Prozess gegen mutmaßliche Linksextremistin Lina E.: Am Mittwoch fällt das Urteil in Dresden

Die Bundesanwaltschaft hält Lina E. für die Rädelsführerin einer linken Schlägertruppe. Im Prozess wirkt sie eher wie eine nette Studentin von nebenan. Am Mittwoch fällt das Urteil.

Den schwarzen Lina-Beutel aus Baumwolle gibt es im Online-Shop schon für zehn Euro. Der Kapuzenpulli mit aufgedrucktem Pfeffersprayer und Hammer kostet immerhin schon 47 Euro. Im Angebot sind Free-Lina-Aufkleber und Lina-Shirts mit „Feuer und Flamme“-Schriftzug. Lina E., „unsere Freundin und Genossin“, wie Unterstützer sie nennen, ist eine Heldin in der linken Szene in ganz Deutschland.

Seit zweieinhalb Jahren sitzt die Studentin im Frauengefängnis in Chemnitz in Untersuchungshaft. Die Bundesanwaltschaft wirft ihr vor, Rädelsführerin einer kriminellen Vereinigung zu sein, die in Sachsen und Thüringen systematisch Rechtsextremisten und Menschen, die sie dafür hielt, überfiel und mit Schlagstöcken, Hammer, Stangen und Reizgas schwer verletzte.

An diesem Mittwoch, nach fast 100 Prozesstagen, will der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Dresden sein Urteil gegen die 28-Jährige und ihre drei Kampfgefährten verkünden. Wenn es nach der Anklage geht, bleibt Lina E. acht Jahre in Haft.

Das Auftreten der Angeklagten in ihrem Prozess und das Bild, das sich aus der langen Beweisaufnahme ergibt, passen auf den ersten Blick nicht recht zusammen. Mit einer Schleife im Haar und fröhlichem Lächeln winkt sie ihren Unterstützern zu. Sie wirft Kusshände in die Runde, wenn sie morgens in den Saal kommt. Schwer zu sagen, ob das Bild der netten Lina echt ist oder ob es einer Inszenierung dient. Sich der „Repression“ bloß nicht beugen, fordern ihre Leute in den einschlägigen Internet-Portalen.

Dankesworte an die Eltern und die Omis

Während sich ihre meist in schwarz gekleideten Freunde und Angehörigen, darunter stets ihre Mutter, auf den Zuhörerplätzen mit Zwischenrufen oder Klatschen bemerkbar machen, sitzt die Angeklagte schweigend da – fast unscheinbar. Sie erzählt dem Gericht über ihre Kindheit in Kassel, Schule und Studium in Halle, die Arbeit als Sozialpädagogin mit Kindern und Jugendlichen. Die Mutter ist ebenfalls Sozialpädagogin, der Vater Oberstudienrat. Zu den schwerwiegenden Vorwürfen der Bundesanwaltschaft sagt Lina E. zweieinhalb Jahre lang kein Wort. Ihre letzten Worte vor der Urteilsverkündung nutzt sie nicht etwa für eine politische Erklärung, sondern für Dankesworte an ihre Eltern, „die Omis“, ihre Freunde und die Anwälte.

Staatsanwältin Alexandra Geilhorn zeichnet dagegen ein anderes Bild von der Angeklagten. Lina E. ist nach ihrer Überzeugung mit ihrem Freund Johann G. die treibende Kraft einer kriminellen Vereinigung selbst ernannter Nazi-Jäger gewesen. Sie beide hätten Opfer ausgewählt und Gruppenziele bestimmt. Linas Aufgabe sei es gewesen, Mittäter auszusuchen und für die Attacken zu gewinnen. Als sogenannte Überblicksperson habe sie die Schlägereien abgesichert und im Notfall den Rückzug angeordnet. Lina E. sei diejenige gewesen, die Zugang hatte zu einem Versteck mit den Tatwerkzeugen. Elf sichere Handys wurden in ihrer Wohnung sichergestellt.

Lina E. lebte in Leipzig-Connewitz, bevor sie im November 2020 verhaftet und mit dem Hubschrauber zum Ermittlungsrichter nach Karlsruhe geflogen wird. Ihr Freund ist zu diesem Zeitpunkt untergetaucht. Spätestens im August 2018 haben sich, davon ist die Bundesanwaltschaft überzeugt, Lina und Johann mit anderen in Leipzig zusammenschlossen und bis etwa Anfang 2020 Rechtsextremisten verprügelt. Die Angeklagten passten sie auf dem Weg zur Arbeit ab oder, wie in einem Fall, nach einer Neonazi-Demonstration in Dresden am Bahnhof in Wurzen.

Brüche am Schädel, Metallplatten im Gesicht

Einen Wirt in Eisenach, der inzwischen selbst in Untersuchungshaft sitzt, überfielen sie einmal in seiner Kneipe und einmal vor seiner Wohnung. Nach und nach wollten sie all jenen eine Lektion erteilen, die Anfang 2016 bei rechten Ausschreitungen, dem sogenannten Sturm auf Connewitz, dabei gewesen waren. Ein ehrgeiziger Plan: Die Liste von damals umfasste 215 Personen.

Am schlimmsten erwischte es einen Arbeiter in Leipzig, den vermummte Täter aufgrund seiner Mütze fälschlicherweise für einen Nazi hielten. Sie verprügelten den Mann am helllichten Tag auf seiner Baustelle mitten in der Stadt so heftig, dass er mehrere Brüche am Schädel erlitt. Seine Augenhöhle konnte nur mit Metallplatten zusammengehalten werden. Der Familienvater leidet bis heute unter Schmerzen und Angstzuständen.

Die Angeklagten hätten sich aufgrund ihrer eigenen Definition von Antifaschismus für ermächtigt gehalten, mit Gewalt gegen den politischen Gegner vorzugehen, kritisiert Staatsanwältin Geilhorn dieses Vorgehen. Die Spirale der Gewalt sei eine Belastung für die Innere Sicherheit im Land und müsse unterbrochen werden, mahnt die Staatsanwältin. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit hänge nicht von der politischen Gesinnung ab. Der Zweck heilige eben nicht die Mittel. „Es gibt keine gute politische Gewalt.

„Ihre Sichtweise empört das linke Publikum ebenso wie die insgesamt acht Verteidiger. Es sei genau diese historisch falsche Parallele zu den sogenannten Weimarer Verhältnissen, die dazu geführt habe, dass Karlsruhe das Verfahren an sich gezogen und nicht etwa einem normalen Schöffengericht überlassen habe, entgegnen die Anwälte. Damals, in der Zeit der Straßenschlachten zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, sei wie heute die tödliche Gewalt vor allem von rechts ausgegangen, sagt Rechtsanwalt Einar Aufurth. Er und seine Kollegen werfen der Bundesanwaltschaft „Geschichtsblindheit“ und „unbedingten Verfolgungseifer“ vor.

Bewährungsstrafen nur für Nazis?

Die Angeklagten vertrauten nach den rechtsextremen Anschlägen in den letzten Jahren, dem Versagen von Polizei und Justiz und den milden Strafen dem Staat nicht mehr, argumentieren die Anwälte. Man müsse offenbar Nazi sein, um eine Bewährungsstrafe zu bekommen, höhnt Aufurths Kollegin Rita Belter unter dem lauten Beifall der Zuhörer. Linksextremisten formulieren es in ihren Foren noch drastischer: Der Staat sei, egal wie er sich selbst sehe, nichts anderes als ein Förderer, Beschützer und Verteidiger von Faschisten und Nationalsozialisten.

Doch so vehement, wie Verteidiger die linke Selbstjustiz verteidigen, so heftig bestreiten sie, dass die Angeklagten mit den konkreten Straftaten etwas zu tun hatten. Die Beweiskette sei brüchig. Die Angeklagten schweigen in ihrem langen Prozess zu den Gewalttaten.

Tatsächlich musste auch die Bundesanwaltschaft einräumen, dass es keine „smoking gun“ gibt, also nicht den einen eindeutigen Beweis für die Schuld der Angeklagten. Ausgerechnet im Fall des schwer verletzten Kanalarbeiters ist die Beweislage gegen Lina E. besonders dünn. Die Anklägerin beruft sich bei den Taten auf Indizien, DNA-Spuren, Abhörmaßnahmen, Zeugenaussagen und auf den Kronzeugen – ein Antifa-Kämpfer und früherer Freund von Lina und Johann. Sein überraschendes Auftauchen muss sie schwer getroffen haben. Ein Verräter in ihren Reihen, das hätte in der Szene, in der Abschottung nach außen zum kleinen Einmaleins gehört, wohl keiner für möglich gehalten.

Laute Wortwechsel zwischen Richter und Verteidiger

Der Kronzeuge geht nicht nur auf Distanz zu den politischen Motiven seiner ehemaligen Freunde. Er gibt dem Gericht gute Einblicke in die Strukturen der Connewitzer Szene. So beschreibt er anschaulich die Trainingseinheiten in einer Sporthalle, mit denen sich die Gruppe auf die Attacken vorbereitet haben soll. Und, was für sie noch schlimmer ist: Er nennt Namen von Tätern und Unterstützern.

Fast 100 Verhandlungstage verhandelt der Staatsschutzsenat unter Vorsitz von Hans Schlüter-Staats. Oft gibt es laute Wortwechsel zwischen Verteidigern und dem Vorsitzenden. Bis ins Kleinste wird über die Fragen an Zeugen und deren Bewertung gestritten. Als eine Verteidigerin nach Schluss der Beweisaufnahme in ihrem Plädoyer die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen anzweifelt, lädt Schlüter-Staats kurzerhand noch einmal zwei Zeugen, um ihre Behauptung zu überprüfen.

Im April beantragt Staatsanwältin Geilhorn Haftstrafen zwischen zwei Jahren und neun Monaten sowie acht Jahren. Die Angeklagten wirken geschockt. Es scheint, als hätten sie das nicht erwartet. Die Unterstützer im Publikum gehen nun häufiger auf Konfrontation mit dem Gericht. Einmal droht Schlüter-Staats ihnen Ordnungsgeld an, sollten sie die Worte der Verteidiger noch einmal laut beklatschen. „Sehr gerne“, ruft ein Mann zurück. Viele bleiben demonstrativ sitzen, wenn die fünf Berufsrichter hereinkommen. Sie wissen, irgendwie muss der Richter auf ihre Spielchen reagieren.

An einem Tag sollen die Justizwachtmeister Personalien aufnehmen, was die Beamten aber nicht schnell genug mitbekommen. Ein anderes Mal sagt Schlüter-Staats, er werde nicht über jedes Stöckchen springen, droht aber, beim nächsten Mal die Sitzenbleiber fotografieren zu lassen.

Während im Gerichtssaal verhandelt wird, begehen Aktivisten weiter Anschläge auf eine Polizeiwache in Bremen, auf Fahrzeuge in Leipzig und auf die Geräte einer sächsischen Baufirma – im Namen der Solidarität mit inhaftierten Genossinnen und Genossen. Am Tag der Urteilsverkündung wollen Autonome in Dresden, Leipzig, Hamburg und Berlin ihrer Wut Luft verschaffen, wie es in einem Aufruf heißt. Am Sonnabend ist eine große Demonstration in Leipzig geplant, für die bundesweit mobilisiert wird. In anonymen Aufrufen drohen die Autonomen Sachschäden in Millionenhöhe an. Die Polizei nimmt die Sache ernst. Sie bereitet sich seit Wochen auf den Tag X vor. Ihren Tag der offenen Tür in Leipzig sagt sie kurzfristig ab.

Weitere Verfahren werden folgen

Eines steht fest: Nach einem Urteil gegen Lina E., Philipp M., Lennart A. und Jannis R. werden weitere Verfahren folgen. Die sächsische Justiz geht davon aus, dass sich inzwischen neue Zellen gebildet haben. Ein harter Kern habe sich weiter radikalisiert, heißt es. Linas Freund Johann ist vorbestraft, er wird mit Haftbefehl gesucht. Er soll im Winter mit anderen Tatverdächtigen aus Leipzig an Anschlägen auf Rechte in Budapest beteiligt gewesen sein.

Mit großer Sorge beobachten Ermittler, dass die Täter immer jünger werden. Einige der nach den Vorfällen in Ungarn Gesuchten sind erst Anfang 20, darunter auch zwei junge Frauen. Sie haben offenbar alle Brücken hinter sich abgebrochen. Bis heute konnten sie sich vor den Fahndern verstecken. Ermittler fragen sich, wie viel Unterstützung sie bekommen, um im Untergrund überleben zu können.

Vor wenigen Tagen vermeldeten die Generalstaatsanwaltschaft Dresden und das Landeskriminalamt Sachsen einen Erfolg. Sie nahmen einen 24-jährigen Gärtner in Jena fest, der einen NPD-Funktionär in dessen Wohnung mit Notfallhämmern malträtiert haben soll. Einem Bericht der Welt zufolge hat sich der Mittäter einer terroristischen Vereinigung in Syrien, vermutlich der PKK, angeschlossen. „Das Verfahren gegen Lina E. ist für das LKA von großer Bedeutung, sagt Dirk Münster, Leiter der Staatsschutzabteilung in einem SZ-Interview. „Im Grunde genommen haben wir gerade erst angefangen“.