Bekommen in Leipzig Geflüchtete wirklich eher eine Wohnung als Obdachlose?
Norbert (65) lebt in Leipzig auf der Straße. Im LVZ-Beitrag hat er gesagt, dass er es ungerecht findet, wenn Geflüchtete eher Wohnraum bekommen als Obdachlose. „Das ist nicht der Fall“, widerspricht die Leiterin des Leipziger Sozialamtes.
Der Satz fiel frei von Groll und Zorn. Aber er hat Reaktionen ausgelöst – Reaktionen bei Leserinnen und Lesern, die sich zwischen Empörung und Zweifel bewegen. Im LVZ-Beitrag „Ich wünsche mir mehr Respekt“ vom 4. November sagt der obdachlose Norbert (65) über Leipzig und eine Heimstatt für Leute wie ihn: „Auch wenn ich völlig verstehe, dass Geflüchtete ein sicheres Leben suchen, finde ich es ungerecht, dass sie eher Wohnraum bekommen als wir.“ Stimmt das? Haben Menschen wie Norbert, der seit knapp zwei Jahren auf der Straße lebt, schlechtere Karten als Schutzsuchende aus Krisenregionen, wenn es um die Sehnsucht nach einem eigenen Dach über dem Kopf geht?
„Das ist nicht der Fall“, betont Martina Kador-Probst, die Leiterin des Leipziger Sozialamtes, klipp und klar. „Die Ausgangslage für Obdachlose und Geflüchtete ist gleich schwierig.“ Schwierig deshalb, weil der Leipziger Wohnungsmarkt nach wie vor überhitzt ist. „Durch die Förderung des sozialen Wohnungsbaus befinden sich Bund und Länder zwar auf einem guten Weg, doch es müsste auch bei uns mehr bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung stehen, ganz klar“, sagt die Behördenchefin mit Blick auf die wachsende Zahl von Haushalten mit niedrigem Einkommen. „Kommen dann noch weitere Problemlagen wie Drogensucht oder psychische Erkrankungen hinzu, ist der Bezug von eigenem Wohnraum fast aussichtslos.“ Daher gelte es, bei den Vermieterinnen und Vermietern um Verständnis für die mitunter verzweifelte Situation wohnungsloser und wohnungssuchender Menschen zu werben.
„Letztlich liegt die Entscheidung, wer einzieht, beim Vermieter“
Wie aber steht es tatsächlich um die beiden sozialen Gruppen, um Nichtsesshafte und Menschen auf der Flucht, wenn es um die Suche nach Wohnraum in Leipzig geht?
Geflüchtete werden im Regelfall zunächst einmal in den mehr als 40 Gemeinschaftsunterkünften, seltener in einer der rund 800 Gewährleistungswohnungen der Stadt Leipzig untergebracht. „Die Gemeinschaftsunterkünfte sind momentan eher Notunterkünfte wie Zelte oder Leichtbauhallen“, erläutert Martina Kador-Probst. Schutzsuchende aus der Ukraine oder Geflüchtete aus anderen Ländern haben unter bestimmten Voraussetzungen – etwa dass sie im Besitz eines Aufenthaltstitels sind, der noch länger als ein Jahr gilt – die Möglichkeit, beim Sachgebiet Soziale Wohnraumversorgung des Sozialamtes einen Wohnberechtigungsschein zu beantragen. Ein Vermieter, der geförderten Wohnraum besitzt und aufgrund dessen bestimmte Haushalte versorgen muss, weiß anhand dieses Scheins, dass der Mietinteressent nur über ein sehr geringes Einkommen verfügt oder dass die Kommune die Kosten der Unterkunft trägt. „Letztlich aber liegt die Entscheidung, wer einzieht, beim Vermieter“, sagt die Amtsleiterin.
„Die Vergabe von Wohnungen erfolgt diskriminierungsfrei“
Zu denen, die einkommensarmen Menschen Wohnraum anbieten, gehört mit der kommunalen Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft (LWB) auch Leipzigs größter Vermieter. LWB-Sprecherin Samira Sachse stellt klar, dass es keine Rolle spiele, ob der Mietinteressent bislang wohnungslos war oder einer Flüchtlingsunterkunft entstammt. „Die Vergabe von Wohnungen erfolgt diskriminierungsfrei“, sagt sie. Ein Vergabegremium, das mehrmals in der Woche zusammenkommt, entscheide in Fällen, in denen es für eine Wohnung mehrere Interessenten gibt, anhand „verschiedener sozialer Kriterien. Bei Obdachlosigkeit liegt die höchste Dringlichkeit vor.“
Außerdem stellte die LWB – im Auftrag der Stadt Leipzig – im Rahmen des Projekts Housing First speziell für obdachlose Menschen momentan 30 Wohnungen zur Verfügung. Housing First ist eine von 36 Maßnahmen, die im „Fachplan Wohnungsnotfallhilfe 2023 bis 2026“ aufgeführt sind. Mit dem Modell hat es Finnland geschafft, die Obdach- und Wohnungslosigkeit in dem skandinavischen Land auf ein Minimum zu reduzieren. In Leipzig wird Housing First seit dem Jahr 2021 verfolgt. Es könnte laut Sozialamtschefin Martina Kador-Probst in der Messestadt bis 2026 erweitert werden – auf 50 Plätze. Das Prinzip dahinter: Erst kommt die Wohnung, dann alles andere. Das feste Dach über dem Kopf soll ein Schutzraum sein, um Mut und Kraft zu sammeln für die anderen Baustellen des Lebens – sei es der Abbau des Schuldenberges oder die Befriedung einer prekären familiären Situation.
„2022 war Wohnraum da“
Darüber hinaus fördert die Stadtverwaltung die Kontaktstelle Wohnen des eingetragenen Vereins Zusammen, der sich in Leipzig sowie in den Landkreisen Leipzig und Nordsachsen dafür einsetzt, dass Geflüchtete auf dem freien Immobilienmarkt eine Bleibe finden. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in den mehr als 40 Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete und den fünf Obdachlosenübernachtungshäusern in Leipzig sind gleichermaßen Ansprechpartner, wann immer sich jemand danach sehnt, in eigene vier Wände zu ziehen.
Bemerkenswert und für Leipzigs Sozialamtsleiterin Martina Kador-Probst auch ein wenig überraschend: Die meisten Schutzsuchenden aus der Ukraine kamen im vergangenen Jahr, dem Jahr des Überfalls Russlands auf ihr Heimatland, in der Messestadt in Privatwohnungen unter und mussten daher nicht in Unterkünfte der Kommune. „2022 war Wohnraum da. Damals haben wir etliche Mails und Briefe von Leuten erhalten, die Ukrainerinnen und Ukrainern Wohnungen zur Verfügung stellen wollten. Dieses bürgerschaftliche Engagement und die vielfache Aufnahmebereitschaft haben uns als Stadt natürlich sehr geholfen. Nichtsdestotrotz gibt es noch immer die große Gruppe Geflüchteter aus anderen Ländern, für die wir ebenfalls bezahlbaren Wohnraum suchen“, sagt Martina Kador-Probst. „Vor dem gleichen Problem stehen Menschen mit Behinderungen.“
Die Behördenchefin hofft hier und da auf neue, auf einfachere Wege, um ihren Klientinnen und Klienten mehr bezahlbaren Wohnraum anbieten zu können. „Wir könnten gegebenenfalls Kooperationen mit einzelnen Wohnungsgebern vereinbaren und diese finanziell fördern.“ Aber auch hier scheiterten Wohnungslose häufig an Hürden, beispielsweise an ihren Schulden. „Eine weitere Reform des Insolvenzrechts, wie im Jahr 2020 schon einmal geschehen, würde dazu beitragen, dass die Haushalte schneller schuldenfrei werden“, schlägt Martina Kador-Probst vor.