Hotspots in Connewitz und Reudnitz – „Gehört in Leipzig dazu“: Graffiti an Immobilien schrecken Käufer nicht ab

Kaum fertig gemalert, schon prangt das Gekrakel: Das müssen Baufirmen in Leipzig oft erleben. Einige Viertel sind besonders von Sprayern betroffen – manche Schriftzüge bleiben absichtlich erhalten.

Paule, BSG, 1312, Fako, Lina, ACAB, Lok, 161: Unmengen an Namen, Zahlencodes und Tags, also Graffiti, gehören in vielen Leipziger Stadtvierteln zum Straßenbild. „Mich regt das maßlos auf, wenn diese Leute fremdes Eigentum verdrecken und zerstören, da platzt mir der Kragen“, ärgert sich Astrid. Die 57-Jährige lebt in Taucha und arbeitet seit mehr als 40 Jahren in Leipzig und Umgebung als Malerin. Was sie so sehr ärgert, sind frisch verputzte Fassaden, auf denen kurz nach Fertigstellung Graffiti prangt.

„Es scheint oft so, als würden sie nur drauf warten, bis die Fassade fertiggestellt ist, um dann nachts tätig zu werden.“ Geld und Arbeit würde in die Reinigung fließen – manchmal sei das noch nicht einmal möglich: „Einige der Fassaden kann man nicht einfach übermalen, weil es sich um eingefärbte, denkmalgeschützte Putze handelt.“

Graffiti werden mehr – Anzeigen bei der Polizei weniger

Die Fassadenreinigungsfirma Reinflex mit Sitz in Halle ist regelmäßig in Leipzig unterwegs und säubert durch Graffiti beschmutzte Flächen. „Ein- bis zweimal pro Woche sind wir in Leipzig und Umgebung im Einsatz“, heißt es von der Firma. Eine Entfernung würde bei einer normalen Fassade bei einer Graffiti-Größe von drei Quadratmetern etwa 200 bis 300 Euro kosten. Brennpunkte ließen sich aus ihrer Warte nicht direkt erkennen – Connewitz, Plagwitz, Stötteritz, aber auch die Innenstadt gehören zum Einsatzbereich. Was die Firma dagegen beobachtet: „Wir haben im vergangenen Jahr einen stetigen Anstieg der Graffitiverschmutzungen feststellen können. Was dabei auffällt, ist, dass es immer mehr politische Graffitis werden.“

Sowohl die Malerin als auch die Firma Reinflex sprechen von einem Anstieg der Graffiti. Eine Nachfrage bei der Leipziger Polizeidienststelle kann das nicht direkt bestätigen. Im Jahr 2021 habe sich die Anzahl der angezeigten Sachbeschädigungen durch Graffiti an Gebäuden im Stadtgebiet Leipzig auf 2759 und im Jahr 2022 auf 2444 belaufen. Zum laufenden Jahr gebe es noch keine Zahlen. „Dennoch ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine leicht rückläufige Tendenz erkennbar“, erklärt die Polizei. Dabei würden aber nur die angezeigten Sachbeschädigungen gezählt.

Immobilienfirmen: „Meiden Viertel nicht deswegen“

Die Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft LWB zeigt nicht alle Sachbeschädigungen auf ihren Gebäuden und Neubauten an. „Strafanzeigen werden nur gestellt, wenn sich Hinweise zu Verursachern durch Tags oder Zeugenaussagen ergeben – dies ist eher selten der Fall“, so Pressesprecherin Samira Sachse. Verfassungsfeindliche Inhalte würden dagegen generell angezeigt. Obwohl die LWB den Schaden auf 20 000 Euro beziffert, lohne sich keine zusätzliche Überwachung. Die Kosten dafür würden die Reinigung für die vereinzelt aufkommenden Tags übersteigen. Gleichzeitig beobachtet die LWB: „Die Fläche, auf der Graffitis beseitigt werden, ist seit 2022 deutlich angestiegen.“

Daniel Schulze von der Immobilienagentur Künne vermutet bestimmte Schwerpunkte: „In den Stadtteilen, wo die drei Fußballclubs beheimatet sind, kommt es eher zu entsprechenden Graffiti.“ Auch in den urban geprägten Vierteln wie Connewitz und Plagwitz seien die Schriftzüge verbreiteter als im Musik- oder Waldstraßenviertel. Die Agentur verfolgt dabei den Ansatz: Schnelle Entfernung schützt vor weiteren, denn: „Wo eins ist, kommen meist andere hinzu“, erklärt Schulze weiter.

Duldung und Pragmatismus – aber auch Frust

Auch die Immobilienfirma Ziegert hat immer wieder mit Graffiti auf ihren Gebäuden zu tun, vor allem in Reudnitz – verfolgt aber einen anderen Ansatz. „Wir entscheiden von Fall zu Fall, wie wir damit umgehen. Es gibt Immobilien, bei denen wir nichts entfernen, da es zum Erscheinungsbild des Viertels dazugehört“, beschreibt Christoph Michler die Lage in Leipzig. Wie auch für LWB und Künne sind die Graffiti-Hospots kein Grund für die Firma Ziegert, von diesen Orten abzusehen. „Konkrete Konsequenzen wie Security oder bestimmte Viertel zu meiden, ziehen wir nicht – das Thema gehört einfach zu Leipzig dazu.“ Für Kaufinteressenten würden die potenziellen Graffiti das nur eine untergeordnete Rolle spielen. „Eigennutzer als auch Kapitalanleger kennen das aus Leipzig – und es ist kein Ausschlusskriterium“, schließt Michler.

Einen sehr pragmatischen Weg ging bis vor ein paar Jahren noch der Neustädter Markt e. V. im Osten Leipzigs. „Wir vom Verein haben gemeinsam mit Sozialstundenleistenden einen Eimer Farbe genommen und die Graffiti auf den Fassaden im Viertel übermalt“, erzählt der zweite Vorsitzende des Vereins Silvio Olijnyk. Die Farbe wurde von einer Firma gespendet und die Mieter und Eigentümer im Viertel seien sehr dankbar gewesen. „Diejenigen, die nicht wollten, hatten wir auf einer kurzen Liste vermerkt.“

Doch die Stadt Leipzig habe vor ein paar Jahren einen Riegel vorgeschoben. „Irgendwann kam ein Anruf, wir sollten das unterlassen, es gäbe extra Reinigungsfirmen dafür.“ Das würde man merken: „Früher sah es hier noch vernünftig aus, heute ist es katastrophal.“


08.01.2019

Begegnung mit dem Leipziger Graffiti-Künstler Snow

Wer Leipzig kennt, kennt auch Snow – bereits seit den 90er-Jahren verteilt er seine Schriftzüge über die Stadt. Auf der Suche nach Motivation und Identität des Graffiti-Künstlers hat unsere Autorin recht früh eine Entdeckung gemacht: Snow ist gar kein Einzelner, sondern eine Gruppe – und vor allem eine Idee.

Ein paar E-Mails wurden schon ausgetauscht in den vergangenen Wochen. Seit der letzten steht die Anfrage für ein Treffen und ein Interview im Raum. Doch seit einer Woche herrscht Funkstille. Drang die letzte Mail vielleicht zu tief in die sorgsam gewahrte Anonymität von Snow? Fragt man die Leute danach, wer hinter dem Pseudonym steckt, bekommt man in der Regel nie die gleiche Antwort. Diverse Zeitungen berichteten bereits von ihm. Mal war er jung, mal alt, mal im Gefängnis. Ein befreundeter Sprayer, der schon viele Jahre aktiv ist, kennt viele Gerüchte, aber selbst er hat Snow nie getroffen. Snow ist sicher, weil ihn eigentlich keiner kennt. Vielleicht will er sich das bewahren und hat kein Interesse an einem Treffen?

Doch dann klingelt das Telefon, eine unterdrückte Nummer, natürlich. Es meldet sich ein Harry und wir vereinbaren einen Termin für das Interview. Große Überraschung, zum Schluss sagt er noch: „Wir werden alle da sein!“.

Anlässlich eines Buchprojekts über Snow hat er sich bereit erklärt, ein paar Fragen zu beantworten – Fragen zum Künstler Snow. Klar, Graffiti ist Sachbeschädigung, aber es ist darüber hinaus eine knapp ein halbes Jahrhundert alte Kunstform. Und Snow? Er ist zufällig einer der Pioniere der deutschen Graffiti-Szene.

Freitagabend – Treffpunkt ist einer dieser angesagten Kneipen in der Eisenbahnstraße. Harry wartet schon und navigiert uns zum Tisch. Dort sitzt eine Hand voll Leute. Bei den ersten Gesprächen wird gleich klar: Der Herr mit Käppi rechts ist so etwas wie der Kopf der Bande. Im Laufe des Abends hat er den höchsten Sprechanteil. Zur großen Überraschung teilt er mir gleich am Anfang mit, dass das Interview nur per Mail stattfinden wird. Heute wollte man sich nur vergewissern, ob statt einer Journalistin die Polizei auftauchen würde. Nach einer Stunde versichert man sich die gegenseitige Sympathie und eine gute Zusammenarbeit, nimmt Abschied. Fazit des Abends: Snow ist eine Gruppe.

Keiner der aktiven Snows ist älter als 35

In den kommenden Wochen gehen viele Mails hin und her. Viele davon stammen aus der Feder meines Sprayer-Kumpels (vielen Dank an dieser Stelle), der einfach besser über die Materie bescheid weiß. Wir schreiben über die Anfänge der Graffiti-Kultur. Snow selbst hat die Hochburgen der Kunstform besucht: „Im Mekka von Graffiti, New York City, so wie in wichtigen Städten für europäische Graffiti wie Paris, Amsterdam und Berlin haben wir natürlich unsere Spuren hinterlassen.“ Es ist bestimmt spannend in die Geburtsstätte der eigenen Kultur zu pilgern und die ersten Graffiti zu sehen. Doch auch Leipzig hat ein bisschen Geschichte zu bieten.

Als Leipziger Urgestein der Szene kennt Snow Orte, wo sich Graffiti der ersten Generationen befinden: „An alten Brücken an der S-Bahnstrecke sind noch einige zu finden. Da stört es wohl keinen weiter. An der S-1-Line zwischen S-Bahnhof Gohlis und Coppiplatz sind welche aus den 90ern.“ Okay, Snow ist zwar seit Anfang an dabei, aber Hand aufs Herz. Bei dem Treffen kam man nicht umhin festzustellen, dass keiner der aktiven Snows älter als 35 Jahre war. Auf die Frage, ob Snow noch aus den selben Mitgliedern wie am Anfang besteht oder ob es einen Generationenwechsel gab, resultiert eine offen gehaltene Antwort: „Leute kommen, Leute gehen. Manches verändert sich, manches bleibt“.

Doch bei genauerem Nachdenken ist die Antwort gar nicht so nichtssagend, wie sie scheint: Damals in der Kneipe erzählte der echt sympathische Herr mit Käppi in einem anderen Zusammenhang, dass fürs Sprayen jugendlicher Leichtsinn von Nöten sei. Sobald man älter sei, familiäre Verpflichtungen habe, seinen Job behalten wolle und auch körperlich nicht mehr so fit sei, sei es für die meisten Sprayer an der Zeit, sich zur Ruhe zu setzen. Das Risiko sei dann zu groß, erwischt zu werden. Der Lifestyle sei mit dem Leben eben nicht mehr vereinbar, genauso wenig wie die ganze Nacht auf Gerüste und über Zäune zu klettern.

Gefährlichstes Projekt in Moskau

Offensichtlich geht diese Art von Kunst mit Adrenalin einher, dem Kick, die „illegale Leinwand“ rechtzeitig unbeschadet zu verlassen. Spielt das Maß an Sachbeschädigung eigentlich eine Rolle? Snow windet sich gekonnt aus der Schlinge, als er antwortet: „Die Beschädigung einer Sache liegt nicht in unserem Interesse. Wir verändern eine Sache. Sachveränderung passt besser.“ Als Königsdisziplin in der Szene gelten sogenannte „Wholetrains“. In kurzer Zeit werden dabei alle Waggons eines Zugs mit einem großen Bild verziert. Darum bezeichnet Snow den „Wholetrain“, den er in der Moskauer Metro gefertigt habe, auch als sein gefährlichstes und aufwendigstes Projekt.

Der eine oder andere Leser wird nun mit dem Kopf schütteln und Graffiti als reinen Vandalismus abtun. Doch eines ist sicher: Kunst ist nicht nur schön und auf Leinwand. Kunst erscheint in vielerlei Gewand. Schaut man sich Orte an, an denen viele Graffiti zu finden sind, konzentrieren sich dort häufig Kreative. Was wäre New York ohne dies Kunst, die Ausdruck eine Jugendkultur war und ist? Durch Graffiti werden Abrisshäuser zu farbenprächtigen Fantasieschlössern, zu imposanten Freilichtmuseen.

Snow hat es sich zur Aufgabe gemacht, die eigenen Signatur als Grundlage seiner Kunst zu machen. Wer sich schon immer gefragt hat, wofür der Name steht: „Wir wollten immer möglichst viel und in allen Richtungen unserer Umgebung malen. Ein Akronym aus den Himmelsrichtungen ergibt SNOW und da niedergegangener Schnee auch alles überdeckt, passt dies wiederum zu dem ersten Gedanken.“

Verschiedene Künstler, verschiedene Stile

Dabei hat Snow sich in seiner Kunstform weiterentwickelt. Kennt man von früher die fasadengroßen „Bombings“ in chrom und schwarz und die mit Filzstift schnell hingeschriebenen kleinen Signaturen oder „Tags“, gibt es heute viele verschiedene Stile. Regenbogenfarbene verschnörkelte Werke, die an den sogenannten „Wild-Style“ erinnern, sind inzwischen genauso zu finden wie „Blockbuster“ und dicklich runde „Bubble“-Writings. Damit ist aber nur ein kleiner Teil von Snows zwischenzeitlichem Spektrum genannt. Außerdem kann man seine Kunst als Oldschool bezeichnen.

Logistisch ist die Fülle an Graffiti, die er produziert, aber sicher schwer zu stemmen. Snow erklärt, dass die Quantität möglich ist, weil hinter den verschiedenen Stilen auch verschieden Künstler stecken. Dennoch gibt es bei Snow seit eh und je einen stilistischen roten Faden. Er orientiert sich an den Klassikern des Style-Writings. Man kann eine klare Grenze zu moderneren Arten der Kunst ausmachen. Keine Banksy-Schablonen und politischen Parolen haben sich bei seinen Pieces eingeschlichen. „Strictly the dirty Streetlevel!“ definiert Snow selbst seinen Stil, kein Schi-schi, straßentaugliche Stücke sollen es bleiben. Gleichzeitig hat Snow einen hohen Anspruch an sich selbst: „Für uns ist eine Spannung, Stabilität und Formsprache wichtig.“

Doch wo kommt die Faszination für das Verzieren von Buchstaben her? Ist es nicht anspruchsvoller, Bilder zu kreieren, als immer wieder das gleiche Wort zu sprayen? Snow sieht da keinen großen Unterschied: „Das ist doch dasselbe. Jene, die gegenständliche Bilder malen, signieren diese ja auch. Somit ist der Verfasser bekannt, was diesem wohl auch wichtig erscheint. Jeder, der sein Werk mit seinem Namen verbindet, ist ein Narzisst. Da nehmen wir uns nicht heraus.“ Außerdem sei seiner Meinung nach die Macht der Schrift nicht zu verachten: „Sie definiert uns Menschen. Geschriebenes bekommt eine größere Bedeutung und verbleibt länger im Bewusstsein.“

Jeder kann Snow sein

Er schreibt in dem Zusammenhang auch vom Glauben. Klingt erstmal sehr spirituell für eine Sprayer-Gang ‚straight from the street’, bis einem die großen „Religion called Snow“-Pieces in manchen Stadtteilen auffallen. Sieht sich Snow als Graffiti-Missionar? Mag sein. Auf die Frage in einer der letzten Mails, wie man eigentlich Mitglied des Snow-Teams wird und ob es mit obigen Gedankengang zusammenhängt, antwortet Snow: „Wir wollen nicht zu viel verraten, aber jeder kann/soll machen, wie er/sie es gerne möchte.“ Antworten auf diese und andere Fragen liefert vielleicht ja noch das in Arbeit befindliche Buch über Snow. Immerhin wissen wir jetzt: Jeder kann ein Snow sein!

Worum geht es genau in dem Buch? Snow hat es für uns zusammengefasst: „Der Fokus des Buches liegt auf den Arbeiten der letzten vier Jahre in Leipzig. Der Arbeitstitel ist ‚all city’, ein adaptierter Begriff der Graffiti-Urväter New Yorks, welcher dafür steht, im gesamten Stadtgebiet präsent zu sein. Bezogen auf Leipzig als Hauptschaffensgebiet wird deshalb in jedem Stadtteil ein SNOW zu finden sein, eine Art Gesamtkunstwerk. Es wird neben Abbildungen umfangreiche Texte geben und das Phänomen etwas deutlicher beleuchtet werden. Das Buch richtet sich an alle interessierten Leser, Liebhaber und Hater. Es ist Zeit, für eine weitere Ansage!“

www.snow21.de

Von Pauline Szyltowski