„Hier hat kaum jeder eine klare Meinung“: Connewitz am Tag nach dem Urteil gegen Lina E. Plakate „Free Lina“ in Leipzig-Connewitz.
Auf Twitter überschlagen sich die Meinungen zum Fall Lina E. Aber wie denkt man im Stadtviertel Connewitz, wo die Leipziger Studentin vor ihrer Festnahme wohnte? Ein Spaziergang mit Gesprächen nur hinter vorgehaltener Hand.
Es ist Donnerstag, vormittags. Die Leipziger Studentin Lina E. ist seit gut zwölf Stunden wieder auf freiem Fuß, als in Connewitz allmählich der Tag beginnt. Rentner tragen Pfandflaschen in den Supermarkt, Studierende bringen Brötchentüten hinaus. Das Stadtviertel, in dem Lina E. zumindest bis zu ihrer Inhaftierung lebte, ist auch das, in dem man die stärksten Meinungen zu dem anderthalb Jahre dauernden Prozess vermutet.
Viele Hauswände ziert der Slogan „Free Lina“. Und am Samstag soll hier – trotz eines Verbots – anlässlich des Urteils im Fall Lina E. demonstriert werden. Was denken die Menschen, denen man hier auf der Straße begegnet, über die verurteilte Linksextremistin – und über den bevorstehenden „Tag X“?
„Seltsam, dass ein Prozess mit reinen Indizien geführt wurde“
Die erste Person ist ein Mann mit Rastas, der vom Einkaufen kommt. „Natürlich habe ich das verfolgt“, sagt er. Dann schweigt er erst mal, als müsste man sich ohnehin eine Weile mit ihm hinsetzen, um all das zu besprechen, was es zu dem Fall zu besprechen gibt. Denn Heiko, 45, hat eine distinguierte Meinung. Einerseits, sagt er, sei es „auf keinen Fall okay, dass irgendwelche Leute andere Leute mit Hämmern angreifen“. Aber, führt er aus: „Ich finde es auch seltsam, dass ein Prozess aufgrund von reinen Indizien geführt wurde.“
Tatsächlich begründete die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer ihre Anklage mit der „Gesamtschau“ der Geschehnisse. Die „Smoking Gun“, also der alles entscheidende Beweis, fehlt. „Das sollen alles Fachleute klären“, sagt Heiko. „Ich glaube nicht, dass jeder hier in Connewitz eine ganz klare Meinung hat.“
Was im Stadtteil auffällt: Niemand, dem man innerhalb von zwei Stunden begegnet, möchte mit seinem vollen Namen und Foto in der Zeitung zu seiner Meinung stehen. Anders als bei anderen Umfragen ist das Thema Lina E. schon eines, zu dem es viel zu sagen gibt – aber keines, zu dem viele Leute ausführlich sprechen wollen.
„Traurig, dass jemand glaubt, Gewalt anwenden zu müssen“
An einem silbernen Fahrradbügel schließt Mike, 27, sein Fahrrad an. Der Lehramtsstudent hat sich eine Club Mate im Konsum gekauft – und kommt beim Stichwort Lina E. sofort ins Reden. „Es ist absurd, dass sie wegen des Paragraphen 129 verurteilt wurde“, sagt er. Damit meint Mike den Vorwurf der „kriminellen Vereinigung“, der Lina E. und ihren Mitangeklagten mithilfe eines Kronzeugen nachgewiesen wurde – und aus dem sich ihre vergleichsweise hohe Strafe von mehr als fünf Jahren bemisst, die man für Körperverletzung und Urkundenfälschung allein nicht bekommen hätte.
Mikes Empörung speist sich auch aus seinem persönlichen Erleben. Er stamme aus Oschatz. „Dort ist Rechtsextremismus alltäglich“, sagt er. „Wenn der Staat blind ist, dann muss man sich entgegenstellen.“ Das habe er schon früh gelernt. Es gebe zu Recht das staatliche Gewaltmonopol, sagt Mike. „Aber ich habe das Gefühl, dass es gegen rechts nicht wirklich ausgeschöpft wird.“
Wer sich weiter durch Connewitz bewegt, der trifft auch Julia, 27, Sportwissenschaftsstudentin, die vor einem halben Jahr aus Frankfurt am Main nach Leipzig gezogen ist und sagt: „Ich finde es richtig, sich gegen rechts zu engagieren, aber schwierig, wenn dafür Gewalt eingesetzt wird.“ Und Pamela, die sagt: „Ich finde es traurig, dass jemand glaubt, Gewalt anwenden zu müssen. Ich verstehe aber nicht, warum über das Urteil geschimpft wird – so ist das nun mal.“
„Wir freuen uns“ auf den „Tag X“ am Samstag
Gegen Nachmittag dünnt die Laufkundschaft aus. Die meisten Menschen sind wieder auf Arbeit. Was man in Connewitz nicht findet, sind die lauten, extremen Stimmen, die den Diskurs in den sozialen Medien dominieren. Niemand, dem man hier begegnet, fordert eine härtere Strafe. Aber auch kaum jemand einen Freispruch.#
Und der sogenannte „Tag X“, an dem von Connewitz ausgehend demonstriert werden soll? Auf der Bornaischen Straße berichten viele Händler und Restaurantbetreiber, ihre Geschäfte an diesem Tag nicht zu öffnen und Freisitzmöblierung in Sicherheit zu bringen. Öffentlich will auch das niemand sagen – man könne sich ja zur Zielscheibe machen. Auch wenn die Stadt den Aufzug inwzischen verboten hat, glaubt hier niemand, dass sich alle daran halten.
Dann laufen noch zwei junge Frauen vorbei. Was denken sie über den „Tag X“? „Wir freuen uns“, sagt die eine. „Wird spannend“, die andere. Das Urteil im Fall Lina E. mag gesprochen sein. Das letzte Wort von einigen Bewohnern in Connewitz, scheint es, noch nicht.