Leipziger Kessel am „Tag X“: Polizeipräsident Demmler räumt Fehler ein
Mehr als 1000 Personen waren in der Nacht zum 4. Juni in Leipzig von der Polizei eingekesselt – für mehr als zehn Stunden. Nach einer Auswertung zeigt sich Einsatzleiter und Polizeipräsident René Demmler selbstkritisch.
Es ist nicht lange her, da stand ein ziemlich selbstbewusster René Demmler im Hinterhof der Polizeidirektion, um die Geschehnisse rund um den „Tag X“ auszuwerten: Der Einsatz, die Absicherung der Stadt, sagte der Polizeipräsident Anfang Juni, all das sei doch „sehr gut gelungen“. Von Selbstkritik keine Spur.
Tatsächlich war es nicht zu den von der Polizei befürchteten Szenarien gekommen, dass gewaltbereite Linksextreme in der Stadt wüten. Trotzdem gab es ziemlich früh Anzeichen, dass eben auch einiges schief gelaufen war: Vor allem, dass mehr als 1000 Teilnehmer einer Demo nach Ausschreitungen zehn Stunden lang umstellt auf dem dem Heinrich-Schütz-Platz ausharren mussten.
Mittlerweile ist René Demmler bereit, Fehler einzuräumen. Im Lagezentrum der Polizeidirektion, dort wo er am „Tag X“ auch den Einsatz geleitet hatte, erklärte er zweieinhalb Wochen später, dass es während der Einkesselung doch erhebliche Probleme gab: Bei der Versorgung, beim Überblick über die Menge, in der Kommunikation mit Beamtinnen und Beamten vor Ort sowie auch beim Informieren der festgehaltenen Personen.
Tatortbeobachter im Kessel – Richter ging von 300 Personen aus
Unter die etwa 2000 Menschen, die für Versammlungsfreiheit demonstrieren wollten, hatten sich auch mehrere schwarz Vermummte gemischt. Die Behörden gehen von 300 Gewaltbereiten und 200 Gewaltsuchenden aus. Es gab Angriffe gegen die Polizei mit Steinen, Böllern und einem Molotowcocktail. Beamte rückten gegen die Gewalttäter vor, trieben sie Richtung Heinrich-Schütz-Platz, den die Polizei schließlich umstellte. Zwischen die Fronten gerieten auch Unbeteiligte. Gegen alle zusammen wurden nun Strafverfahren wegen schweren Landfriedensbruchs eröffnet.
Insgesamt waren es mehr als 1000 Menschen im aufgezogenen Kessel. Die Menge nennt der Polizeipräsident inzwischen ein „Riesenproblem“. „Wir haben bis zuletzt nicht gewusst, wie viele es waren – bis der Letzte dann raus war.“ Wäre den Einsatzkräften eher bekannt gewesen, wie viele tatsächlich festgesetzt wurden, „hätten wir den Umfang der Maßnahmen schon zu Beginn beschränkt und die Strafverfolgung mehr auf die Zeit danach verschoben. Das hätte vieles vereinfacht“, so Demmler.
Über der Szenerie kreiste stundenlang ein Hubschrauber. Außerdem waren zivile Tatbeobachter im Einsatz, die Straftaten melden und bei Festnahmen unterstützen. Laut Demmler sollen sie sowohl bei der Versammlung, als auch im Kessel im Einsatz gewesen sein. Und ja, die Kolleginnen und Kollegen dürften sich auch vermummen. Warum eine realistische Schätzung trotzdem unmöglich war, kann er nicht sagen. Klar ist zumindest: Sowohl Staatsanwalt als auch Richter trafen ihre Anordnungen für den Kessel unter der Annahme, dass sich nur 300 bis 400 Personen darin befinden.
Schließlich dauerte es zwei Stunden, bis vier Bearbeitungsstraßen zur erkennungsdienstlichen Behandlungen aufgebaut waren: zum Kopieren von Ausweisen, Fotos erstellen, Taschen, Kleidung und Smartphones durchsuchen. 1000 Mal. Nur wenige der Personen im Kessel waren bereit, sich dem freiwillig zu unterziehen. Sie wurden von Beamten herausgeholt, Betroffene berichten von Schmerzgriffen. Der Polizeipräsident sprach am Mittwoch auch von 60 Schlagstockeinsätzen. Später seien Lockerungen bei der Überprüfung veranlasst worden. Der Kessel bestand dennoch bis 5 Uhr am Morgen weiter.
Demmler entschuldigt sich bei Demo-Sanitätern
Unter den festgesetzten Personen befanden sich auch 87 Jugendliche und zwei Kinder im Alter von 13 Jahren. Der Polizeipräsident betont, dass alle Minderjährigen priorisiert behandelt werden sollten, allerdings meist immer erst bei der Überprüfung klar wurde, dass es sich um solche handelte. Sechs Minderjährige seien aufgrund weiterer Tatvorwürfe in Gewahrsam genommen worden. Alle anderen wurden demnach nicht befragt, aber vereinfacht erkennungsdienstlich behandelt worden. „Wir können nicht ausschließen, dass sie auch durchsucht wurden.“
Mit Blick auf die Versorgung der Eingekesselten muss Demmler nun auch einräumen: „Uns ist es nur sehr beschränkt gelungen, die Rahmenbedingungen ausreichend zu stellen.“ Stattdessen hätten fast ausnahmslos Ehrenamtliche die Versorgung der bis zu zehn Stunden im Park Eingeschlossenen übernommen. „Die Demo-Sanitäter haben alles gemacht. Sie haben Wasser verteilt, Nahrung verteilt, auch warmes Essen, Decken organisiert. Faktisch erfolgte die Versorgung der Umschlossenen nur durch die Demo-Sanis. Dafür muss man sich bei Ihnen bedanken“, so der Polizeipräsident. Er entschuldigte sich dafür, dass die Sanitäter zum Teil in ihrer Arbeit behindert wurden – weil aus dem Führungsstab nicht übermittelt wurde, dass diese Hilfe erlaubt ist.
Die Polizei selbst hatte einen Toilettenwagen organisiert, sowie einen Tank, gefüllt mit Trinkwasser – allerdings befand sich all das außerhalb der Umschließung, konnte also nur von Personen genutzt werden, die sich der erkennungsdienstlichen Maßnahme unterzogen hatten. Zudem musste der Toilettenwagen bereits um 1 Uhr abrücken. Die Lenkzeit des Fahrers sei überschritten gewesen. Betroffene hatten im Nachgang vielfach darüber berichtet, wie sie über Stunden auf engstem Raum auch in der eigenen Notdurft ausharren mussten.
4000 Polizisten – 17 Wasserwerfer – vier Hubschrauber
Abgesehen von den Fehlern bezüglich der Einkesselung wollte Leipzigs Polizeipräsident am Mittwoch aber keinen Zweifel aufkommen lassen, dass die Maßnahmen – auch in ihrem Umfang – absolut gerechtfertigt waren. „Trotz aller Kritik sind die taktischen Ziele des Einsatzes erreicht worden. Es war eine sichere Stadt.“ Und: Die letztlich eingekesselten Personen wurden „differenziert und nicht wahllos eingeschlossen“, so Demmler. Mittlerweile gibt es auch genauere Informationen über die Herkunft der Menschen: Etwas mehr als ein Drittel stammte demnach aus Leipzig, die Hälfte aus anderen Bundesländern. Etwa 20 ausländische Staatsbürger wurden festgehalten. Wie es weiter hieß, seien Personen dabei gewesen, die bereits bei den Ausschreitungen zum G20-Gipfel 2017 in Hamburg registriert wurden.
Demmler ist sich zudem sicher, dass gerade auch das resolute Auftreten des Staates im Zusammenhang mit dem „Tag X“ Schlimmeres in der Stadt verhindert habe. So habe das Versammlungsverbot der Stadt Leipzig erheblich zur Demobilisierung beigetragen.
Laut des Polizeichefs waren zum „Tag X“ in Leipzig 32 Hundertschaften (etwa 4000 Polizistinnen und Polizisten) aus dem ganzen Bundesgebiet im Einsatz. 17 Wasserwerfer rollten an diesem Tag über Leipzigs Straßen, vier Hubschrauber sorgten für Luftaufklärung, neun (gepanzerte) Sonderwagen waren unter anderem zum Räumen von Barrikaden vor Ort, ebenso wie 12 Pferde für Versammlungslagen.
LVZ