Brechts Lobgedichte: Wo die „1000 Augen der Partei“ in Chemnitz noch immer wachen

An der Brückenstraße wurden sozialistische Propaganda-Texte in Stein verewigt. Grünen-Stadtrat Zschocke fordert eine Einordnung. Jetzt soll dort eine Info-Stele aufgestellt werden.

Chemnitz.Seit über 50 Jahren stehen sie fest im Boden der Brückenstraße: die vier steinernen Denkmäler mit den Lobgedichten des Dramatikers Bertolt Brecht (1898 bis 1956). Sie sind Zeitzeugnisse der ideologischen Hochphase der DDR, haben den Niedergang des Sozialismus und die Wendezeit überstanden, direkt vor den Plastiken wurde während des Stadtfestes 2018 ein Deutsch-Kubaner erstochen.

Die meisten Passanten nehmen die vier Steinblöcke wahrscheinlich nur noch aus dem Augenwinkel wahr. Nicht so die Bekannten von Matthias Bayer. Als die Frankfurter dem Chemnitzer im vergangenen Jahr einen Besuch abstatteten, sind ihnen die Denkmäler bei einer Tour durch die Innenstadt sofort ins Auge gefallen. Und dabei nicht nur die Abbildungen der Menschen, sondern auch die Innenschriften. „Der Einzelne hat zwei Augen. Die Partei hat 1000 Augen“, steht dort zum Beispiel in Stein geschrieben. Ein Vers aus dem „Lob der Partei“ von Brecht. Seine Freunde seien ziemlich überrascht gewesen und suchten nach einer Einordnung der Texte, sagt Bayer. Aber vor Ort fanden sie nirgends eine Erklärung.

Forderung nach Info-Stele zur Einordnung

Grünen-Stadtrat Volkmar Zschocke will so eine Einordnung schaffen. Er selbst sei mit den Denkmälern groß geworden, habe dort oft als Kind gespielt, sei als Jugendlicher daran vorbeispaziert. „Was ich als junger Mensch unangenehm indoktrinierend empfand, betrachte ich heute als wichtigen Teil der Geschichte meiner Heimatstadt“, sagte Zschocke im Stadtentwicklungsausschuss am Dienstag. Dort warb er für eine Info-Stele neben den „Lobgedichten“. Solche Stelen werden seit 2018 an vielen Orten in Chemnitz aufgestellt. Eine solche Tafel steht auch vor dem Karl-Marx-Denkmal und ordnet die Geschichte des monumentalen Kopfes ein.

Die Reliefs an der Brückenstraße hätten eine hohe künstlerische Qualität. „Sie existieren aber nicht losgelöst von ihrem Entstehen unter den Verhältnissen einer Diktatur“, so Zschocke. Noch vor dem Beginn des Kulturhauptstadt-Jahres sei eine einordnende Information der „Lobgedichte“ vor Ort wichtig, weil im Umfeld viele Veranstaltungen stattfinden sollen.

Der Stadtentwicklungsausschuss hat in dieser Woche grünes Licht für die Info-Stele gegeben. AfD-Stadtrat Otto-Günter Boden stimmte dagegen. Die Schriftzüge würden bereits für sich zeigen, was sie enthalten. Dafür brauche es keine weitere Erklärung, begründete er in der Debatte. Am Ende stimmten sechs Stadträte dafür, fünf lehnten ab.

Die Info-Stele wird also kommen, die Denkmalschutzbehörde wird einbezogen. „Die ästhetische Wirkung des Kunstwerkes darf durch die Stele nicht beeinträchtigt werden, da das Ensemble ,Lobgedichte‘ unter Denkmalschutz steht“, teilt die Pressestelle mit. Weil die Reliefs an der einen oder anderen Stelle Schäden aufweisen, ist in den Sommermonaten außerdem eine Reinigung und Instandsetzung geplant. Dafür sind rund 20.000 Euro vorgesehen.

Die „Lobgedichte“ an der heutigen Brückenstraße bestehen aus drei Reliefwänden und einer steinernen Stele. Geschaffen wurden die Kunstwerke in einem Zeitraum von vier Jahren durch die Bildhauer Joachim Jastram aus Rostock (1928 bis 2011), Eberhard Roßdeutscher aus Magdeburg (1921 bis 1980) und Martin Wetzel aus Halle (1929 bis 2008). Neben Motiven der menschlichen Entwicklungsgeschichte zu einer kommunistischen Gesellschaft sind die fünf Lobgedichte von Bertolt Brecht in den Steinblöcken verewigt: „Lob der Partei“, „Lob des Lernens“, „Lob des Kommunismus“, „Lob des Revolutionärs“ und „Lob der Dialektik“.

Zur Einweihungsfeier am 6. Oktober 1972 sagte der damalige Bürgermeister Kurt Müller: „Der Sozialismus bedarf einer Kunst, die fest auf der Wirklichkeit gegründet ist, auf Entdeckungsfahrt um diese Wirklichkeit und ihre Zukunftsmöglichkeiten auszieht.“ Damals hieß die Brückenstraße noch Karl-Marx-Allee, ein Jahr vorher wurde keine 200 Meter weiter das Karl-Marx-Monument aufgebaut. In der Amtszeit des SED-Mitglieds Müller wandelte sich das Chemnitzer Stadtbild stark zu einer sozialistischen Einheitsstadt.