Leipziger Neonazi-Verlag versendet weiter – trotz Ermittlungen und Anklagen
Der Neonazi Enrico Böhm soll von Leipzig aus rechtsextreme Bücher verschickt haben. Gegen ihn ist vor dem Oberlandesgericht Dresden Anklage erhoben worden. Der Verlag arbeitet trotzdem weiter.
Leipzig. Hitlers „Mein Kampf“ könne etwas länger unterwegs sein, schreibt der Verlag, einen guten Monat vielleicht, aber man solle sich nicht sorgen: Das Buch werde geliefert. Ebenso die „Handblätter für die weltanschauliche Erziehung der Truppe“, herausgegeben nach 1943 vom Reichsführer der SS, Heinrich Himmler. Man wähle, schreibt der Verlag, „ganz bewusst umwegige Versandlinien“, das Paket komme „diskret mit einem anonymen Absender aus dem EU-Bereich, also ohne Chance für Zollschnüffler.“
Und tatsächlich: Sechs Wochen nach der Bestellung im Internet sind die von der LVZ testweise angeforderten Bücher da. Ungefragt und kostenlos dazu gibt es eine „Informationsbroschüre“ mit der angeblichen Wahrheit über den Holocaust. Verschickt und verlegt wurde all das vom ursprünglich aus Leipzig operierenden Verlag „Der Schelm“. Das ist nicht nur verboten, es ist auch erstaunlich. Denn gegen drei mutmaßliche Beteiligte des „Schelm“-Verlages hat der Generalbundesanwalt im Sommer Anklage erhoben. Demnächst will das Oberlandesgericht Dresden über den Beginn des Prozesses entscheiden.
„Schelm“ anfangs aus Gohlis gesteuert
Unter den mutmaßlichen „Schelm“-Machern ist der Leipziger Neonazi und Ex-NPD-Stadtrat Enrico Böhm. Ihn filmte der NDR schon Anfang 2020, wie er ganz offensichtlich Bücher für den „Schelm“ über einen Leipziger Paketshop verschickte. Später saß Böhm in der Sache sogar in Untersuchungshaft. Aber der „Schelm“-Verlag hörte nicht auf, zu arbeiten – nicht nach den NDR-Recherchen, nicht nach den Ermittlungen des Dresdner Landeskriminalamts (LKA), nicht nach der Anklage und kurz vor Beginn des zu erwartenden Prozesses. Wie kann das sein?
Gegründet wurde der „Schelm“ wohl 2014, zwei Jahre später gab es erstmals größere Aufregung um den Verlag. Denn dessen Chef Adrian Preißinger, ein Rechtsextremist, der damals schon wegen des Verkaufs von Neonazi-Musik vorbestraft war, kündigte an, eine unkommentierte Fassung von Hitlers „Mein Kampf“ verlegen zu wollen.
Verschleierte Versandwege – wechselnde Anschriften
Mehrere Staatsanwaltschaften nahmen Ermittlungen auf. Zwar wurde „Mein Kampf“ damals nach 70 Jahren Veröffentlichungsverbot in Deutschland wieder aufgelegt, in einer vom Münchner Institut für Zeitgeschichte kommentierten Version. Nachdrucke ohne Einordnungen sind aber teilweise indiziert und können, je nach der Intention, mit der sie erscheinen, als Volksverhetzung gelten.
Preißinger zieht den „Schelm“ anfangs von seiner damaligen Wohnung aus im Leipziger Stadtteil Gohlis auf, inzwischen vermuten Ermittler ihn in Russland. Von dort aus verschickt er mutmaßlich noch immer Bücher, die er nicht verschicken dürfte: eine unkommentierte Version von „Mein Kampf“ mit dem Vorwort eines australischen Holocaust-Leugners, andere Nachdrucke historischer NS-Publikationen, antisemitische Hetzschriften. Dabei verschleiert er den Versandweg. Die Anschrift des Verlages gibt er wechselweise in Thailand und Argentinien an, auf den Paketen werden Absender in Stettin in Polen genannt.
LKA stellt 53.000 Bücher sicher
Preißinger wird mit mehreren Haftbefehlen gesucht, der Generalbundesanwalt ermittelt gegen ihn. Er soll der Kopf des „Schelm“-Verlages sein, hinter dem die Ermittler eine rechtsextreme kriminelle Vereinigung sehen. Dazu und auch zu der Frage, ob und wie er den „Schelm“ weiter betreibt, will Preißinger auf Anfrage nichts sagen. Er rede nicht mit der „Judenpresse“, schreibt er. Antisemitische, rassistische und allgemein menschenverachtende Hetze verbreitet er in den sozialen Netzwerken. Auf den Seiten seines Verlags formuliert er in einer ihm eigenen Mischung aus Infantilität und Wut: „Wir befinden uns im Kriegszustand gegen ein heuchlerisch-verlogenes System, die den „Schelm“ in die Knie zwingen wollen via General-Bunzelanwalt.“
Es war im Dezember 2020, als Beamte des LKA Sachsen zum ersten Mal Wohnungen und andere Räume durchsuchten, in denen, so sehen das die Ermittler, Bücher für den Versand durch den „Schelm“ gelagert worden waren. An jenem Tag und bei weiteren Durchsuchungen fand das LKA insgesamt 53.000 Bücher, darunter viele Mehrfach-Exemplare. 110 verschiedene Titel zählten sie am Ende. Dass viele davon strafrechtlich relevant waren, soll bei den meisten schon auf den ersten Blick zu erkennen gewesen sein. Am Ende konnte es bei etwa 70 Prozent der Werke bestätigt werden.
Böhm: „Könnte sein, dass ich als rechtsradikal wahrgenommen werde“
Zu der Zeit der Durchsuchungen war Adrian Preißinger wohl schon nicht mehr in Deutschland. Enrico Böhm soll es den Ermittlungen zufolge gewesen sein, der zusammen mit seiner Freundin Annemarie K. den „Schelm“-Versand von Leipzig aus organisiert hat – spätestens seit August 2018, so der Generalbundesanwalt.
Böhm, ein 41 Jahre alter Mann, war lange in der rechtsextremen Fußball-Hooligan-Szene aktiv, saß für die NPD im Stadtrat und wurde schon mehrfach verurteilt, unter anderem wegen Körperverletzung und Volksverhetzung. Als er 2021 als Zeuge im Prozess gegen die linksextreme Bande um Lina E. aussagte, behauptete er erst, er würde sich selbst „nicht als radikal klassifizieren“. Nach einigem Hin und Her räumte er dann ein, dass sein Name ja im sächsischen Verfassungsschutzbericht stehe. „Es könnte also sein, dass ich als rechtsradikal wahrgenommen werde“, sagte er. Zuletzt, im Frühjahr, waren Bilder von ihm aufgetaucht, wie er nach einem rechten Protest am Augustusplatz in Leipzig Gegendemonstranten über die Kreuzung jagte.
Druckfahnen für „Mein Kampf“ gibt es im Netz
Neben Böhm und Annemarie K. wurde auch gegen Matthias B., ebenfalls ehemaliger NPD-Politiker, wegen Mittuns beim „Schelm“ Anklage erhoben. Allen dreien wird nicht nur die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen, sondern auch Volksverhetzung. Zusammen sollen sie etwa 46.000 Schriften mit volksverhetzenden Inhalten verbreitet und mehr als 800.000 Euro umgesetzt haben. Im Sommer wurden Enrico Böhm und Matthias B. festgenommen, saßen jeweils einige Wochen in Untersuchungshaft. Gegenüber den Ermittlern sollen sie sich zu den Vorwürfen geäußert haben. Eine öffentliche Stellungnahme lehnte Böhms Anwalt im Namen seines Mandanten ab.
Für die Behörden ist es – wie sie sagen – unmöglich, zumindest gegen die Internetseite des „Schelms“ vorzugehen. Sie wird von Russland aus gehostet, in einem Land also, von dem deutsche Ermittler wenig Unterstützung zu erwarten haben. Insgesamt sind Verlage wie der „Schelm“ für die rechtsextreme Szene eine wichtige Einnahmequelle – und eine relativ einfache. Für eine Auflage von „Mein Kampf“ ist der Aufwand überschaubar – die Druckfahnen gibt es im Netz. Der „Schelm“ verkauft das Buch für 35 Euro, verschickt es für weitere neun Euro – die Marge dürfte hoch sein, die Verkaufszahlen sind aber unbekannt. Preißinger bettelt, wo er kann, um Spenden, lässt sich etwa auf einer Seite zur Finanzierung kreativer Projekte symbolisch Kaffees ausgeben. Für fünf Euro können „Schelm“-Unterstützer ihm einen „großen Braunen“ kaufen.
Verlage wichtig für rechtsextremistische Gegenkultur
Den Ermittlungen zufolge gibt es derzeit keine Erkenntnisse, dass mit den Einnahmen aus dem „Schelm“ andere rechtsextreme Strukturen in Deutschland finanziert werden. Aber: Kann sich die Szene über Verlage mit rechtsextremen Büchern ausstatten, so hat das in jedem Fall ideellen Wert. Laut Sächsischem Verfassungsschutz ist es ein „wesentliches Element für die Herausbildung einer rechtsextremistischen Gegenkultur“.
Besondere Symbolkraft habe für Rechtsextremisten dabei Lektüre, die aus der Zeit des Nationalsozialismus selbst stammt und als Original, Faksimile und Nachdruck vertrieben wird. Genau das also, was der „Schelm“ hauptsächlich macht.