Acht Unterkünfte: Britischer Milliardenkonzern will Flüchtlingsheime in Leipzig betreiben

Leipzig. Leipzigs größte Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete in der Torgauer Straße soll wie sieben andere einen neuen Betreiber bekommen. Alle Gebäude gehören der Stadt Leipzig. Mit dem Betrieb beauftragt die Kommune aber externe Dienstleister, wie das Rote Kreuz oder die Malteser – und teilweise auch private Unternehmen. Je nach Unterkunft nehmen die Firmen verschiedene Aufgaben im Namen der Stadt wahr: Sie kontrollieren, wer kommt und geht, kümmern sich um die Betreuung durch Sozialarbeiter und schlichten Konflikte.

Wie in sechs sächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen und den insgesamt acht Leipziger Unterkünften ist in der Torgauer Straße die Essener Firma European Homecare (EHC) für den Betrieb zuständig – noch. Denn der britische Milliardenkonzern Serco möchte EHC kaufen. Mit der gemeinnützigen Stiftung, der EHC bis jetzt gehört, hat sich Serco laut Eigenangaben auf einen Verkaufspreis von 40 Millionen Euro geeinigt. Warum möchte ein britischer Konzern Geflüchtetenheime in Leipzig betreiben?

Unter dem Dach des Serco-Konzerns soll EHC mit dem Schweizer Unternehmen ORS zusammengeführt und so europäischer Marktführer in Europa werden, teilte EHC mit. Vorher muss das Kartellamt dem Kauf zustimmen. Schon jetzt hat EHC laut eigenen Angaben 2000 Angestellte, die deutschlandweit in über hundert Unterkünften 36.000 Asylbewerber betreuen. In Leipzig gehören unter anderem die Heime in der Eutritzscher Straße, der Bernhardstraße und der Sommerfelder Straße dazu, ab Februar auch ein neues Heim in der Muldentalstraße. Mark Irwin, Geschäftführer von Serco, sagte: „Diese strategische Übernahme wird unsere bisherigen Aktivitäten ergänzen und unsere Position als führender Partner für Einwanderungsdienste stärken.“

„Serco will sich erheblichen Marktanteil sichern“

Übersetzt hieße das, dass sich Serco durch den Kauf von EHC in Deutschland „einen ganz erheblichen Marktanteil“ sichern wolle, vermutet der emeritierte BWL-Professor Werner Nienhüser von der Universität Duisburg-Essen. Er hat das Geschäftsmodell von EHC untersucht. Durch die Verdrängung von Mitbewerbern vom Markt könne Serco möglicherweise in Zukunft höhere Gewinne erzielen, glaubt er.

„Hinsichtlich des Betriebs von Flüchtlingsunterkünften werden sich für die sächsischen Kommunen keine Änderungen ergeben“, versichert hingegen Karin Bürgener von EHC. Von der Landesdirektion Sachsen heißt es derweil, die mit dem Unternehmen geschlossenen Betreiberverträge blieben auch nach der Übernahme durch Serco gültig – zumindest, bis der Betrieb der Unterkünfte in einigen Jahren neu ausgeschrieben wird.

Sachsen zahlt viel mehr als erwartet für Unterbringung

Die Stadt Leipzig zahlte der EHC im vergangenen Jahr 5,3 Millionen Euro für den Betrieb der Heime. Diese Summe sei nicht an die Zahl der betreuten Flüchtlinge gebunden, heißt es aus dem Sozialamt. Anders ist das bei den Erstaufnahmeeinrichtungen, die der Freistaat Sachsen betreibt. Der Freistaat zahlt Unternehmen wie EHC eine Pauschale pro betreutem Flüchtling. Deshalb waren die Kosten für die Unterbringung im vergangenen Jahr deutlich höher als erwartet: Im Haushaltsplan des Freistaats waren 79,6 Millionen Euro eingeplant, die tatsächlichen Ausgaben waren fast doppelt so hoch, rund 132 Millionen Euro. „Ein wesentlicher Faktor war der überaus hohe Zustrom nach Sachsen“, erklärte die Pressesprecherin der Landesdirektion.

Gewinne der European Homecare

Jahresüberschuss im Jahresabschlussbericht:
2013: 1,4 Mio.
2014: 5,3 Mio.
2015: 25,6 Mio.
2016: 32,4 Mio.
2017: 8,6 Mio.
2018: 620 Tsd.
2019: 296 Tsd.
2020: 467 Tsd.
2021: 19,5 Mio.

Eine hohe Zahl Geflüchteter sah EHC bereits 2021 in einem Geschäftsbericht voraus. „Sollte es, wie zu erwarten ist, insbesondere aufgrund der Entwicklungen in Afghanistan, Syrien und der Ukraine zu einem weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen kommen, wird dies zu einer erhöhten Nachfrage nach den Dienstleistungen in unserer Branche führen.“ So kam es dann auch, im vergangenen Jahr wurden in Deutschland mehr als 350.000 Asylanträge gestellt – und EHC erzielte einen Umsatz von 150 Millionen Euro, wie es in einer Pressemitteilung von Serco heißt. Laut der Analyse des Wissenschaftlers Nienhüser ist das Unternehmen immer dann profitabel, wenn die Zahlen der Geflüchteten steigen. Den höchsten Umsatz, mit Gewinnen in Millionenhöhe, erwirtschaftete EHC während der Flüchtlingskrise 2015 und 2016.

Nach der Übernahme wäre EHC nur ein kleiner Teil des Serco-Konzerns, der 4 Milliarden Euro Jahresumsatz macht. „Serco erfüllt in zahlreichen Ländern Aufgaben, die der Staat nicht selbst erfüllen möchte“, sagt BWL-Professor Nienhüser. In Großbritannien unterhält Serco Zugunternehmen, Krankenhäuser und Abschiebegefängnisse. Im Nahen Osten verwaltet der Konzern Militärbasen der US-amerikanischen und australischen Armee. Der Sächsische Flüchtlingsrat wirft Serco vor, dadurch „an der Schaffung von Fluchtursachen mitzuarbeiten“ – ein Vorwurf, den Serco zurückweist. „Serco produziert keine Waffen und beteiligt sich nicht an kriegerischen Auseinandersetzungen“, sagt Lutz Hahn von der Schweizer Serco-Tochter ORS.

Osman Oğuz vom Sächsischen Flüchtlingsrat befürchtet, dass sich die Betreuung der Geflüchteten nach der Übernahme durch Serco verschlechtern könnte. „Serco betreibt bereits in mehreren Ländern Geflüchtetenunterkünfte, und dort zeigt sich: Das Ziel ist maximaler Profit.“ Schon jetzt seien die Zustände in den von EHC betriebenen Unterkünften schlecht, sagt Oğuz. Bewohner und ehemalige Mitarbeiter einer sächsischen Erstaufnahmeeinrichtung hätten ihm von fehlender Privatsphäre, täglichen Zimmerkontrollen und unzureichender Krankenversorgung berichtet.

Landesdirektion: Flüchtlingsrat äußert „unsachliche Kritik“

Pressesprecher Hahn hält dem entgegen, dass EHC und Serco sich gewissenhaft an Vorschriften hielten: „Im Rahmen unseres Engagements haben wir uns verpflichtet, Flüchtlingen ein Höchstmaß an Betreuung zu bieten“. Die Landesdirektion Sachsen wies die Vorwürfe als „unsachliche Pauschalkritik“ zurück. Die Verträge mit EHC würden eine „qualitativ hochwertige Betreibung“ sicherstellen. Auch dem Sozialamt der Stadt liegen keine Beschwerden vor. „Die seitens der Stadt Leipzig festgelegten Standards werden in allen Einrichtungen eingehalten“, sagt Amtsleiterin Martina Kador-Probst. Landesdirektion und Sozialamt geben an, die Unterkünfte regelmäßig durch unangekündigte Besuche zu kontrollieren.

BWL-Professor Nienhüser fragt sich derweil, warum die Unterkünfte überhaupt von privaten Dienstleistern betrieben werden. „Geflüchtete sollten besser in normalen Wohnungen untergebracht und von gemeinnützigen oder staatlichen Einrichtungen betreut werden“, findet er. Das bringe zwar keinen Profit, fördere aber die Integration.

LVZ