Atmosphäre geschaffen wird, die zu dieser Gewalt ermutigt. Wir beobachten häufig einen verengten Fokus auf die Frage, ob die Gewalt kriegsstrategisch als „Waffe“ eingesetzt oder angeordnet ist. Dieser Fokus lässt jedoch außer Acht, dass die Gewalt nicht erst mit Kriegen beginnt und auch nicht danach endet. Im Krieg eskaliert, was vorher schon vorhanden war. Sexualisierte Gewalt existiert daher im Kontinuum. Um weitere Gewalt zu verhindern, ist es wichtig, sie als strukturelles Problem zu begreifen und zu bekämpfen.
Sind Vergewaltigungen also eine Art Kriegswaffe?
Sexualisierte Gewalt richtet sich gegen die einzelne Frau, aber aufgrund patriarchaler Dynamiken auch gegen ihr familiäres Umfeld und die ganze Gemeinschaft. Sie ist ein Symbol der Erniedrigung der gegnerischen Seite, die „ihre Frauen“ nicht schützen kann. Sie kann als Teil einer Kriegsstrategie für bestimmte Ziele funktionalisiert werden und dann beispielsweise dazu dienen, die „gegnerische“ Bevölkerungsgruppe zu terrorisieren, zu demoralisieren, zu vertreiben und zu zerstören. Häufig werden Überlebende ausgegrenzt und stigmatisiert. Aus diesem Grund ist sexualisierte Kriegsgewalt auf so furchtbare Weise effizient.
Frauen, die sexualisierte Gewalt erleben, sind danach häufig traumatisiert. Was macht das mit einer Gesellschaft auch über Jahrzehnte hinweg?
Aus unserer Arbeit wissen wir: Sexualisierte Gewalt kann für überlebende Frauen massive, langanhaltende gesundheitliche und soziale Folgen haben. Dazu zählen unter anderem posttraumatische Belastungsstörungen, Ängste und Depressionen, physische Schmerzen und chronische Krankheiten. Doch sie ist kein individuelles Schicksal der Betroffenen. Überlebende verlieren häufig ihr Vertrauen in sich selbst und andere und ziehen sich zurück. In vielen Fällen werden Überlebende stigmatisiert und aus ihren Familien oder Gemeinschaften ausgegrenzt. Unverarbeitet können die Erlebnisse als transgenerationale Traumata bis in die nächsten Generationen hineinreichen.
Was folgt für Sie daraus?
Die Aufarbeitung des Erlebten kann nicht allein Aufgabe der betroffenen Frauen und ihrer Familien sein. Vielmehr muss die Unterstützung der Überlebenden und die Bekämpfung sexualisierter Gewalt als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen werden. Nicht nur Politik und Justiz, auch Institutionen und die breite Öffentlichkeit müssen Verantwortung übernehmen und zu Dokumentation und Wahrheitsfindung, Erinnerungskultur und Wiedergutmachung beitragen.