Überfall in Sebnitz: „Wir sind hier nicht in Sicherheit“
Für Hussein und seine Familie war Sebnitz nach der Flucht aus Afghanistan ein guter Ort. Bis am vergangenen Wochenende mutmaßliche Neonazis in ihre Unterkunft eindrangen.
Einige Tage nach dem Überfall sitzt Hussein, 18 Jahre, mit seinen Geschwistern auf der Treppe hinter dem Haus. Auch ihr Vater kommt herunter, an Krücken. Sie sind unruhig, vorsichtig. Ihre richtigen Namen sollen nicht im Text erscheinen, keine Fotos, sie haben Angst, erkannt zu werden.
2016 ist die Familie vor dem Krieg aus Afghanistan geflohen. Mutter, Vater, acht Geschwister und die Großmutter. Nach einigen Stationen in Deutschland landeten sie vor vier Jahren in Sebnitz. Sie wohnen in einer Unterkunft für Geflüchtete, ein Mehrfamilienhaus nicht weit entfernt vom Marktplatz. Ein sicherer Ort, dachten sie. Bis letzte Woche.
Hussein erzählt, wie er den Angriff erlebt hat. Es war Sonnabend, kurz nach 22 Uhr, die Familie sei gerade mit dem Abendessen fertig gewesen. Hussein wollte schlafen gehen, als er gehört habe, wie es unten an der Haustür wummerte. Er sei in den Hausflur heruntergegangen, und dort hätten sie vor ihm gestanden: vier junge Männer, zwei mit Sturmmasken vermummt, einer mit einem Stahlhelmsoldaten und Reichsflagge auf dem Shirt. In den Händen eine Stange und einen Hammer.
Hussein habe Ibrahim gerufen, seinen 16-jährigen Bruder. „Dann sind sie direkt auf mich zu, wollten mich schlagen.“ Auch auf Ibrahim seien die Männer losgegangen und hätten dabei rassistische Parolen gerufen. „Scheiß Kanacken. Geht wieder zurück in euer Land.“
„Sie haben Angst“
Als seine Familie und Nachbarn ins Treppenhaus kamen, seien die Angreifer geflohen. Hussein wurde leicht verletzt, er hat Schürfwunden an der Hand und Schmerzen im Rücken. Doch schlimmer, sagt er, sei die Angst. Seine kleinen Geschwister würden nachts nicht mehr ruhig schlafen. „Sie haben Angst, dass diese Leute wiederkommen.“
Die Familie hat die Polizei gerufen. Bis tief in die Nacht wurden ihre Aussagen aufgenommen. Inzwischen wurde ein erster Tatverdächtiger ermittelt, ein 20-jähriger Mann. Identifiziert worden sei er durch ein Video. Ibrahim hat es bei dem Angriff mit dem Handy aufgenommen, in dem kurzen Clip sind zwei der Angreifer zu sehen. Bei einer Hausdurchsuchung habe man „Neonazi-Devotionalien“ bei dem Tatverdächtigen entdeckt, sagt ein Polizeisprecher.
Sebnitz ist eine verschlafene Kleinstadt, knapp 10.000 Einwohner. Der Ort ist beliebt bei Wandertouristen, das Tor zur Sächsischen Schweiz, darauf ist man hier stolz. Anderes ist kompliziert, die vielen leer stehenden Läden in den Seitenstraßen am Markt zeugen davon. Es ist schwierig, Infrastruktur zu erhalten, wenn die Bevölkerung schrumpft, wie in vielen anderen ländlichen Regionen. Auch Rechtsextremismus ist in der Sächsischen Schweiz seit Jahren ein Dauerthema. Die politische Landkarte im Kreis ist blau, die AfD war in den letzten Jahren bei Wahlen oft stärkste Kraft.
Nach dem Überfall auf die Unterkunft gab es bundesweit Schlagzeilen, doch in Sebnitz selbst ist es in diesen Tagen erstaunlich still. Die afghanische Familie bekommt Unterstützung, Menschen aus Sebnitz, Vereine und Sozialarbeiterinnen haben sich bei ihnen gemeldet, um nachzufragen, Hilfe anzubieten. Ein Lichtblick. Doch laute Empörung über den Angriff oder eine vernehmbare Debatte in der Stadtgesellschaft sind nicht zu hören. Wenn man im Rathaus dazu nachfragt, heißt es: Urlaubszeit. Der Oberbürgermeister, ein parteiloser Politiker, ist gerade in den Ferien. ZEIT ONLINE erhält trotz mehrfacher Nachfrage nicht einmal eine schriftliche Stellungnahme.
„Wir haben ja nichts gegen diese Leute“
Die Straße, in der die Unterkunft der Geflüchteten liegt, ist ein kleiner Ausschnitt von Sebnitz. Einige Geschäfte, etliche gepflegte Fassaden, zwischendrin aber auch viel Leerstand, an einigen Ecken Verfall. Wenn man in der Nachbarschaft zu dem Angriff herumfragt, hört man Mitgefühl mit den Geflüchteten. Aber auch das komplette Gegenteil, Desinteresse, zum Teil werden die Migranten unverhohlen abgelehnt.
Eine Nachbarin, sie wohnt neben der Unterkunft, hat von dem Angriff erst in der Zeitung gelesen. „Wir waren geschockt, dass so etwas hier passiert“, sagt sie. Sie habe kaum Kontakt zu den Bewohnern, sehe sie nur immer mal nur auf dem Hof. „Zu uns sind sie immer nett, wir können uns nicht beschweren.“ Von der anderen Nachbarin hört man deutlich andere Töne. „Interessiert mich nicht, was da passiert ist“, sagt sie und winkt ab. „Ob das hundertprozentig bewiesen ist, was hier behauptet wird, ist ja noch gar nicht raus“, sagt ein älterer Mann, auch er wohnt mit seiner Frau im Haus neben den Geflüchteten. Kontakt zu ihnen hat das Paar nicht. „Wollen wir auch nicht“, sagt er. Warum nicht? „Ist doch meine Sache.“
Auf der Straßenseite gegenüber wohnt eine Familie. Auch sie haben vom Angriff erst aus den Nachrichten erfahren. „Ich sage mal so, das war doch nur eine Frage der Zeit, dort ist so viel Lärm und Unordnung“, sagt die Frau, Mitte 60. „Also wenn ich ehrlich bin, habe ich da kein Mitleid“, sagt ihre Tochter, Ende 20. „Die sind doch selbst schuld. Die beleidigen uns auch in ihrer Sprache als Nazis.“ Die Geflüchteten von gegenüber machen so etwas? „Andere. Aber die brauchen sich nicht wundern, wenn sie ein paar auf die Lichter bekommen.“ Na ja, so extrem müsse es nicht sein, wirft der Vater ein. „Wir haben ja nichts gegen diese Leute“, sagt die Mutter noch, „aber die müssen sich bissel unterordnen, bissel anpassen.“
Eine der wenigen Nachbarinnen, die regelmäßig Kontakt zu den Geflüchteten hat, ist eine alte Frau. Sie schwatzt mit der afghanischen Familie, bringt immer mal eine Kleinigkeit hinüber. „Ich mag sie sehr, sie sind nett und freundlich“, sagt sie. Sie habe als Kind viel durchgemacht, sie musste als Sudetendeutsche fliehen, auch deshalb hilft sie den Nachbarn aus Afghanistan.
Von Lärm und Unordnung in der Unterkunft weiß sie nichts. Hussein und sein Bruder Ibrahim kommen zu ihr ans Gartentor. „Wie geht’s euch denn? Ist alles okay?“, fragt die Frau. Sie ist entsetzt über den Angriff. Warum passiert so etwas? Erklären kann sie sich das nicht. „Der Schlimmste im Leben ist der Neid und durch den Neid kommt vielleicht so etwas.“ Ihren Namen will sie nicht in der Zeitung lesen, man müsse aufpassen, zu viel Gerede in der Nachbarschaft. Sie weiß, dass die Migranten nicht bei allen willkommen sind.
Der Angriff in Sebnitz müsse ernst genommen werden, sagt Osman Oğuz vom Sächsischen Flüchtlingsrat. „Er ist kein Einzelfall, weil er im Einklang mit rassistischen Vorfällen und gesellschaftlichen Tendenzen steht, die wir insbesondere in einigen Stadtteilen von Großstädten und in ländlichen Regionen Sachsens seit einiger Zeit beobachten.“ In Gesprächen mit Geflüchteten, die in Städten wie Zwickau oder Bautzen leben, höre er ähnliche Erfahrungen: „Viele Geflüchtete berichten, dass sie sich allein nicht mehr trauen, auf die Straße zu gehen.“
Es gebe einen Rechtsruck in der Politik und Gesellschaft, so Oğuz, und an vielen Orten fehle es an „entschiedenem Gegenwind“ zu solchen Entwicklungen. „Die Hetze gegenüber Geflüchteten gehört auf immer mehr Straßen zur Normalität.“ Der RAA Sachsen, eine Beratungsstelle für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt, registrierte jüngst eine Zunahme der Fälle rechtsmotivierter Gewalt. Für das Jahr 2022 hat die Beratungsstelle 205 solcher Angriffe in Sachsen gezählt. Im Jahr davor waren es 189 Fälle.
Auch in Rosenthal-Bielatal, einem Dorf in der Sächsischen Schweiz, etwa 30 Kilometer von Sebnitz entfernt, wurde erst kürzlich eine Unterkunft für Geflüchtete angegriffen. In dem Haus sind Menschen untergebracht, die besondere Betreuung brauchen, weil sie krank sind oder eine Behinderung haben. Seit zwei Jahren leben dort fünf Geflüchtete aus Syrien. Ein lokales Netzwerk kümmert sich um sie. Doch in den vergangenen Monaten gab es mehrere Angriffe. Der letzte Vorfall war im Juni, Flaschen flogen auf das Haus. Die Polizei ermittelte als Tatverdächtige zwei Jugendliche, 15 Jahre alt.
„Wir machen uns Sorgen, wie wir sie schützen können“
Die Geflüchteten haben nun ihre Sachen gepackt. „Sie haben Angst, sie wollen nur noch weg“, sagt Peter Simon, einer der Helfer vor Ort. Das Netzwerk hat eine Unterkunft im nahen Pirna gefunden und hofft, dass die Menschen dort Ruhe finden. Wie es mit der Unterkunft in Rosenthal-Bielatal weitergeht, weiß Simon nicht. „Vielleicht kommen neue Flüchtlinge, aber wir machen uns natürlich Sorgen, wie wir sie schützen können.“
„Aktuell ist es mir in Sebnitz ein Stück zu ruhig“
Wenn man in Sebnitz herumfragt, hört man auch Zweifel, ob es den Angriff auf die Unterkunft wirklich gegeben hat. Man habe doch in Sebnitz schon mal so etwas erlebt, heißt es bei manchen. Eine Anspielung auf den Fall Joseph: 1997 kam der sechsjährige Joseph, Sohn einer deutsch-iranischen Familie, in einem Sebnitzer Schwimmbad ums Leben. Die Eltern machten damals Rechtsextreme für den Tod ihres Sohns verantwortlich. Es gab viele Schlagzeilen, Sebnitz wurde deutschlandweit als Nazi-Hochburg bekannt. Später stellte sich heraus, dass der Junge bei einem Badeunfall gestorben war. Die Stadt brauchte lange, um diesen Fall zu verarbeiten. Bis heute hängt er nach.
Das weiß auch Paul Löser, 22 Jahre, er ist der einzige Grünen-Stadtrat in Sebnitz und erschrocken über den Angriff in der Geflüchtetenunterkunft. Zweifel, dass das wirklich passiert ist, hat er nicht. Aber auch er bekomme gerade mit, dass manche in der Stadt misstrauisch sind. „Da spielt der Fall Joseph mit rein, das ist ein Trauma in der Stadt“, sagt er. „Das wird von manchen aber auch benutzt, um das, was gerade passiert ist, kleinzureden.“
„Immer ein Schlag ins Gesicht“
Löser mag seine Heimatstadt, er schätzt die guten Dinge hier. Dass es Menschen gibt, die sich zivilgesellschaftlich engagieren, die Hilfe organisieren, sich im Jugendclub kümmern. „Es wird viel geleistet vor Ort. Und es ist immer ein Schlag ins Gesicht, wenn so etwas passiert“, sagt er. Löser sieht aber auch die Probleme mit rechten Kräften, die starke AfD. „Das darf man nicht kleinreden. Es gibt hier Rechtsextremismus, auch in Sebnitz. So wie in vielen anderen Orten auch“, sagt er.
Er beobachtet besorgt, dass Rechtsextreme, flankiert von der Partei Freie Sachsen, für eine Demonstration Mitte August in Sebnitz mobilisieren und Stimmungsmache gegen Migranten betreiben. Gegenwind? Gibt es in Sebnitz bisher kaum. „Es ist nicht einfach, wie man mit so etwas umgeht. Ein schmaler Grat zwischen Ignorieren und zu sehr Aufbauschen“, sagt er. „Aber es sollte schon eine klare Positionierung gegen solche Vorfälle geben. Aktuell ist es mir in Sebnitz ein Stück zu ruhig.“
Die afghanische Familie will jedenfalls die Stadt verlassen. Sie haben bereits bei Behörden nach einer anderen Unterkunft gefragt. Hussein beginnt bald ein Freiwilliges Soziales Jahr, danach will er sich zum Krankenpfleger ausbilden lassen. Seine älteste Schwester, 19 Jahre, will bald eine Lehre als Optikerin anfangen. Doch nicht mehr in Sebnitz.
Seine Schwester fährt jeden Tag zur Schule in einen kleinen Ort in der Nähe. Weil sie Kopftuch trägt, höre sie ab und zu rassistische Sprüche. Daran habe sie sich gewöhnt. „So etwas geht bei mir in ein Ohr rein, aus dem anderen wieder raus“, sagt sie. Aber der Angriff auf das Haus, auch sie hat die Männer im Treppenhaus gesehen, hat sie schockiert.
„Dieser Abend war einfach nur beschissen. Wir sind hier nicht in Sicherheit. Wir müssen weg.“ Ihr Bruder Hussein nickt: „Hier gibt es zu viele Leute, die keine Ausländer mögen.“