Berlin/ Nach sexualisierter Gewalt: Der Umgang eines Umfeldes und der kollektive Verantwortungsübernahme-Prozess

Einleitende Worte: Das Kollektiv rückt in den Vordergrund

Inhaltshinweis: Im vorliegenden Text wird der Umgang eines Umfeles nach einem Outcall über sexualisierte und psychische Gewalt thematisiert. Der Aufarbeitungsprozess von der gewalterfahrenen Person sowie des Umfeldes stehen im Vordergrund, nicht die erlebte Gewalt. Im Schlussteil wird Bezug auf Johannes Domhöver genommen.

Dieser Text ist keine Handlungsanweisung, wie Aufarbeitungs- oder kollektive Verantwortungsübernahme-Prozesse generell laufen müssen oder sollen, sondern ein Bericht aus der Praxis der gewalterfahrenen Person (Anne) und ihrer Unterstützungsgruppe. Die hier vorgestellte Praxis ist nicht allgemeingültig anwendbar.  Der Text richtet sich an Umfelder von gewalterfahrenen Personen.

Mit diesem Text wollen wir transparent machen, was wir bislang nicht öffentlich ausgehandelt haben, um uns an geführten Diskursen zu beteiligen, kritische Diskussionen weiterzuführen und die praktische Arbeit mit „Transformative Justice“-Konzepten vorzustellen.
Was Transformative Arbeit ist kann u.a. hier nachgelesen werden: https://www.transformativejustice.eu/de/ressourcensammlung/

Nachdem 2021 ein Outcall einer gewalterfahrenen Person, wir nennen sie an dieser Stelle Anne (Frau*, weiß, Lower Class Background), über sexualisierte, manipulative und psychische Gewalt seitens Alexander (auch dieser Name wurde geändert; Cis-Mann, weiß, Lower Class Background) intern in linksradikalen Strukturen in Berlin verbreitet wurde, gab es im Zuge dessen teils miserable Reaktionen des Umfeldes. Trotz dessen gab es aber auch einen erfolgreichen (!) kollektiven Verantwortungsübernahme-Prozess und vor allem einen guten Abschluss für Anne mit der erlebten Gewalt.

Dieser Text wurde von Anne und ihrer Unterstützungsgruppe verfasst. Wir schreiben aus unserer Perspektive. Wir werden zunächst darauf eingehen, 1. weshalb es überhaupt zu einem internen Outcall kommen musste, 2. die Entscheidung zwischen öffentlichen und internen Outcall vorstellen, um 3. auf den Prozess der kollektiven Verantwortungsübername, u.a. bekannt als Transformative Justice-Arbeit (folglich TJ), einzugehen. Die TJ-Arbeit fand in einem organisierten Rahmen statt, dennoch gab es auch immer wieder Einflüsse des nicht aktiv daran teilhabenden Umfeldes. Diese werden wir innerhalb des dritten Punktes vorstellen, weil sie für den gesamten Prozess der Aufarbeitung sexualisierter/patriarchaler Gewalt eine wesentliche Rolle spielten. Im 4. Punkt werden wir Machtverhältnisse innerhalb von Strukturen zwischen Cis-Männern und FLINTA* und unterschiedliche Machtpositionen von gewalterfahrenen Personen thematisieren. Zum Ende stellen wir den Abschluss eines Prozesses für Anne sowie unser Fazit daraus vor.

Um nachfolgende Schilderungen einordnen zu können, ist es wichtig anzumerken, dass Anne und Alexander eine jahrelange Freundschaft verband und ihr Umfeld sich teilweise überschnitt. Das Umfeld ist größtenteils weiß und cis-heteronormativ. Alexander hatte bis zum Outcall bei vielen Personen einen höheren Status als Anne.

Ihr gemeinsames Umfeld überschneidet sich auch mit dem im Oktober 2021 öffentlich geoutcallten Vergewaltiger Johannes Domhöver (vgl.https://de.indymedia.org/node/156448, im Folgenden JD). Wir haben uns sehr bewusst dazu entschlossen, diese Information nicht nur an dieser Stelle transparent zu machen, sondern auch am Ende dieses Textes noch einmal ausführlicher auf die Überschneidung einzugehen. Der Hauptgrund dafür ist, dass u.a. dieses Umfeld in diesem Prozess teilweise gänzlich gleiche, teilweise aber auch andere Verhaltensweisen im Zuge der Thematisierung von sexualisierter Gewalt zeigte. Wir werden u.a. sexistische Dynamiken und Verhaltensweisen, die sich in beiden Prozessen ähneln offenlegen, um den Mythos des Einzellfalls zu entlarven und um an bestehenden Diskursen darüber anzudocken. Ebenso werden wir auf Dynamiken und diverse Verhaltensweisen des Umfeldes eingehen, um zu zeigen, dass auch innerhalb eines sozialen Kontextes stark unterschiedliche Reaktionen und Positionen existieren können.

Für eine zukünftige feministische Praxis erhoffen wir uns an positiven Veränderungen festhalten und an ihnen weiterarbeiten zu können.

1. Hintergrund: Was kurz vor dem Outcall 2021 geschahKonfrontation der gewaltausübenden Person

Kurz bevor Anne den Outcall intern streute, traf sie Alexander und konfrontierte ihn mit seinem Verhalten. Sie erklärte ihm, was daran übergriffig war. Dass sie Alexander damit konfrontierte und der Gewalt, die ausgeübt wurde, einen Namen gab (sexualisierte, verbunden mit psychischer, manipulativer Gewalt) empfand sie als empowernd. Weil Alexander ihr bei dem Treffen aber durch verschiedene Reaktionen suggerierte, entweder das Gesagte nicht zu verstehen oder die Gewalt sogar zu verleugnen, erklärte sie ihm in Folge dessen im Detail, welches Verhalten zu welchen Zeitpunkt übergriffig war. Im Nachhinein betrachtet war dies das Gegenteil von Empowerment. Sie kam in eine Rechtfertigungsposition, in der sie das Gefühl vermittelt bekam, dass ihr keine Gewalt angetan worden ist.

Wir erwähnen das, weil es immer wieder die Debatte gibt, ob gewaltausübende Personen mit dem konkreten Übergriff konfrontiert werden müssen. Unserer Erfahrung nach wird von gewaltausübenden Personen leider häufig nicht verstanden, was an ihren konkreten Handlungen gewalttätig war. Dementsprechend scheint es oft aussichtslos, ihnen ihr Verhalten aufzuzeigen, wenn diese Konfrontation nicht in einem gesamten Prozess der Aufarbeitung (in diesem Fall) patriarchaler/sexualisierter Gewalt eingebettet ist.

Dem gegenüber übernehmen FLINTA* oft Bildungsarbeit, heißt sie erklären Cis-Männern überdurchschnittlich oft, was an ihrem Verhalten gewalttätig ist. Dieses „sich ständig wiederholen müssen“, weil das Gegenüber es nicht versteht, kann ein Ohnmachtsgefühl auslösen, wie es bei Anne passiert ist. Aus diesem Gefühl heraus kam sie in Erklärungs- also Rechtfertigungsnot, was die Ohnmacht nochmals verstärkte.

Es hätte nicht dazu kommen müssen – das Schweigen von Gewalterfahrenen hören

Exkurs: Dass es überhaupt zu einem Outcall kommen musste zeigt auf, dass der Umgang mit sexualisierter und psychischer Gewalt in Annes Umfeld kein emanzipatorischer war. Anne hätte von einem Outcall absehen können, wenn sich ihr Umfeld solidarisch gezeigt hätte, wenn sie gehört worden wäre. Oft verlangen wir von gewaltererfahrenden Personen, dass sie sprechen (zur problematischen Normierung des „Brechens des Schweigens“ siehe Punkt 3.2), haben aber eigentlich nie richtig zugehört. Wie oft haben wir schon gehört dass „der Sex schlecht war“, dass „man mit einer Person körperlich wurde, es aber nicht nochmal machen würde“? Dass „dieser Typ gar nicht geht, man sollte sich lieber von Ihm fernhalten?“. Dass eine Person X mit Person Y auf keinen Fall auf einem Plenum sitzen möchte?

Gewalterfahrene Personen sprechen eigentlich viel öfter über ihre Gewalterfahrungen, als wir es hören wollen. Hört deswegen richtig zu! Ein Outcall ist auch immer die Folge eines Umfeldes, in dem das Sprechen über sexualisierte Gewalt zuvor auf taube Ohren gestoßen ist. Gewalterfahrene Personen werden somit gezwungen, laut zu werden. Logischerweise sind sie auch darauf angewiesen, überhaupt laut sein zu können.

2. Outcall 2021

2021 streute Anne einen internen Outcall über Alexander. Alle, die Alexander kannten, sollten den Outcall lesen. U.a. hieß es darin, dass er sich eine Aufarbeitungsgruppe suchen solle. In dem Zuge wurden auch die Machtpositionen von vielen Cis-Männern bzw. generell Machtverhätnisse innerhalb linksradikaler Strukturen problematisiert und vom Umfeld eingefordert, sich damit kritisch auseinanderzusetzen und Verantwortung zu übernehmen.

Explizit wurde kein Ausschluss aus der Szene gefordert, dafür aber: „Ich fordere auch, dass du deine Machtposition innerhalb der Strukturen aufgibst: gehe nicht mehr als Delegierter zu Treffen, halte keine Vorträge, Veranstaltungen usw. Alles, womit du weiter Macht, Einfluss und Ansehen generieren kannst, gibst du ab.“

Alexander sollte außerdem über die sexualisierte Gewalt, die konkret stattgefunden hat, nicht sprechen. Ebenso sollte er sich von Anne fernhalten und keine Orte aufsuchen, an denen sie sein könnte.

Für Anne gab es zwei wesentliche Gründe, weshalb der Outcall nicht öffentlich gemacht werden sollte.

1. Primärer Grund war das Zugeständnis, dass Veränderungen bei ihm und seinem Umfeld möglich sind, ohne dass die Öffentlichkeit mit hinzugezogen werden muss.

2. Dabei spielte auch die Sorge eine Rolle, dass Bullen bzw. Behörden einen öffentlichen Outcall für ihre Arbeit und eventuelle Strafverfolgung nutzen könnten.

Exkurs Sinn und Zweck von internen/öffentlichen Outcalls:

Outcalls verfolgen das Ziel, zukünftige Übergriffe auf die sprechende gewalterfahrene Person selbst oder andere Menschen zu verhindern. Ein Outcall soll also die Wirkung entfalten, weitere Gewalt präventiv zu verhindern. Das gilt aber nur dann, wenn das Sprechen insofern gelingt, als das es gehört und anerkannt wird und daraus echte praktische Konsequenzen gezogen werden. Das hängt wiederum wesentlich von den Zuhörer*innen und deren Reaktionen ab. Umfassende Veränderungen zu bewirken liegt nicht in der Hand der gewalterfahrenen Personen. Ein Outcall kann dafür lediglich ein Anstoß sein.

Wir denken es ist unabdingbar gut überlegt abzuwägen, ob eine Person öffentlich oder intern geoutcalled wird. Öffentliche Outcalls beinhalten immer das Risiko, dass unsere Feind*innen die darin enthaltenen Informationen für ihre Zwecke nutzen. Umso größer die Debatte wird, umso mehr Menschen „mitdiskutieren“, desto mehr negative Konsequenzen für die gewalterfahrenen Personen (siehe ab Punkt 3) sind außerdem möglich.

Es gibt allerdings Situationen, in denen ein öffentlicher Outcall unabdingbar wird. Wenn beispielsweise das interne sprechen über sexualisierte Gewalt bei der gewaltausübenden Person und dem Umfeld kein Gehör findet, dementsprechend Gewalt weiter ausgeübt werden kann, ohne dass Konsequenzen folgen. So werden gewalterfahrene Personen oft zu einem öffentlichen Outcall gezwungen.

Das öffentliche, politische Sprechen über sexualisierte Gewalt kann dazu führen, dass sich gewaltausübende Personen nicht mehr „geschützt“ wüssten, wenn sie eine Offenlegung ihrer Tat befürchten müssen. Durch diesen Druck kann ein Rückzug folgen. Ein Outcall kann dementsprechend Schutz für die gewalterfahrene Person selbst und weitere bieten. Zudem kann sie Veränderungen bei der angeprangerten Person, im Umfeld sowie auch tatsächlich gesamtgesellschaftliche Veränderungen bewirken – immer nur, insofern die Zuhörer*innen den gewalterfahrenen Personen glauben und für Veränderungen bereit sind.

Alleinige Verantwortung für den Outcall und Konsequenzen

Als Anne den internen Outcall streute, hatte sie noch keine Struktur um sich herum und schrieb deswegen auch, dass Personen sich bei Nachfragen bei ihr melden können. Einige wenige positive Rückmeldungen gab es. Beispielsweise schrieben sie FLINTA* aus Alexanders Umfeld an und versicherten ihr, sich spätestens ab jetzt sehr kritisch mit ihm und ihrem eigenen Verhalten auseinanderzusetzen, weil sie sich durch jahrelange Freundschaft zu ihm auch verantwortlich sehen würden. Ein Anwalt, der in der Vergangenheit Anne und Alexander vertrat schrieb Anne, dass Alexander jetzt nicht mehr ohne Termin in seine Kanzlei könne und Anne über die Termine in Kenntnis gesetzt werde.

Im Nachhinein würde sie trotz dessen solch einen Outcall nicht nochmal alleine verfassen bzw. alleine danach als Kontaktperson zur Verfügung stehen. Dadurch hatte sie nun auch alleine die Verantwortung. Die Gewalterfahrung wurde somit von einem großen Teil des Umfeldes individualisiert, der Mythos des „Einzellfalls“ reproduziert. Sie wurde jetzt als DIE Betroffene angesehen, Alexander als DER Täter. Der Fokus lag auf „den beiden“ als Beispiel für sexualisierte Gewalt, das strukturelle Problem und die Begebenheiten, die sexualisierte Gewalt überhaupt erst ermöglichen in den eigenen Zusammenhängen wurde seitens des Umfeldes nicht erkannt oder problematisiert.

Das zeigte sich beispielsweise daran, dass Anne am Anfang unzählige Text-Nachrichten bekam, teils mit Nachfragen zu Alexander, teils mit Nachfragen zum Umgang mit ihm, teils mit Nachfragen zu ihr. So wurde sie zum Beispiel oft gefragt, wie man sich ihm gegenüber jetzt verhalten sollte. Diese Nachfrage stieß auf sehr viel Wut ihrerseits, weil sie in dem verfassten Outcall explizit betonte, dass das Umfeld Verantwortung übernehmen solle. Durch die stattfindende Individualisierung fokussierten Teile des Umfeldes allerdings Anne und Alexander, dementsprechend sollte in einem vermeintlich emanzipatorischen Kontext Anne nun alle Entscheidungen treffen. Einige machten sich offensichtlich wenig bis keine Gedanken darüber, wie sie jetzt mit der Situation umgehen könnten. Das Umfeld entlarvte sich als nicht fähig, sexualisierte Gewalt als strukturelles Problem anstatt als individuelles zu begreifen (siehe auch Punkt 3.2).

Es gab auch Cis-Frauen, die Anne für ihren „Alleingang“ kritisierten, ohne ihr Unterstützung anzubieten oder den Moment der Individualisierung durch Kollektivität aufzubrechen. Diese „Kritik“ traf Anne besonders hart, Gefühle der Schuld und „einen Fehler gemacht zu haben“ kamen auf. Nicht mehr Alexander war nun der, dessen Verhalten kritisiert und verantwortlich gemacht wurde, sondern Anne.

Um die Individualisierung aufzubrechen und die Verantwortung abzugeben suchte sich Anne eine Unterstützungsstruktur.

3. Von Individualisierung zu kollektiver Verantwortungsübernahme – aber nicht überall

3.1 Organisierung der Unterstützungsgruppe

Die Organisierung der Unterstützungsgruppen-Struktur folgte leider zunächst ebenfalls dem Prinzip der Individualisierung. Diese kann als zweite erlebte Gewaltform betrachtet werden, auf die wir später noch eingehen.

Die meisten Teile des Umfeldes sahen nicht, dass Anne alleine gelassen wurde, dementsprechend musste sie sich weitgehend selbst eine Unterstützungsgruppe (folglich U-Gruppe) suchen. Sie sprach einige FLINTA* im Umfeld an, offensichtlich verbreitete sich ihre Anfrage und auch Menschen außerhalb des Umfeldes traten auf Anne zu.

Die ersten 1-2 Monate nach dem Outcall waren von Gruppengründungsprozessen geprägt, die Zusammensetzung änderte sich öfter. Nicht zu allen FLINTA*, die zu dem Zeitpunkt ihre Unterstützung anboten, hatte Anne zuvor schon ein emotionales Verhältnis. Es dauerte eine Weile, bis sich eine Konstellation fand, die sich gegenseitig vertraute und emotional zueinander passte.

Die Gruppe setzte sich schlussendlich aus Freund*innen, Bekannten und auch aus FLINTA*, die Anne und ihr Umfeld noch gar nicht kannten zusammen. Alle einte allerdings, dass sie ein gutes Gefühl zueinander hatten, sich emotional austauschen und verstehen konnten.

Im Nachhinein fand es Anne sehr wohltuend, dass sich die Gruppe aus Menschen mit unterschiedlichen bis gar keinen vorherigen Bezügen zu ihr zusammensetzte, weil dadurch unterschiedlichste Perspektiven in die Unterstützungsarbeit einfließen konnten. Gleichzeitig war es für Anne zu dem Zeitpunkt sehr wichtig, dass die Gruppe aus Menschen besteht, die ähnlich gemachte Erfahrungen teilen konnte. Dass sich die Gruppe ausschließlich aus FLINTA* zusammen setzte, war deswegen kein Zufall, wenn auch nicht explizit geplant.

Als die Zusammensetzung der U-Gruppe feststand, wurde an der Art und Weise der Arbeit gefeilt. Zunächst wurde Anne bei jedem Treffen gefragt, was sie brauchte. Weil diese Frage aber nicht immer leicht zu beantworten war, steckten sie manchmal fest. Anne empfand es außerdem als etwas befremdlich, stetig in eine Gruppe zu kommen, in der immer alle Augen auf sie gerichtet waren. Die Individualisierung wurde somit vorangetrieben durch den Charakter einer Therapie – nur mit dem Unterschied, dass Anne nicht eine Therapeut*in, sondern gleich mehrere hatte. Deswegen transformierte sich die Gruppe recht zügig und aus einer U-Gruppe wurde eine Art Selbsthilfe- bzw. Austauschgruppe.

Nach einem anfänglichen Kennenlernen war klar, dass alle FLINTA* in der Gruppe durch das Patriarchat und Sexismus ähnliche Erfahrungen in und außerhalb des Umfeldes von Anne machen mussten. Sich darüber auszutauschen, setzte der Individualisierung etwas entgegen. Jetzt war nicht mehr Anne diejenige, die mehrere Therapeut*innen brauchte weil sie so gebrochen war, sondern es war ein ganzes Kollektiv, das sich über die Auswirkungen von Patriarchat und Sexismus austauschte und damit sexualisierte und psychische Gewalt strukturell betrachtete. Der inhaltliche Fokus lag nicht auf Anne und wie sehr der Übergriff sie doch geschädigt hätte, sondern auf dem Effekt des Outcalls und den Umgang des Umfeldes damit. Ebenso thematisierten sie häufiger die Konsequenzen sexualisierter und patriarchaler Gewalt für FLINTA*, tauschten sich über Emotionen aus und bestärkten sich gegenseitig.

Das Umfeld nahm in diesem Prozess sehr viel Raum innerhalb ihrer Treffen ein, daher gehen wir nun folglich darauf ein. Die Analysen, die wir hier darstellen sind Ergebnisse unserer Treffen.

3.2 Reaktionen des Umfeldes aus Sicht der U-Gruppe

Die Reaktionen eines großen Teiles des Umfeldes veränderten sich mit der Zeit. Wir werden chronologisch auf die Verhaltensweisen eingehen, die wir beobachten konnten. Natürlich haben nicht alle exakt so reagiert, wie wir es hier ausführen, allerdings ein sehr großer Teil des Umfeldes von Anne und Alexander.

Zuerst war da Mitleid: „die arme Betroffene, die kann sicherlich nie wieder richtig leben“

Zunächst konnte vor allem bei vielen Cis-Männern beobachtet werden, wie entweder vor Anne zurückgeschreckt wurde, indem sich z.B. manche gar nicht mehr trauten, mit ihr zu reden oder sie gar anzusehen. Wenn sie den Raum betrat, schauten viele verlegen weg. Wenn sie Blicke empfangen konnte, waren es meistens Bemitleidende.

Beide Reaktionen reihen sich in eine Opfer-Kultur ein, die gewalterfahrene Menschen als gebrochen, kaputt und nie wieder lebensfähig stigmatisiert. So empfand auch Anne das suggerierte Mitleid als extrem demütigend. Für viele war sie nun offensichtlich ein Leben lang gekennzeichnet. Bei Anne führte das dazu, dass sie in Räumen oft eine sehr starke Fassade aufsetzen musste, um nicht als gekennzeichnetes Opfer wahrgenommen zu werden. Sie spielte die starke Frau*, die das alles schon durchstehen konnte. Anne hatte in der Zeit alle möglichen Emotionen durchlebt, sie hat auch geweint. Das bedeutet aber nicht, dass sie ein Leben lang gekennzeichnet oder ein Opfer wäre.

Weil das Aufsetzen der Fassade Anne zusätzlich sehr viel Kraft und Energie kostete, die sie eigentlich in andere Prozesse stecken wollte, zog sie sich für eine gewisse Zeit aus bestimmten Räumen zurück.

Cis-Frauen aus ihrem Umfeld reagierten auch nicht immer so, wie es sich Anne gewünscht hätte. Viele, mit denen sie jahrelang Konflikte hatte, waren auf einmal besonders freundlich zu ihr. Sie waren sehr gewillt, mit ihr in Kontakt zu treten, obwohl eigentlich klar war, dass sie sich nicht leiden konnten. Dieses veränderte Verhalten zu Anne unterscheidet sich zwar von dem der Cis-Männer, folgt aber derselben Logik: Anne ist jetzt nicht mehr die Anne, die sie vor der sexualisierten Gewalt war, deswegen muss jetzt anders auf sie zugegangen werden. Anne hätte es besser gefunden, wenn sich das Verhalten zu ihr nicht geändert hätte und sie nicht zum Sonderfall mutiert wäre, den es anders zu behandeln gilt. Sie hätte sich gewünscht, dass Verunsicherung offen und ehrlich kommuniziert wird, anstatt betroffen auf den Boden zu starren oder übertrieben freundlich auf sie zugetreten wird.  Opferdiskurse wuden damit reproduziert.

Verleugnung der Gewalt und problematische Normierung des „Brechens des Schweigens“ von vermeintlich solidarischen Menschen

Tatsächlich gab es nur eine Person, die Anne kontaktierte und Details über die sexualisierte Gewalt wissen wollte. Natürlich ist auch eine Person schon eine zu viel, allerdings sind wir rückblickend erstaunt darüber, dass es nicht mehr waren. In vielen anderen Prozessen haben wir von deutlich mehr Menschen gehört, die an Details der Gewalt interessiert waren.

Die Frage nach „mehr oder genaueren Informationen“ ist extrem demütigend. Zum einen wird von gewalterfahrenen Personen damit gefordert, sich an die Gewalt bitte auch noch einmal explizit zu erinnern und sie im Detail wiederzugeben. Zum anderen steckt in der Frage eine Wertung. Nachdem die Antwort gegeben wird, wird meist eingeordnet, „wie schlimm“ es jetzt gewesen sei. Diese Einordnung wird aber nicht von der gewalterfahrenen Person getroffen, sondern von denen, die die Frage stellen. Sie spielen nun Richter*innen und entscheiden darüber, wie viel die gewalterfahrene Person nun wegen des Erlebten leiden darf. Aus der Forderung nach Details ergeben sich somit mehrere Problematiken: Wieder wird Gewalt individualisiert und nicht als strukturelles Problem betrachtet. Es wird nach konkreten Handlungen zwischen (meist zwei) Personen gefragt, was die strukturelle Ebene absolut unsichtbar macht. Dabei schwingt ein gewisser „Sensationalismus“ mit. Es wird eine „sensationelle“ Erzählung erwartet, die skandalisiert werden kann, was die alltägliche sexualisierte Gewalt nicht nur verschleiert. In Folge dessen wird durch die offenkundige Einteilung in „nicht so schlimme“ und „wirklich sehr schlimme“ Gewalt, diese Gewalt dadurch auch verharmlost bzw. infrage gestellt.

Kurzer Exkurs zum Thema Vergewaltigungsmythen und Vergewaltigungsskript:

Vergewaltigungsmythen meinen Vorstellungen von sexualisierter Gewalt, die nicht der Realität entsprechen. Beispielsweise wird FLINTA* immer wieder die Geschichte erzählt, dass es gefährlich sei, alleine nachts durch den Park zu laufen, wegen der Gefahr sexualisierter Gewalt. Diese passiert aber in den aller meisten Fällen im familiären/freundschaftlichen/eng vertrauten Umfeld und hinter verschlossenen Türen. Der dunkle Park ist dazu im Vergleich einer der seltensten Orte von sexualisierter Gewalt.

Vergewaltigungsskript meint eine Art Leitfaden, wie die Gesellschaft denkt, dass sexualisierte Gewalt abläuft. Unsere Vorstellungen sind dabei extrem von Medien geprägt. Wenn wir „Vergewaltigung“ sagen, laufen in unseren Köpfen sehr klare Bilder darüber ab, was passiert sein muss. Diese Bilder produzieren auch automatisch ein Opfer – weswegen der Begriff leider Stigmatisierungen reproduziert. Wenn Übergriffe diesen Bildern nicht entsprechen, werden sie oft nicht ernst genommen, denn das Opfer fehlt. Deswegen kann der Begriff der Vergewaltigung schon problematisch sein, weil er eine sehr konkrete stereotype, von Medien geprägte Vorstellung beinhaltet, was passiert sein muss und so den Opferdiskurs vorantreibt. Viele Realitäten von sexualisierter Gewalt entsprechen nicht diesem Skript. Wir wollen keiner gewalterfahrenen Person absprechen, dass das was sie erlebt hat, eine Vergewaltigung war und es deswegen auch so zu benennen. Wir plädieren aber für einen insgesamt sensibleren Umgang mit sexualisierter Gewalt, weswegen wir in unserem Bericht den Begriff „Vergewaltigung“ nur im Kontext der Mythen und Skripte nutzen, weil es hier um die eben genannten Stereotype geht. Ansonsten sprechen wir von sexualisierter Gewalt.

Wenn nach Details sexualisierter Gewalt gefragt wird, werden auch konkrete Bilder eingefordert. Diese Bilder werden dann, ob wir wollen oder nicht, in Vergwaltigungsmythen und Vergewaltigungsskripte eingeordnet. Die Einordnung nehmen wir alle vor, weil weder die Mythen noch die Skripte darüber aufgelöst und aus unseren Köpfen verbannt worden sind. Durch jahrelange patriarchale Sozialisation haben wir alle diese Mythen und Skripte verinnerlicht. Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, ordnen wir Gewalt in eine Art Stufensystem ein. An der Spitze steht die schlimmste aller Gewaltformen, ganz unten ist die „alltägliche“ an die wir uns schon fast gewöhnt haben und daher auch weniger problematisieren. Allerdings bedingen sich die unterschiedlichen Formen sexualisierter Gewalt, das Eine passiert nicht ohne das Andere und Leid ist auch nicht messbar.

Deswegen, und weil weder diese Skripte noch Mythen abgeschafft werden können, weil sie zu sehr verinnerlicht worden sind, ist u.a. die Frage nach Details extrem übergriffig. Menschen, die sich für Details interessieren, sollten also ihre Motivation hinterfragen. Die Erzählung der Details wird auf jeden Fall nicht die Antwort auf die Probleme innerhalb von Strukturen liefern.

Als Anne nach Details gefragt worden ist, setzte sie in dem Moment eine deutliche Grenze. Der Moment des Nein-Sagens hatte etwas empowerndes, sie wurde durch die Frage aber auch verunsichert. Die Verunsicherung ist ein Resultat der in der Frage implizierten, wenn auch nicht gewollten, Verleugnung/Bewertung der Gewalt. Durch die Frage besteht nun aufgrund verinnerlichter Skripte und Mythen die Möglichkeit, dass die erlebte Gewalt abgesprochen wird und damit gewalterfahrenen Personen nicht geglaubt wird. Eine zweite erlebte Gewalt, die an die erste Erfahrung der sexualisierten nicht nur anschließt, sondern eine direkte Konsequenz bzw. Teil von sexualisierter und patriarchaler Gewalt ist, denn gewalterfahrenen Personen und vor allem FLINTA* wird Erlebtes aufgrund von Mythen, Skripten und patriarchalen Logiken wie z.B. der „Frau* als Lügnerin“ viel zu oft abgesprochen. Sexualisierte und (in diesem Fall) sprachliche als zweite erlebte Gewalt bedingen sich dementsprechend, um sexistische, übergriffige und patriarchale Strukturen aufrechtzuerhalten.

Lasst gewalterfahrene Personen selbst entscheiden, wie sie die Gewalt bewerten und empfinden. Das ist nicht eure Aufgabe! Lasst sie deswegen auch selbst entscheiden, wie viel und was sie von der erlebten Gewalt erzählen können und wollen.

In dem Zusammenhang wollen wir auch anmerken, dass die Nachfrage nach Details von einer Person gestellt worden ist, die sich eigentlich solidarisch mit Anne zeigen wollte. Wir sprechen an dieser Stelle von der „problematischen Normierung des Brechens des Schweigens“, weil wir in verschiedensten vermeintlich solidarischen feministischen Strukturen beobachten konnten, wie von gewalterfahrenen Personen gefordert wird, zu sprechen.

In einer Gesellschaft, die einen miserablen Umgang mit sexualisierter Gewalt hat, u.a. aber nicht nur wegen der Mythen und Skripte die vorherrschen, kann es sehr gute Gründe geben, nicht zu sprechen. Um Retraumatisierungen zu verhindern, um nicht zum Opfer erklärt zu werden, um nicht Gefahr zu laufen, die Gewalt würde nicht anerkannt werden usw.. Die Forderung, trotz der Verhältnisse aber doch sprechen zu müssen läuft einem selbstbestimmten Sprechen zuwider. Durch den Zwang, der bei der Forderung ausgeübt wird, kann das Sprechen über sexualisierte Gewalt nicht als empowernd oder emanzipatorisch begriffen werden, was bei vielen dazu führt, nach einem erzwungenen Sprechen wieder zu verstummen.

Wir haben diese Forderung aber leider oft in vermeintlich emanzipatorischen Strukturen gehört, die sich angeblich mit gewalterfahrenen Personen solidarisieren wollen. Oft hieß es dann, dass man ja Infos brauche, um unterstützen zu können. Wenn ihr euch wirklich solidarisch zeigen wollt, stellt keine Forderung an gewalterfahrene Personen – lasst sie zu Wort kommen, wenn sie es wollen. Wenn sie es nicht wollen, könnt ihr trotzdem über sexualisierte Gewalt sprechen und euch dagegen engagieren, denn wie wir jetzt schon öfter betont haben: Es ist kein Problem bestehend aus zwei Menschen, sondern ein strukturelles. Detailwissen ist deswegen unnötig. Die Forderung danach füttert wieder lediglich den Sensationalismus.

Von einem sehr großen Teil des Umfeldes wurde die sexualisierte und psychische Gewalt aber nicht abgesprochen. Anne wurde zwar als Opfer gesehen, aber „wenigstens“ wurde nicht geleugnet oder verharmlost, dass sie sexualisierte und psychische Gewalt von Alexander erfahren musste. Der Diskurs um eine sog. „Opfer Perfomance“ ist übrigens nicht neu. Schon seit Jahrzehnten diskutieren feministische Bewegungen kritisch, inwiefern sich gewalterfahrene Personen als Opfer darstellen müssen, um überhaupt gehört zu werden.

Pathologisierung, „wenn sie aus der Reihe tanzt“

Trotz dessen machte Anne das Mitleid der Cis-Männer wütend. Zeitlich hielt dieses für etwa 4 Monate an und überschnitt sich mit dem Outcall von JD (Punkt 7).

Als dieser erschien und Anne die Reaktionen in ihrem cis-männlichen Umfeld mitbekam, hauptsächlich Abwehr und/oder Verstummung à la „wir kannten ihn nicht so gut, deswegen können wir jetzt auch nichts tun, tschüss wir sind weg und verschwinden von der Bildfläche“, wurde die Wut über das Verhalten der Cis-Männer größer.

Durch den zu dieser Zeit bemitleidenden Umgang mit Anne, aber vor allem auch durch den Outcall über JD wurde offen gelegt, dass ein gesamtes Umfeld über Jahre hinweg unglaublich antifeministisch agierte. Daher wurde aus Annes Rückzug aus Räumen durch die immer größer werdende Wut eine verstärkte Konfrontation des cis-männlichen Umfeldes.

Jetzt wendete sich auch das Blatt für sie. Wo zunächst noch Mitleid und senkende Blicke waren, ging es jetzt in den Gegenangriff. Motto: „Du kannst einen Outcall über Alexander schreiben und ihn kritisieren, aber doch nicht uns, das geht zu weit“. Aus dem Opfer wurde sprichwörtlich eine Hexe gemacht. Ein Resultat der immer noch stattfindenden Individualisierung.

So fielen Sätze wie „sie betreibt eine Hetzjagd gegen Männer“, „sie lügt und betrügt“, „man kann ihr nicht vertrauen, sie plant gut organisiert alle Cis-Männer ins Aus zu schießen“. Außerdem wurde eine Warnung an vor allem Cis-Männer ausgesprochen: Ihnen wurde geraten, sich nicht mehr mit Anne abzugeben, weil die Gefahr, dass Anne Treffen mit Cis-Männern nur nutzen würde, um sie danach anzugreifen, quasi nach „Fehlverhalten zu suchen“, viel zu hoch wäre. Größtenteils fielen diese Sätze von Cis-Männern, leider aber auch von einer Cis-Frau, die sich im Zuge des Outcalls über Alexander noch vermeintlich solidarisch mit Anne zeigte. Die Motivation der Cis-Frau, Anne jetzt mit Feindseligkeiten und Hass zu begegnen schließen wir aus patriarchalen Verhaltensweisen wie der sog. „Schuldumkehr“ und der Pathologisierung von gewalterfahrenen Personen (meist FLINTA*) als „irre“ und „nicht zurechnungsfähig“ und dem Selbstschutz und Schutz „der eigenen heilen Welt“. Leider erleben wir immer wieder, dass auch FLINTA* nicht solidarisch untereinander sind, auch nicht in Bezug auf sexualisierte Gewalt. FLINTA* meint lediglich dieselbe Identität, aus dieser resultieren aber nicht automatisch gemeinsame Werte. Vor allem, wenn im Zuge der Thematisierung von patriarchalen Verhaltensweisen auch bei FLINTA* das eigene Selbstbild und die eigene Ordnung der Welt zum hinterfragen angeregt wird, müssen wir uns auf Angriffe und unsolidarisches Verhalten selbiger einstellen, wenn diese nicht bereit sind, eigenes Verhalten kritisch zu hinterfragen.

Androhung von körperlicher Gewalt

Anne bekam Nachrichten, in denen ihr angedroht wurde, sie zu Hause zu besuchen und zu verprügeln, sollte sie weiter „Hetze gegen Männer“ betreiben. Weil wir davon ausgehen, dass wir nicht explizit erklären müssen, weshalb körperliche Gewalt oder die Androhung dessen absolut unemanzipatorisch, sexistisch, übergriffig und gewalttätig ist, fokussieren wir uns weiterhin in diesem Text auf die psychische und sprachliche Gewalt, die ausgeübt wurde.

Konsequenzen der sprachlichen Gewalt als zweite erlebte Gewalt

Der Moment der sexualisierten und psychischen Gewalt ist ein Moment, den es nicht zu verharmlosen gilt. Gleichzeitig ist dieser Moment meistens nie das Ende der erlebten Gewalt. Der unsolidarische und nicht emanzipative Umgang eines Umfeldes kann als zweite erlebte Gewalt bezeichnet werden (Mitleid, Pathologisierungen, Verharmlosungen, Verleugnungen als sprachliche Gewalt). Durch die zweite erlebte und sprachliche Gewalt fällt es vielen gewalterfahrenen Personen nicht nur schwerer, über sexualisierte Gewalt zu sprechen, die Bedingungen und Voraussetzungen für sexualisierte und psychische Gewalt werden damit sogar noch strukturell verschärft. Somit entsteht ein Teufelskreis, der Gewalt begünstigt, stetig reproduziert und sehr oft darin mündet, gewalterfahrene Personen mundtot zu machen.

So zog sich Anne, nachdem sie vor allem Cis-Männer mit ihrem Verhalten im Zuge des Outcalls über JD konfrontierte und damit massiven Gegenangriffen ausgesetzt war, zurück. Sie traute sich nicht mehr zu sprechen, sie ging nicht mehr in Szene-Räume und brach fast alle Kontakte zum Umfeld ab. Der Rückzug war ein Resultat aus den stattgefundenen Pathologisierungen, Verleumdungen, Verharmlosungen, körperlichen Gewaltandrohungen also kurz: Der (angedrohten) körperlichen, psychischen und sprachlichen Gewalt. Auch diese Zeit verstärkte auf eine extreme Art und Weise die Individualisierung und Isolierung.

Kollektive Verantwortungsübernahme jenseits der TJ-Struktur

Die Ausführungen oben zeigen, was alles im Zuge des Outcalls miserabel gelaufen ist und an welchen Stellen keine Verantwortung übernommen wurde. Aber es gab in dieser gesamten Zeit auch Momente der kollektiven Verantwortungsübernahme, wenn auch teilweise holprig.

Es gab immer wieder Einzelpersonen, die sich (zeitweise) mit Anne solidarisch zeigten. Die Solidarität kennzeichnete sich darin, dass Anne nicht anders behandelt wurde als vor dem Outcall, ihr Unterstützung angeboten, sich mit eigenen patriarchalen Verhaltensweisen, u.a. auch in freundschaftlichen/Gruppen oder kollektiven Situationen auseinandergesetzt wurde. Nähere Ausführungen folgen im Punkt 7.

Erwähnenswert ist, dass ein Zusammenhang von Alexander direkt nach dem Outcall anfing darüber zu sprechen, inwiefern innerhalb dieser Gruppe patriarchale und sexistische Verhaltensweisen reproduziert werden.

Im Zuge des Outcalls hat sich außerdem eine sogenannte kritische Männergruppe gegründet. Diese Gruppe beobachteten wir als Unterstützungsgruppe mit gemischten Gefühlen. Die Motivation zu der Gruppe folgte einem emanzipatorischen Anspruch. Vor allem aus der Initiative von einem Cis-Mann aus dem Umfeld von Alexander wurde die Notwendigkeit gesehen, eigenes Verhalten kritisch zu hinterfragen und darüber zu sprechen, weshalb in dem Umfeld sexualisierte Gewalt passieren kann, was also die Entstehungsbedingungen sind. Dafür wurde die Männerrunde aus dem Umfeld von Alexander gegründet, die ohne ihn plenierte.

Prinzipiell sehen wir, dass mit der kritischen Männlichkeitsgruppe ein Versuch unternommen wurde, Verantwortung zu übernehmen, trotz dessen haben wir an der Gruppengründung und dem Prozess der Gruppe Kritik. Zum einen haben wir ein generelles Misstrauen gegenüber expliziten Cis-Männer-Gruppen, vor allem wenn sie aus den Cis-Männern besteht, die mitverantwortlich dafür sind, dass sexualisierte Gewalt passieren kann. Wir begrüßen es, dass diese Cis-Männer sich selbst kritisch hinterfragen wollen, zweifeln jedoch stark daran, dass ihr Treffen Veränderung im Verhalten ermöglicht, solange sie sich weiterhin nur um sich selbst drehen. Wir würden an dieser Stelle deswegen vorschlagen, solche Cis-Männer-Runden zwar zu etablieren, aber IMMER in Anleitung/Moderation von FLINTA* mit emanzipatorischen Anspruch. Im besten Fall sind diese kein Teil des Umfeldes der Cis-Männer, denn durch eine außenstehende und damit unbeeinflusste Perspektive können kritische Verhaltensweisen besser erkannt werden.

Im Bezug auf diese konkrete Männerrunde gab es im Übrigen auch, trotz mehrfacher Aufforderung der Unterstützungsgruppe von Anne, mitzuteilen was dort drin besprochen wird, keine Transparenz. Dadurch, dass sich das cis-männliche Umfeld jahrelang extrem sexistisch und übergriffig zeigte, hatten Anne und die U-Gruppe kein Vertrauen darin, dass ein isoliertes Zusammensitzen von eben diesen Cis-Männern zu positiven Veränderungen führt. Im schlimmsten Fall konnten wir uns vorstellen, dass über Anne geredet wird. Daher forderten wir Transparenz. Diese erfolgte nicht, bis heute ist uns nicht klar, was diese Gruppe macht(e) bzw. worüber sie spricht/sprach.

Auf den Prozess der kollektiven Verantwortungsübernahme im Rahmen des Outcalls über Alexander hatte außerdem der Druck von außen, also Menschen und Gruppen jenseits des Umfeldes, großen Einfluss. Dieser Druck entstand allerdings unter anderem im Zuge des öffentlichen Outcalls über JD, weswegen wir erst im 7. Punkt auf ihn eingehen werden.

Kollektive Verantwortungsübernahme innerhalb der TJ Struktur

Im Zuge des Outcalls suchte sich Alexander auf Forderung von Anne eine Aufarbeitungsgruppe (folglich TA-Gruppe, steht für Transformative Arbeit). Diese formierte sich 2-3 Monate nach dem Outcall und kommunizierte über eine Vermittlungsperson mit der U-Gruppe. Die Zusammenarbeit aus TA, U-Gruppe und Vermittlungsperson bezeichnen wir als TJ Struktur.

Generell lief die Kommunikation nicht immer einwandfrei. Die U-Gruppe wusste oft nicht, was die TA-Gruppe macht, es fehlte an Informationen. Informationen über Alexander und seinen Prozess bekamen wir auch zu wenige. Wir hatten oft das Gefühl, alles selber machen und uns auch noch um Alexanders Prozess kümmern zu müssen. Die Zeit war u.a. davon geprägt, dass die U-Gruppe sprichwörtlich herumrannte, um an Informationen zu kommen.

Dem gegenüber steht, dass wir über das strukturelle Modell aus TA-Gruppe, Vermittlungsperson und U-Gruppe aus mehreren Gründen sehr dankbar sind:

1. Das Modell läuft der Individualisierung und der Behauptung es wäre „ein Problem zwischen den zwei“ zuwider und schafft damit Kollektivität statt Vereinzelung. Anne wusste, dass in der TA- Gruppe nicht über die konkrete sexualisierte und psychische Gewalt die ihr Alexander zufügte gesprochen wurde, sondern um seine generellen patriarchalen/sexistischen Verhaltensweisen und auch die des Umfeldes.

2. Daraus resultierte, dass Anne sich auf sich selbst konzentrieren konnte, weil sie nicht mehr die alleinige Verantwortung hatte. Das entspricht einem betroffenenkonzentrierten Ansatz, der Anne die Möglichkeit gab, Zeit und Raum für sich und ihre Aufarbeitung zu finden.

Allein also, dass die Struktur gegeben war, schaffte für Anne Raum für sich selbst. Diesen fand sie in der U-Gruppe als Reflexionsort, in dem Erfahrungen verarbeitet werden, emotionaler Abstand hergestellt werden konnte und die Möglichkeit geschaffen wurde, selbst auszuprobieren, was man erzählen will und was nicht. Hier wurde das Sprechen über sexualisierte Gewalt erprobt und gelernt. Aus einer ohnmächtigen Sprechposition wurde eine selbstbestimmte.

Dadurch, dass die TA-Gruppe ihre grundlegenden Forderungen erfüllte, wie zum Beispiel dem Nicht-Sprechen über die konkrete Gewalt, konnte ein grundlegendes Vertrauen in die Gruppe hergestellt werden, wodurch eine Abgrenzung zu Alexander möglich wurde. Durch das entstandene Vertrauen schien Veränderung für die strukturellen Begebenheiten sexualisierter und psychischer Gewalt im eigenen Umfeld möglicher, auch wenn die konkrete Kommunikation in der Zeit nicht einwandfrei lief.

3.3 Aufarbeitung sexualisierter Gewalt innerhalb der U-Gruppe

Insgesamt würden wir als U-Gruppe unsere Zeit als aufbauend beschreiben. Nach jedem Austausch gingen alle Beteiligten oft mit Päckchen nach Hause, die an anderer Stelle wieder aufgemacht werden konnten, hilfreich und lehrsam für die Zukunft waren und bei eigenen Prozessen weiter brachten. Es wurde zusammen geweint, gelacht und Wut ausgetauscht. Anne empfand die Gruppe als heilsam und erlebte wie der kollektive Austausch über sexualisierte, psychische und patriarchale Gewalt als emanzipatorisches um empowerndes Gegenmoment zur individualisierten Opferrolle, die Überlebende lediglich stigmatisiert und mundtot macht, wirkte. Gemeinsam fanden sie für erlebte Gewalt Worte, durch das Benennen des Erlebten konnten Konsequenzen gezogen und Handlungsfähigkeit entwickelt werden. Ein gemeinsames Sprechen und gegenseitiger emotionaler Support wirkten gegen das Gefühl, alleine und isoliert zu sein. Das Sprechen über sexualisierte Gewalt untereinander gewann außerdem eine „Normalität“, die es außerhalb (noch) nicht besitzt. Kollektivität wurde empowernder als Individualität empfunden. Voraussetzung dafür war natürlich, dass sich alle wohl und verbunden miteinander fühlten.

Auf der inhaltlichen Ebene war die Gruppe schon ein Monat nach Gründung eine Selbsthilfegruppe. Anne nahm natürlich mit ihren Emotionen und ihrem Erlebten am meisten Raum ein, trotz dessen brachten alle Beteiligten ihre Emotionen und ihr Erlebtes ebenso mit und teilten es.

Auf der strukturellen Ebene war die Gruppe noch bis etwa Mitte 2022 eine Unterstützungsgruppe für Anne. Anfragen bzw. Nachrichten, die das Umfeld an Anne hatten, gingen zunächst durch das Einrichten einer extra E-Mail Adresse an die U-Gruppe. Anne hatte keinen Zugriff auf die Mails, bekam die Anfragen von der U-Gruppe kommuniziert. Diese Zwischeninstanz empfand Anne erleichternd. Zum einen, weil es für Gruppentreffen immer feste Termine gab und Anne sich dementsprechend auf Nachrichten/Anfragen zeitlich einstellen konnte. Außerdem wurden diese Nachrichten dann kollektiv besprochen, Anne war damit also nicht alleine. Hätte Anne Zugriff auf die Mails gehabt, hätte sie diese vermutlich auch mal alleine zu Hause gelesen – und wäre dementsprechend dann auch alleine damit gewesen. Sie empfand es als entlastend, dass andere für sie die primäre Kommunikation übernahmen und sie zu gesetzten Terminen erst von Nachrichten erfuhr. Es gab auch Treffen, an denen Anne gar nicht interessiert war, was an Nachrichten und Anfragen rein kam. Wenn dem so war, wurde ihr davon auch nicht berichtet. Anne hatte somit die Möglichkeit, Abgrenzung zu lernen, was sie heute als bestärkend bezeichnen würde. Ebenso lernte sie in der Zeit verstärkt, Unterstützung anzunehmen und einzufordern.

Ebenso verhält es sich mit der Kommunikation mit der TA-Gruppe. Anne erreichten zum einen nur die Nachrichten, die sie zum Treffen auch hören wollte. Zum anderen musste sie nicht direkt mit der TA-Gruppe kommunizieren, denn dazwischen standen die Vermittlungsperson und ihre U-Gruppe. Auch wenn wie schon erwähnt an dieser Stelle die Kommunikation nicht immer einwandfrei lief, empfand sie das grundlegende Gerüst als entlastend. Schritt für Schritt konnte sie dadurch lernen, sich von Alexander abzugrenzen.

Dass Alexander eine TA-Gruppe und Anne ihre Unterstützungs- und gleichzeitige Selbsthilfe- Gruppe hatte, schaffte für Anne Raum, das Erlebte zu verarbeiten, sich auf sich selbst zu konzentrieren und fühlen zu lernen, was sie braucht.

Auf struktureller Ebene musste sie nicht mitwirken bzw. konnte mitwirken, wann sie es wollte. Sie hatte nicht mehr die alleinige Verantwortung für Prozesse. Auf inhaltlicher Ebene befand sie sich im stetigen Austausch mit den anderen Beteiligten der U-Gruppe und fand dort einen Raum, ihre Emotionen zu artikulieren, kommunizieren und zu verarbeiten. Es gab jetzt Zeit und Raum für sie und ihre Gefühle.

Nicht unerwähnt sollte trotzdem bleiben, dass oben beschriebene Reaktionen des Umfeldes Anne zwar nicht zurück warfen, allerdings immer wieder anhalten ließen. Sie erschwerten nicht nur Annes Aufarbeitung, wir würden teilweise von versuchter, wenn auch vermutlich nicht bewusster, Sabotage sprechen. Wir machen große Teile des Umfeldes von Anne dafür verantwortlich, dass sie den Prozess für Anne so schwer machten, indem sie ihr stetig wieder Gewalt antaten. Diese muss und musste logischerweise auch immer wieder be- und aufgearbeitet werden. Die oben beschriebenen Verhaltensweisen des Umfeldes nahmen innerhalb unserer Treffen und für Anne sehr viel Raum ein – nicht nur zeitlich, vor allem auch emotional. Daher wurde für Anne ein zusätzlicher emotionaler Aufwand aus dem Umfeld heraus geschaffen, anstatt sie dabei zu unterstützen, dass sie sich auf sich selbst fokussieren kann.

4. Machtverhältnisse verschieben und kritisch hinterfragen

Die Angriffe auf Anne im Zuge der Konfrontation des Cis-männlichen Umfeldes mit eigenen patriarchalen Verhaltensweisen bewerten wir vor allem als Machtdemonstration, resultierend aus der Angst, den eigenen Status zu verlieren.

Angst ist keine gute Grundlage, um sich sinnvoll mit eigenen Verhaltensweisen auseinanderzusetzen. Allerdings führte diese Angst (die nicht nur Resultat des Outcalls über Alexander, sondern vor allem auch über JD war) auch u.a. dazu, dass sich, wenn auch leider nicht in Bezug auf Anne, einige Cis-Männer erst einmal aus Strukturen zurücknahmen und sich dadurch wiederum FLINTA* Räume wieder aneigneten. Dadurch wurden diese Räume nun von feministischeren Diskursen bestimmt. Als die Angst der Cis-Männer langsam nachließ, sie vielleicht sogar darauf warteten, bis alles „wieder beim Alten“, also bei der patriarchalen Logik ist, betraten sie Räume, die nun viel feministischer gestaltet wurden als zuvor und in denen sich FLINTA* viel mehr Raum und damit Macht zurücknahmen. Sie wurden dementsprechend gezwungen, sich weiterhin zurückzunehmen, denn FLINTA* wollten definitiv nicht mehr „zum Alten zurück“. Dadurch konnten Machtverhältnisse punktuell verschoben werden, wodurch auch die Entstehungsbedingungen für sexualisierte Gewalt minimiert wurden. Diese Machtverschiebung findet auch immer noch allgegenwärtig statt, wir betrachten es als „positiven Nebeneffekt“, wenngleich die Zeit für Anne nur von weiterer Gewalt geprägt war.

Die stattgefundenen Verleugnungen, Stigmatisierungen und Angriffe auf sie zeigen auf, dass sie im Vergleich zu den Cis-Männern im Umfeld eine niedere Position hatte, denn „hohe Tiere“ sind solchen Verhaltensweisen eher seltener ausgesetzt. Dennoch mussten wir in der Zeit auch erkennen, dass Anne im Vergleich zu anderen gewalterfahrenen Personen viel machtvoller war.

TJ-Prozesse und Reaktionen auf Outcalls hängen auch immer sehr stark von der Position der gewalterfahrenen Personen ab.

Zwar hatte der Outcall von Anne nicht bewirkt, dass sich wirklich alle in der Verantwortung sehen, aber eben ein Teil. Die Gewalt wurde mehrheitlich nicht abgesprochen, wenngleich Anne dafür auch als „Opfer“ herhalten musste. Veränderungen konnten teilweise eintreten.

Anne war offenkundig in der Position, dass ihr geglaubt wird – was bei vielen gewalterfahrenen Personen nicht der Fall ist. FLINTA* wird generell weniger geglaubt als Cis-Männern, aber auch unter FLINTA* gibt es Unterschiede. FLINTA* beispielsweise, die politisch organisiert und aktiv sind, wird eher geglaubt. Genauso wie FLINTA*, die mit machtvollen Cis-Typen befreundet sind. Ihr Standing wächst durch Cis-Männer und durch ihren politischen Arbeitsaufwand. Ein Spiegel neoliberaler und patriarchaler Logiken u.a.. Ob eine Cis- oder beispielsweise Trans*frau oder nicht binäre Person spricht, macht ebenso einen Unterschied. Genauso, ob die Person weiß oder eine BPoC ist, welche Staatsangehörigkeit sie hat oder welche Sprache sie spricht u.a.

Das im Blick zu behalten finden wir sehr wichtig. Wenn euch das nächste Mal eine Person von übergriffigem Verhalten erzählt, beobachtet euch selber. Vertraut ihr der Person oder zweifelt ihr an, was sie sagt? Wenn ihr zweifelt, woran liegt das? Meistens findet sich die Antwort darin, dass die betreffende Person kein hohes Ansehen hat, dementsprechend ihre Worte viel weniger Gehör findet als von Menschen, die mehr Macht inne haben.

5. Abschluss für Anne und des Prozesses innerhalb der TJ-Struktur

Trotz der vielen oben genannten unsolidarischen, antifeministischen und unemanzipativen Punkte, die eine Aufarbeitung erschwerten, konnte Anne Mitte 2022 mit der Gewalt, die Alexander auf sie ausübte, abschließen.

Der Abschluss definiert sich für Anne durch eine intensive Auseinandersetzung mit patriarchaler/sexistischer/psychischer in Verbindung mit klassistischer Gewalt. Klassistische Gewalt benennen wir an dieser Stelle bewusst gesondert, weil sie für Anne eine große Rolle im eigenen Prozess spielte. Oft wirken Diskriminierungsformen zusammen, sie verstricken sich untereinander und bedingen sich gegenseitig. Deswegen machen wir an dieser Stelle einen kleinen Exkurs zu klassistischer in Verbindung mit patriarchaler/sexualisierter Gewalt im Bewusstsein, dass diese Intersektionalität der erfahrenen Gewalt auch austauschbar mit anderen Formen der Diskriminierung (beispielsweise Rassismus) ist:

Patriarchat, Sexismus und Klassismus

Im Laufe der Aufarbeitung von Anne stellte sie sich immer wieder die Frage, weshalb Alexander handelte, wie er es tat. Viele Antworten, konnten in der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Patriarchats gefunden werden, aber eben nicht alle. Da Anne selbst, wie auch Alexander, einen Lower Class Background hat, fielen ihr Verhaltensweisen an ihm auf, die sie aus ihrer eigenen Klassen-Sozialisation kennt und daher sogar nachfühlen konnte.

Zum Beispiel erkannte sie einen sich darstellenden „starken Einzellkämpfer“, der u.a. auch Resultat einer Klassenerfahrung sein kann. Wer aufwächst unter der Tatsache, von niemanden, vor allem nicht vom Staat, unterstützt zu werden und sehr früh eigenständig das Leben regeln muss, lernt vor allem, dass es auf einen selbst, als auf andere ankommt, um zu überleben. Diese Rolle abzulegen kann in eine Existenzangst münden, daher wird sie eher aufrechterhalten. Das Verhalten eines Einzelkämpfers kann dementsprechend u.a. ein Resultat von Klassenerfahrung sein. Bei Lower Class Cis-Männern zeigt sich diese Verhalten oft aber noch intensiver als bei FLINTA*, weil nicht nur die Klassenerfahrung eine Rolle spielt. Auch aufgrund des Patriarchats wird der „Einzelkämpfer Modus“ stetig reproduziert. „Sich alleine durchboxen“, „keine Hilfe annehmen“, im sprichwörtlichen Sinne „seinen eigenen Mann stehen“ sind u.a. auch patriarchale Werte, denn Care Arbeit, Fürsorge, Hilfe und Unterstützung für andere sind im Bestehenden eher weiblich gelesene Eigenschaften. Der „starke Einzelkämpfer“ kann also verschiedene Ursachen haben. Dementsprechend können sich Diskriminierungsformen überschneiden und gegenseitig bestärken.

Auf einer theoretischen Ebene ist das natürlich vielen klar, unterschiedliche Diskriminierungsformen aber im konkreten Verhalten zu erkennen ist nicht immer leicht. Anne hat es sehr geholfen, Alexander nachzuvollziehen. Wichtig: Nachzuvollziehen heißt nicht gutzuheißen oder zu rechtfertigen. Wenn Beispielsweise erkannt wird, dass bestimmte Verhaltensweisen auch Resultat eines Klassenhintergrundes sein können, heißt das nicht, dass dieses Verhalten nicht kritisiert werden darf. Es bedeutet lediglich, das Verhalten einordnen zu können.

Für Anne war dieses Einordnen zunächst noch voller Widersprüche. Zum einen die enorme Wut und Traurigkeit über sein gewalttätiges Verhalten. Zum anderen konnte sie aber auch nachvollziehen, weshalb er gewisse Gewaltformen anwendet bzw. reproduziert, weil sie diese aus ihrem eigenen Background mitbekommen hat. Das Nachvollziehen war ein wichtiger Teil für Anne zum abschließen, denn Wissen kann Sicherheit herstellen. Ebenso wichtig war die intensive Auseinandersetzung mit der gefühlten Wut, dem Schmerz und dem immer wieder auftretenden Verständnis und gar Verbundenheitsgefühl zu Alexander in der Klassenfrage.

Ebenso maßgeblich für den Heilungsprozess war es für Anne, Verbündete zu finden, um sich mit der erlebten Gewalt nicht alleine zu fühlen aber auch, um konkrete Unterstützung zu erhalten. Diese Verbündeten fand sie in der U-Gruppe. Hier war der Raum für ihre Emotionen, hier musste sie sich nicht verstellen, verstecken oder schämen. Dadurch, dass alle in dieser Gruppe ihre Erlebnisse, vor allem mit dem Patriarchat, teilten, verschwand bei Anne auch schnell das Gefühl, dass sie allein mit dem Erlebten ist. Durch das Teilen konnte außerdem eine umfangreiche Wissenspalette erstellt werden, die alle handlungsfähiger werden ließ. Negativ gemachte Erfahrungen der Vereinzelung konnten somit positiv durch Kollektivität und Verbundenheit überschrieben werden.

Unterstützend dazu wirkte auch die TA-Gruppe, durch die Anne lernte, dass sie Alexander und seinen Prozess nicht braucht, um erlebte Gewalt zu verarbeiten und zu heilen.

Anne hat für sich festgestellt, dass sie keinen Schutz mehr vor Alexander braucht. Das liegt nicht daran, dass sie behaupten könnte, er würde sich nicht mehr grenzüberschreitend oder übergriffig verhalten. Generell ist niemand vor Gewalt geschützt, dafür passiert sie in dieser Gesellschaft viel zu allgegenwärtig. Wichtig ist auch anzumerken, dass gewalterfahrene Personen nicht für die erlebte Gewalt verantwortlich sind. Allerdings sind sie leider gezwungen, einen Umgang damit zu finden. Anne fand diesen durch:

  • Wissensaneignung und der strukturellen Einordnung von z.B. patriarchalen Verhaltensweisen, in dem Fall aber auch verbunden mit Verhaltensweisen resultierend aus einer Klassen-Erfahrung
  • das Durchbrechen der Vereinzelung durch Verbundenschaft und Kollektivität,
  • damit auch eine emotionale Abgrenzung zu Alexander, er wird „überflüssig“,
  • der kollektiven Organisierung gegen patriarchale, sexistische und sexualisierte Gewalt, bei gleichzeitiger
  • Eröffnung und Erhaltung eines Raumes für die eigenen dabei entstehenden Emotionen.

Alexander konnte ihr „egaler“ werden. Nicht er ist unser großes Problem in dieser Welt, sondern die sexistischen und patriarchalen Begebenheiten, die Alexander überhaupt die Möglichkeit gaben zu handeln, wie er es tat. Das bedeutet nicht, dass Einzelpersonen nicht gefährlich oder gewalttätig sein können und dafür Verantwortung übernehmen müssen. Allerdings braucht es für sie einen Raum, gefährlich und gewalttätig zu sein. In Annes Fall wurde dieser Raum minimiert, weswegen sie abschließen konnte.

Ab Mitte 2022 formierte sich die U-Gruppe deswegen auch strukturell um. Anne fühlte sich nun bereit, direkt mit Alexander und der TA-Gruppe direkt auseinanderzusetzen, sie brauchte die „Zwischeninstanz“ nicht mehr. Sie vereinbarte mit Alexander ein Treffen zu zweit.

Dieses Treffen hatte für Anne zwei Beweggründe: Zum einen wollte sie ihn sehen, um bei sich selbst gegenzuchecken, ob es für sie ok ist, ihm zu begegnen. Durch die bestehende Verbundenheit zwischen den beiden bei gleichzeitiger Wut, die Anne zu ihm empfand, war es ihr aber auch zum anderen wichtig, diesem Gefühlen Ausdruck verleihen zu können. Anne wollte dieses Gefühle nicht mehr alleine mit sich „rumschleppen“ müssen, sondern stellenweise bei Alexander ablegen, weil sie dort hingehören.

Anne empfand das Treffen als sehr empowernd. Alexander verhielt sich zwar während des Treffens mal wieder manipulativ, Anne ließ sich darauf aber nicht ein. Das machte für sie einen deutlichen Unterschied zu früher, was sie sehr bestärkte. Sie teilte ihm mit, dass sie keinen Schutz mehr vor ihm brauche und deswegen einige Forderungen, wie beispielsweise die Einhaltung der Distanz zu ihr, verfielen.

Sie teilte ihm außerdem alle Emotionen mit, die sie zu ihm hatte. Zwar hatte sie nicht das Gefühl, dass er verstand, worauf sie hinaus wollte, das war aber auch nicht wichtig. Allein dadurch, dass sie fähig war, Worte für diese Komplexität zu finden und sie an ihn zu richten, empowerte sie. Sie ging absolut glücklich aus dem Treffen raus. Weil sie ihn sehen konnte, ohne dass der Schmerz überwog, weil sie patriarchale Verhaltensweisen sofort erkannte und weil Worte für alle Facetten der Gefühle zu ihm gefunden wurden und so ein selbstermächtigendes und selbstbestimmtes Sprechen dadurch ermöglicht wurde.

Nach dem Treffen mit Alexander schrieb die U-Gruppe das letzte Mal in ihrer Funktion eine Mail an alle Einzelpersonen und Gruppen, die Alexander kennen: Ab jetzt sollte noch kollektiver Verantwortung getragen werden! Weil Anne keinen Schutz mehr vor Alexander brauchte, entfiel ihre Forderung nach Distanz zu ihr und alle Kollektive sollten nun selber entscheiden, welche Orte er aufsuchen kann und welche nicht bzw. an welcher Stelle sie Schutz brauchen und an welchen nicht.

Im November kam das erste face-to-face Treffen zwischen Anne und Alexander, TA-Gruppe, Vermittlungsperson und U-Gruppe zustande. Dieses Treffen und erste gemeinsame Kennenlernen wurde ebenfalls als sehr empowernd empfunden. Kritik, die wir in diesem Text mitteilten wurde ausgetauscht, ebenso wie alle Emotionen, die alle Beteiligten im Laufe des Prozesses hatten.

Bestärkend war dort vor allem von der TA-Gruppe zu hören, dass der Prozess mit Alexander zwar unglaublich anstrengend, gleichzeitig aber wertvoll für alle Beteiligten war. Auch hier konnten alle bei sich selbst durch die intensive Auseinandersetzung mit patriarchalen Verhaltensweisen positive Veränderungen für sich erwirken. Augenscheinlich wurde dies vor allem für Anne bei einigen Cis-Männern der TA-Gruppe, die zu Alexanders und Annes Umfeld gehören. Während sie diese Männer noch bis vor einem Jahr als unglaublich patriarchal beschrieben hätte, stellenweise den Kontakt bewusst mied, zeigten sie sich im Treffen einfühlsam, Rücksicht nehmend, sensibel und gleichzeitig Anne als selbstbestimmtes Individuum, nicht als Opfer anerkennend. Diese Veränderung bei diesen Cis-Männern zu sehen gab Anne viel Kraft für die weitere Hoffnung auf Veränderungen.

Wir würden trotz der vielen miserablen Reaktionen des Umfeldes an dieser Stelle von einem erfolgreichen Prozess sprechen. Dieser ist vor allem der TA- und U-Gruppe und Anne selbst zuzuschreiben. Anne konnte mit der erlebten Gewalt abschließen und jede*r Beteiligte*r des Kollektivs, welches sich entschied Verantwortung zu übernehmen, also die TJ-Struktur, konnte viele wertvolle empowernde und emanzipatorische Erkenntnisse für sich selbst und weitere politische Kämpfe aus dem Prozess mitnehmen. Alle Beteiligten haben damit dem Neoliberalismus, dem Patriarchat und dem Sexismus etwas Praktisches entgegengesetzt: Verbundenheit, Kollektivität und emanzipatorische Ideen für ein gemeinsames Zusammenleben. Wir nehmen diese Werte für unser weiteres Leben mit und sind nun auch fähiger, sie weiterzugeben.

6. Fazit

Mit diesem Text wollen wir vor allem an „Umfelder“ appellieren, denn eure Übernahme der Verantwortung ist mitunter das Wichtigste. Wartet nicht darauf, dass es überhaupt zu Outcalls kommen muss. Wenn sexualisierte Gewalt als ein strukturelles Problem begriffen wird, das jederzeit angegangen und bekämpft werden muss, auch unabhängig von vermeintlichen „Einzelfällen“, können wir jederzeit etwas dagegen tun. Egal in welchen Kreisen ihr euch bewegt, egal wie fit ihr euer Umfeld einschätzen würdet: sexualisierte Gewalt ist alltägliche Gewalt, deswegen gibt es sie immer, jederzeit und jederorts. Ihr könnt also noch heute mit der Auseinandersetzung beginnen.

Dieser Text ist explizit kein Appell an gewalterfahrene Personen, das Schweigen zu brechen. Es ist nicht deren Zuständigkeit, soziale Missstände aufzuarbeiten und dafür Sorge zu tragen, dass in Zukunft die körperliche Selbstbestimmung und die Autonomie aller Menschen anerkannt wird. Es sind außerdem nicht diejenigen, welche die Gewalt erlebt haben, die sich verändern, anders verhalten oder „besser durchsetzen“ müssen.

Es sind die Zuhörer*innen, welche gewalterfahrenen Personen Beachtung schenken und daraus echte Konsequenzen ziehen sollten. Auch sie können politisch über sexualisierte Gewalt sprechen, ohne gewalterfahrene Personen zum Sprechen zu zwingen, denn politisches Sprechen über sexualisierte Gewalt zielt auf strukturelle, politische und soziale Veränderungen und damit auf einen Kampf gegen die Ermöglichungsbedingungen der Gewalt ab. In diesem Sinne: Fangt an politisch über sexualisierte Gewalt zu sprechen, schaut euch die Ermöglichungsbedingungen in eurem eigenen Umfeld an und verändert sie. Jede Veränderung minimiert die Gewalt, jede Veränderung führt uns ein bisschen mehr zu dem Zusammenleben, der Autonomie und Kollektivität, die wir uns für uns alle wünschen.

Literatur: www.edition-assemblage.de/buecher/sprechen-und-schweigen-ueber-sexualisierte-gewalt

 

7. Bezug zum Outcall von Johannes Domhöver

Zur besseren Verständnis und Einordnung folglich eine chronologische Auflistung der öffentlichen Debatte zwischen 2021-2022 rund um den öffentlichen Outcall über JD.

Dieser Text richtet sich an Teile der Umfelder von JD und Alexander und alle Umfelder von Personen, die sexualisierter Gewalt erlebt haben. Das Umfeld, das wir hier beschreiben, ist überwiegend weiß und cis-heteronormativ.

Der nachfolgende Text vergleicht den internen Outcall über Alexander mit dem internen Outcall über JD.

Mit „internen Outcall über JD“ meinen wir, dass ein Umfeld offensichtlich von einer Gewaltbeziehung zwischen JD und einer gewalterfahrenen Person wusste, die gewalterfahrene Person aber offenkundig nicht gehört wurde (zu entnehmen durch den öffentlichen Outcall: https://de.indymedia.org/node/156448 ). Daher musste es u.a. zu einem öffentlichen Outcall kommen, um potentiell weitere Personen vor Gewalt zu schützen. Wenn das Umfeld versagt und keine Veränderung bei der gewaltausübenden Person wie auch dem Umfeld möglich scheint, ist ein öffentlicher Outcall notwendig. So schien es offensichtlich bei JD zu sein. In seinem Fall gab es offenkundig schon einen gescheiterten TA-Prozess, emanzipatorische Ideen und Mittel anzuwenden war offenkundig aussichtslos.

Außerdem ist spätestens seit der Veröffentlichung von dem Soli-Antifa-Ost-Bündnis klar, dass es mehrere Menschen gab, die seit 2020 von JD‘s gewaltätigen Verhalten in einer anderen Beziehung zu JD wussten. Dementsprechend schien er schon lange intern und auf mehreren Ebenen in Umfeldern geoutcallt (vgl. https://www.soli-antifa-ost.org/oeffentliche-stellungnahme-des-solidaritaetsbuendnisses-antifa-ost-zu-den-outcalls-betreffend-johannes-domhoever-in-solidaritaet-mit-allen-betroffenen-von-sexualisierter-gewalt-und-insbesond/ ).

Wenn wir folglich vom „internen Outcall über JD“ sprechen, meinen wir damit die Übermittlung der Information an Umfelder, dass JD gewaltätig ist bevor er öffentlich geoutcallt wurde.

Wir vergleichen explizit nicht den internen Outcall über Alexander mit dem öffentlichen Outcall über JD.

Wie die internen Outcalls über JD stattgefunden haben wird von uns nicht verglichen, weil die Vorgehensweise komplett irrelevant für Umfelder ist. Unabhängig davon, wie Menschen sprechen, die Gewalt erfahren haben, sollten sie gehört werden bzw. selbst, wenn sie nicht sprechen (siehe unter Punkt 1 „Das Schweigen der Gewalterfahrenen hören“).

JD wurde offenkundig intern ab 2020 geoutcallt, öffentlich im Oktober 2021. In diesem Jahr fand auch der Outcall über Alexander statt.

Gemeinsamkeiten der beiden Outcalls

Anne und die gewalterfahrene Person von JD eint, dass sie beide über einen langen Zeitraum vom Umfeld pathologisiert und beiden, entweder vom Täter selbst oder dem Umfeld, körperliche Gewalt angedroht wurde. Ebenso wurde ihr Schweigen nicht gehört, weswegen sie gezwungen wurden laut zu werden.

Alle Punkte weisen sehr stark darauf hin, dass es sich um ein sehr für sexualisierte Gewalt unsensibles und antifeministisches Umfeld handelt. Ein Umfeld, dass das Patriarchat als Wort kennt, aber nicht mit Inhalt zu füllen versteht.

Den Ursprung darin sehen wir in einem Umfeld, das Kapitalismus, den Staat und Faschismus als Feind*innen der Freiheit begreift, weniger aber u.a. das Patriarchat. Dieses wurde sehr lange nicht mitgedacht.

Zusätzlich lag eine vorherrschende Analyse von Macht zugrunde, die vor allem nach außen gerichtet war, weniger nach innen. Die Feind*innen der Freiheit waren z.B. Nazis oder Bullen, weniger aber wir selbst mit unseren eigenen verinnerlichten Werten.

Gewalt als legitimes bzw. notwendiges Mittel zu begreifen, um gegen vorherrschende und diskriminierende Verhältnisse zu kämpfen, sehen wir als unabdingbar. Wenn aber die umfassende Analyse dazu fehlt, wer sich in welcher Position befindet und nach welchen Maßstäben unsere Gesellschaft aufgebaut ist, kann es aufgrund fehlender Analyse schnell die Falschen in allen erdenklichen Richtungen treffen.

In diesem Fall wurde über Jahre von vielen nicht mitgedacht, inwiefern u.a. FLINTA* strukturell unterdrückt werden und welche patriarchalen Werte wir alle in uns tragen, die diese Unterdrückung reproduzieren. Dementsprechend fehlte aber auch ein generell emanzipativer Ansatz. Das eröffnete das Einfallstor für Menschen wie JD und die daraus resultierende Gewalt an FLINTA*. Gewalt gegen BPoC, Menschen mit Klassen- und/oder Ableismerfahrung uvm. gab es folglich ebenso.

Die Menschen, die eine Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse nicht nach innen richten und daher gewaltvoll gegen u.a. FLINTA* agieren, gibt es auch immer noch. JD oder Alexander sind keine „Einzellfälle“ innerhalb von Umfeldern die sonst mit emanzipativen Verhaltensweisen glänzen.

Aber es gibt auch diejenigen, die der Gewalt etwas entgegensetzen wollen, verinnerlichte Werte anschauen und ihr Verhalten verändern.

Unterschiede der beiden Outcalls

Die Konsequenzen der internen Outcalls unterscheiden sich in vielen Punkten maßgeblich. Während bei JD ein angestrebter TA-Prozess gänzlich scheiterte und es zu einem öffentlichen Outcall kommen musste, würden wir den Prozess um Alexander als einen erfolgreichen beschreiben. Auch, wenn sich Teile der Umfelder extrem antifeministisch und sexistisch verhielten, gab es trotzdem auch Reaktionen, die den Erfolg des Prozesses mit begünstigten.

Gewalt wird nicht verleugnet vs. Gewalt wird nicht anerkannt

Während einige von einer Gewaltbeziehung zwischen JD und einer FLINTA* wussten, diese aber offenkundig absprachen (vgl. Solibündnis Statement) und nicht ernst nahmen, wurde Anne die erfahrene Gewalt nicht abgesprochen, auch wenn sie dafür als „Opfer“ herhalten musste (vgl. 3.2).

Eine Begründung dafür finden wir in dem zeitlichen Verlauf. Seit 2020 wussten mehrere Menschen von der Gewalt, die JD ausübte, im Oktober 2021 wurden sie damit öffentlich konfrontiert. Parallel dazu wurde Alexander geoutcallt. Wir gehen davon aus, dass in dieser Zeit einige lernten, sexualisierte Gewalt ernster zu nehmen. Das offenkundige Versagen im Fall von JD mündete bei einigen darin, sich mit Gewalt (-beziehungen) im Umfeld näher zu befassen und zumindest zu erkennen, dass diese Gewalt nicht abgesprochen gehört. Dass die Gewalt gegenüber Anne also ernst genommen wurde, liegt u.a. an dem internen wie öffentlichen Outcall über JD, der die Reaktionen des Umfeldes stark hinterfragte. An dieser Stelle möchten wir uns deswegen bei den Menschen, die die Outcalls über JD veröffentlicht haben, für diesen Schritt bedanken. Wir wissen, was ein Outcall alles nach sich ziehen kann und dass die Konsequenzen nicht immer leicht auszuhalten sind. Vor allem, wenn keine positiven Veränderungen wahrgenommen werden, ist dieser Schritt sehr erdrückend. Durch die Outcalls über JD konnte zumindest für Anne ein positiverer Prozess in die Wege geleitet werden. Der Sinn und Zweck von Outcalls, weitere Menschen vor Gewalt zu schützen, ist damit ein bisschen mehr gelungen.

gewalterfahrene Person wird unterstützt  vs. sie wird allein gelassen

JD musste öffentlich geoutcallt werden, weil von ihm weiterhin viel Gefahr ausging, u.a. weil das Umfeld jahrelang nichts unternahm und damit keinen sicheren Rahmen für gewalterfahrene Personen herstellte. Annes Prozess mündete u.a. darin, dass sie keinen Schutz mehr vor Alexander brauchte. Das liegt weniger daran, dass Alexander sich nicht mehr übergriffig verhält, sondern vielmehr darin, dass Anne sich u.a. in einem Umfeld bewegt, in dem sie sich sicher fühlen kann.

Diese Sicherheit wurde durch mehrere Faktoren hergestellt. Die Unterstützungs- und TA-Gruppe sind darin ein wesentlicher Bestandteil gewesen, weil patriarchale und sexistische Verhaltensweisen kollektiv angeschaut und aufgearbeitet werden konnten. Die Gruppen leisteten damit auch präventive Arbeit, übergriffiges Verhalten wird nun schneller erkannt, dementsprechend kann auch seitens des Kollektives früher (im Fall von Alexander und auch in weiteren potentiellen Fällen) eingegriffen werden. Außerdem wurde durch die TA-Gruppe für Anne eine Distanz zu Alexander hergestellt, die u.a. wichtig für ihre Sicherheit war.

Maßgeblich waren aber auch die vielen Konfrontaionen des Umfeldes von außen, die im Zuge des Outcalls von JD entstanden. Durch öffentliche Texte und interne Auseinandersetzungen wurde der Druck erhöht, sich mit patriarchalen und sexistischen Verhaltensweisen auseinander setzen zu müssen, und dadurch einige antifeministische Stimmen leiser. Auch dieser Faktor kreierte für Anne nach und nach mehr Sicherheit, weil sie sich dadurch nicht mehr allein fühlte aber auch, weil Teile des Umfeldes das Verhalten veränderte.

Die Zukunft wird jetzt zeigen, ob diese Sicherheit, also ein weniger gewaltvolles Umfeld, weiterhin aufrecht erhalten bis verbessert werden kann. Dies ist keine Geschichte mit Happy-End. Dadurch, dass die Verantwortung von der organisierten TJ-Struktur auf ein gesamtes Umfeld, damit „unorganisierter“ abgegeben wurde (siehe Punkt 5), liegt es folglich am gesamten Umfeld, patriarchale, sexistische und übergriffige Verhaltensweisen zu durchschauen und zu bekämpfen. Alexanders Verhalten und das aller Menschen im Umfeld sollte weiterhin kritisch beäugt werden, um ein gewaltfreieres und emanzipatorischer gestaltetes Leben aller zu ermöglichen.

Hoffnung dafür geben uns derzeitig vor allem die Menschen, die vor nicht all zu langer Zeit noch extremes sexistisches und übergriffiges Verhalten an den Tag legten und/oder im Zuge vom internen Outcall über JD komplett versagten, Anne aber während des gesamten Prozesses unterstützten und ihr Verhalten step by step in eine feministischere Praxis rückten.

So gab es, wenn auch sehr wenige, Cis-Männer, die Anne auch nach dem Outcall über Alexander auf dieselbe Art und Weise begegneten, wie zuvor. Ohne Mitleid, ohne Pathologisierung, ohne Anne als „Opfer“ zu betrachten. Von diesen wenigen Cis-Männern waren es dann noch einmal weniger, die auch direkte Unterstützung anboten – aber es gab sie immerhin.

Es gab beispielsweise einen, der auf Anne zuging und ihr mitteilte, dass er Interesse an der TA-Arbeit hätte, im Vorfeld aber mit ihr darüber sprechen wollte. Begründung: Er sehe sich mitverantwortlich dafür, dass es zum Outcall kommen musste, weil er auch patriarchale Verhaltensweisen reproduziert. Durch die TA-Arbeit denkt er, für sich Inhalte mitnehmen zu können, die ihn feministischer und solidarischer agieren lassen können. Er räumte außerdem im Zuge der Anfrage ein, im Prozess um JD versagt zu haben, was für ihn ebenfalls ein Antrieb wäre, einen erneuten TA-Prozess besser mitzugestalten.

Kollektive Verantwortung statt Vereinzelung

Diese Form der Anfrage war genau das, was wir unter kollektiver Verantwortung verstehen. Dieser Cis-Mann erkannte eigene problematische verinnerlichte Werte und Verhaltensweisen, weswegen er an sich arbeiten wollte. Dies wollte er nicht im stillen Kämmerlien mit sich selbst, sondern transparent innerhalb der TA Arbeit, um u.a. gemachte Schäden innerhalb des prozesses um JD wieder gut zu machen, Wissen mitzunehmen und einen Prozess erfolgreicher zu gestalten als den zuvor.

Teile des Umfeldes (längst nicht alle!) fangen offensichtlich an zu verstehen, welchen massiven Einfluss patriarchale Sozialisation auf unser Zusammenleben hat. Teile des Umfeldes befinden sich in Prozessen, die auf ein emanzipatorischeres, feministischeres und weniger gewaltvolles Zusammenleben hinarbeiten. Angestoßen wurden diese Prozesse vor allem durch Druck: Durch die internen wie öffentlichen Outcalls über JD, durch den Outcall über Alexander und nicht zuletzt auch durch die vielen Menschen, die dieses Umfeld immer wieder konfrontieren, sei es von außen oder von innen heraus. Wir wissen aus eigener Hand, dass das nicht immer leicht ist und wenig Anerkennung findet. Deswegen danken wir allen, die diese Stärkeund den Mut aufbrachten und weiterhin aufbringen.