„Manchmal schweigen ganze Dörfer“: Häusliche Gewalt in Nordsachsen – Kinder sind zunehmend betroffen

Kontrolle, Demütigung, Prügel: Häusliche Gewalt hat viele Gesichter. Die Zahlen steigen und auch die Formen der Gewalt wandeln sich, berichtet die Fachstelle für Nordsachsen in Torgau – und manchmal schweigen ganze Dörfer zu Tätern.

227 Menschen hat die Beratungsstelle für häusliche Gewalt in Torgau vergangenes Jahr beraten. Sie alle waren in irgendeiner Form von Gewalt betroffen, sei es körperliche oder sexualisierte, psychische oder finanzielle Gewalt – oft auch von mehreren gleichzeitig. „Die Fälle werden immer komplizierter“, sagt Stefanie Thieroff. Sie ist Sozialpädagogin bei der Beratungsstelle für häusliche Gewalt in Torgau, die für den gesamten Landkreis Nordsachsen zuständig ist.

Die Gewalt vereine dabei immer drei Komponenten: eine Beziehung zwischen betroffener und gewaltausübender Person, eine bestehende Abhängigkeit, beispielsweise zwischen Eltern und Kind oder Mann und Frau, und ein Machtgefälle, indem eine Person die andere dominiert. Das Landeskriminalamt (LKA) Sachsen stellt auf Anfrage dieser Zeitung Zahlen für das Jahr 2022 bereit: In den häufigsten der 9381 Fällen sind die Opfer Frauen (72 Prozent), während 77 Prozent als männliche Tatverdächtige festgestellt wurden.

Mehr Kinder kommen wegen häuslicher Gewalt in die Beratung

Die vom deutschen Kinderschutzbund betriebene Beratungsstelle spricht immer öfter mit Kindern als Opfer oder Zeugen häuslicher Gewalt. 256 waren im Jahr 2022 betroffen. „40 davon haben wir beraten. Oft halten es Eltern nicht für nötig, wenn Kinder nicht direkt in der Situation dabei waren. Trotzdem kann dadurch ihre Entwicklung beeinflusst werden.“

Die Tendenz steigt: Im laufenden Jahr hat Thieroffs zuständige Kollegin bereits 62 Kinder beraten. Das LKA stellt für ganz Sachsen 2933 Fälle innerfamiliärer Gewalt im Jahr 2022 fest, mit 3295 Opfer. Darunter waren 39 Prozent der Opfer die Kinder der Tatverdächtigen.

Laut LKA Sachsen sind im Freistaat die Zahlen von Opfern von Straftaten häuslicher Gewalt seit 2018 bis 2022 um mehr als 1200 gestiegen. Nur im Jahr 2021 gab es einen Rückgang. Diesen Eindruck bestätigt auch Thieroff. „Seit wir in Torgau beraten, steigen unsere Zahlen kontinuierlich.“ Das liege aber auch daran, dass die Beratungsstelle bekannter geworden sei und sich die Zusammenarbeit mit der Polizei verstetigt habe.

Das Land schweigt und in der Stadt schlagen erwachsene Kinder

Besonderheiten macht die Sozialpädagogin sowohl auf dem Land als auch in der Stadt aus. „In Torgau haben wir eine wachsende Anzahl von Gewaltbetroffenen, die älter als 60 sind. Dabei sind es die erwachsenen Kinder, die ihre Eltern bedrängen und angreifen. Oft sind dabei noch psychische Krankheiten oder Sucht ein Faktor.“ Auf dem Land dagegen bestehe die Schwierigkeit, die Konflikte überhaupt zu erkennen und das Thema häusliche Gewalt in die Öffentlichkeit zu holen. „Nicht umsonst ist das Motto vieler Träger ,häusliche Gewalt ist keine Privatsache’. In ländlichen Regionen schweigen manchmal ganze Dörfer zu bekannten Gewalttaten.“

Die Beraterin verdeutlicht die Lage: „Ein Beispiel: Der Mann engagiert sich seit Jahren im Dorf und ist dort präsent, die Familie angesehen in der Gemeinde. Die Frau dagegen bleibt zu Hause, kümmert sich um die Kinder und hält sich eher zurück. In solchen Fällen ist es für die Dorfgemeinschaft schwer zu glauben, dass der Mann ein Gewalttäter ist, der seine Frau unterdrückt oder sogar schlägt.“ Entschuldigend werde dann der Täter in Schutz genommen „Der ist halt so“ oder „das wissen ja alle, aber was soll man machen“ seien laut der Sozialpädagogin bekannte Ausflüchte.

Wenn eine von Gewalt betroffene Person den Weg in die Beratung gefunden hat, sei das bereits ein großer Schritt, erklärt Thieroff. „Viele sind davon überzeugt, dass es ihre Schuld ist, wenn sie geschlagen werden.“ Diese „Spirale der erlernten Hilflosigkeit“ bestehe aus der jahrelangen Erfahrung, dass trotz Suche danach niemand den Opfern zu Hilfe kommt. Dieser Zusammenhang ist laut Thieroff überall zu beobachten.

Mögliche Femizide sind Thema

Für viele beginnt die Katastrophe erst nach Ende der Beziehung: Fast die Hälfte der vom LKA erfassten Fälle von partnerschaftlicher Gewalt passierte mit 43 Prozent nach einer Trennung. Das kann Thieroff bestätigen:

„Wenn die Beziehung vorbei ist, denken einige, es gebe nichts mehr zu verlieren und verlieren dann aber die Hemmungen.“ Manche Paare würden versuchen, die Beziehung trotz der Gewalter am Leben zu halten. „In weniger als einem von zehn Fällen klappt das. Oft sind die Opfer zu groß, die die Täter bringen müssten.“

Ein paar Mal ging es bei Thieroff in diesem Jahr sogar um das Überleben der Frauen: „Wir hatten fünf Fälle in Kooperation mit der Polizei, bei denen mögliche Tötungsdelikte an Frauen – also Femizide – im Raum standen.“ Solche Hochrisikofälle seien nie ganz abgeschlossen, sondern würden durch die Behörden kontinuierlich begleitet werden – Pause gebe es nur, wenn Täter in Haft oder Behandlung seien oder die Frauen weit wegziehen.

Obwohl die Förderung erst vergangenes Jahr aufgestockt wurde, kämpfen Beratungsstellen schon wieder. „So schnell wie die Fallzahlen steigen, kommt die Politik gar nicht hinterher, neue Ressourcen festzulegen.“ Das sei jedoch unabdingbar, um die Standards einzuhalten. „Es muss was passieren, sonst kollabiert das System“, appelliert die Beraterin.