Prozess gegen Lina E.: Tag der Vergeltung
Wie auch immer das Urteil ausfällt, eines erwarten die Sicherheitsbehörden schon heute nicht: ein Ende linksextremistischer Gewalt. Eher das Gegenteil. Schon seit Wochen bereitet sich die Polizei auf einen Großeinsatz in Leipzig vor – oder, wie es in den Aufrufen heißt: auf den „Tag X“.
Für den 31. Mai wird – sofern sich das Verfahren nicht noch verzögert – mit dem Urteil gegen die Angeklagten gerechnet. Am Samstag danach, dem 3. Juni, „Tag X“ also, wollen mehrere tausend Menschen aus dem In- und Ausland in Leipzig demonstrieren. Doch damit nicht genug. Es sollen rund um diesen Tag auch Schäden in Millionenhöhe angerichtet werden. So ist etwa auf der von Linksradikalen genutzten Plattform indymedia zu lesen: Für „jedes Jahr Knast gibt es ab sofort 1 Million Sachschaden bundesweit“. Und die Bundesanwaltschaft hat für die Angeklagten insgesamt knapp 18 Jahre Haft gefordert. Aufgerufen wird zu Vergeltungstaten, zu Gewalt gegen „Strukturen von Neonazis“, auch gegen „Repressionsbehörden“, staatliche Einrichtungen, Parteien, Unternehmen. Man solle kreativ werden, heißt es in dem Aufruf „The price for our freedom“.
Was natürlich die Frage provoziert, ob das ernst zu nehmen ist. Ob sich das Land einstellen sollte auf Ausschreitungen, wie es sie seit dem G20-Gipfel in Hamburg vor sechs Jahren nicht mehr gegeben hat. Damals sah sich die Polizei den linksextremen Ausschreitungen phasenweise hilflos gegenüber ausgeliefert. Oder handelt es sich bei den vollmundigen Ankündigungen eher um autonome Folklore, um den Versuch einer geschwächten und verunsicherten Szene, sich neu zu organisieren und eine Stärke zu behaupten, die sie gar nicht mehr hat?
Um das herauszufinden, hat die ZEIT mit Verfassungsschützern in mehreren Bundesländern gesprochen, mit Ermittlern und Beobachtern der Szene – und mit Unterstützern von Lina E.
Wobei diejenigen, die offiziell zu den Protesten in Leipzig aufrufen, sich in Schweigen hüllen. Man erlebt das etwa vor einem bröckelnden Gründerzeithaus im Leipziger Osten. Es beherbergt ein linkes Hausprojekt, besprüht mit Graffiti, beklebt mit „Tag X“-Plakaten. Nach Informationen der ZEIT handelt es sich um die angegebene Anschrift des Demo-Anmelders. Klingelt man dort, treten eine junge Frau und ein junger Mann vor die Tür. Und bitten freundlich um Verständnis. Man werde sich nicht äußern.
Überfälle mit Stangen, Hämmern oder Äxten. Das Ziel: Rechtsradikale
Auch manche Gruppen, die weit ab von linker Militanz sind, die für Klimaschutz oder gegen rechte Gewalt eintreten und sich mit Lina E. solidarisiert haben, handhaben das so. Anfragen werden abgelehnt oder gar nicht erst beantwortet.
Nun ist die Auskunftsbereitschaft, zumindest in linksradikalen Kreisen, traditionell verhalten. Ermittler, die das Verfahren kennen, sind da schon etwas redseliger. Sie glauben, dass die Szene längst nicht mehr so schlagkräftig ist, wie sie selbst insinuiert. Der Ermittlungsdruck wirke, heißt es. Man sei „an den Richtigen dran“.
Auch innerhalb der Szene werden die Folgen der möglichen Haftstrafen debattiert. In sozialen Medien kursiert der Text einer anonymen kommunistischen Gruppe aus Leipzig. Der Verfolgungsdruck durch die sächsischen Behörden führe zu „Wut, Lähmung, Ohnmacht, Passivität und Angst“. Auch dass im Dresdner Gerichtssaal ein ehemaliger Mitstreiter der Gruppe um Lina E. als Kronzeuge auftrat, hat das Selbstvertrauen nicht gerade gestärkt. Er plauderte womöglich wichtige Hinweise zur Finanzierung und Organisation der Gruppe aus, erzählte vom Training für den „militanten Straßenkampf“.
Immer wieder werden Daten von möglichen Opfern veröffentlicht
Andererseits sprechen Ermittler von untergetauchten Kleingruppen, sie stellten eine „neue Qualität“ im gewaltbereiten Linksextremismus dar. In den zurückliegenden Jahren, in denen das Verfahren gegen die Gruppe um Lina E. bereits lief, wurden Taten verübt, die auffällig jenen ähneln, die den Angeklagten zugeschrieben werden. Überfälle mit Stangen, Hämmern oder Äxten. Das Ziel: Rechtsradikale. Ermittler rechnen dem Netzwerk, dem auch Lina E. und die drei anderen Angeklagten angehören sollen, inzwischen 15 Personen zu. Einige sind längst untergetaucht, was die Polizei besonders alarmiert, denn Untergetauchte neigen den Erfahrungen der Behörden nach selten dazu, sich zu deradikalisieren. Das Gegenteil ist eher der Fall.
Die Täter gehen stets hoch organisiert vor. Eilenburg in Sachsen im März 2021: Angreifer, die als Polizisten verkleidet sind, dringen in die Wohnung eines NPD-Funktionärs ein. Sie schlagen mit Hämmern auf seine Fußgelenke. Zwei Monate später, ein ähnlicher Fall in Erfurt, einem Neonazi wird in dessen Wohnung das Bein gebrochen. Über seine schwangere Freundin kippen die Angreifer, so sagen es später Ermittler, eine chlorhaltige Flüssigkeit. Anderthalb Jahre später, Januar 2023, zwei Rechtsextreme werden in Erfurt mit einer Axt, Totschlägern und Pfefferspray angegriffen. Als die maskierten Angreifer bei der Flucht gefilmt werden, schreien sie: „Scheißnazis sind das!“ Budapest, einen Monat später: Rund um ein Vernetzungstreffen europäischer Neonazis werden acht Personen auf offener Straße überfallen und schwer verletzt.
Selbst unter denen, die sich mit der Gruppe um Lina E. nur „solidarisch zeigen“, wie es in der Szene gern heißt, wird Gewalt als politisches Mittel legitimiert. Ein Gespräch mit jungen Frauen und Männern in der vorigen Woche in einem Leipziger Szene-Treffpunkt. Bei Leitungswasser aus Club-Mate-Flaschen und einigen selbst gedrehten Zigaretten sind sie bereit, auf Fragen zu antworten. Bedingungen: keine Aufzeichnungen, keine Namen, keine direkten Zitate. Sie wollen sich an den Protesten zum „Tag X“ beteiligen. In ihrer Logik handelt es sich bei den Überfällen um eine Art antifaschistischen Selbstschutz. Wenn der Staat Neonazis nicht stoppe, müsse es eben jemand anderes tun. Von einigen der Opfer gibt es Fotos. Sie zeigen auch lebensgefährdende Kopfwunden. Die Aktivisten kennen die Bilder. Sie lassen sie kalt. Dass überhaupt von Neonazis als Opfer gesprochen werde, dass diese im Verfahren gegen die Gruppe um Lina E. als Nebenkläger auftreten dürften, das empfindet man als lächerlich.
Immer wieder werden Daten von möglichen Opfern veröffentlicht – womöglich um andere Gewaltbereite zu animieren, aktiv zu werden. So erschien vor drei Monaten, auch bei indymedia, eine detaillierte Liste mit Wohnadressen, mit zuvor ausspionierten Einkaufsgewohnheiten und Gassi-geh-Routen von vier Leipzigern, darunter ein verurteiltes Mitglied einer rechtsextremen Organisation und ein Kampfsportler mit – Fotos nach zu urteilen – Tätowierungen von NS-Symbolen.
Auf Anfragen der ZEIT antworten die beiden Männer nicht. Aber einen anderen auf der Liste erreicht man telefonisch: Marius Beyer, 23 Jahre, stellvertretender Vorsitzender der AfD im Leipziger Stadtrat. Beyer engagiert sich gegen die Unterbringung von Asylbewerbern am Stadtrand, spricht von einer „ausufernden Ausländerkriminalität“. Beyer wurde im Februar in einer Bar beleidigt und geschlagen – das LKA ermittelt. Nachdem seine Adresse öffentlich wurde, fand er seine Garage besprüht: „Beyer, Nazischwein“.
„Einschüchtern lasse ich mich nicht“, behauptet Beyer. Man habe weder ihn noch seine Partei vor möglichen Angriffen am „Tag X“ gewarnt. Aber gewappnet habe er sich schon vor einiger Zeit. Er und seine Mutter hätten einen kleinen Waffenschein beantragt. Seitdem trägt er immer ein Pfefferspray bei sich und überlegt, sich eine Schreckschusspistole anzuschaffen.
Verfassungsschützer rechnen nun mit einer erhöhten Gefahr für Menschen, die auf solchen Feindeslisten der Linksextremen stehen. Nach einer langen Phase der Ruhe sei zudem wieder ein Anstieg anderer linksradikaler Straftaten zu verzeichnen. Etwa Angriffe auf eine Polizeiwache in Bremen, Brandsätze auf DHL-Transporter in Hamburg, abgebrannte Autos im Hof eines Škoda-Händlers in Leipzig. In Bekennerschreiben zu all diesen Vorfällen finden sich teils weit hergeholte Bezüge zum Prozess gegen die Gruppe um Lina E.
Sächsische Ermittler werten diese Taten als eine Art Sichwarmlaufen für die befürchteten Ausschreitungen Anfang Juni. So sieht es etwa Dirk Münster vom sächsischen Landeskriminalamt. Er leitet die Staatsschutz-Abteilung und hat die Ermittlungen gegen die Gruppe geführt. „Bestimmte Leute in der Szene wollen jetzt ihre Stärke beweisen, wollen zeigen, dass sie trotz allem zu größeren Aktionen fähig sind“, sagt Münster. Er halte deswegen die Drohungen für den „Tag X“ für „äußerst realistisch. Wir erwarten einen gewaltsamen Verlauf“.
„Antifaschismus ist nicht per se mit Gewalt verknüpft“
Andererseits könnte man an dieser Stelle auch fragen, ob die Polizei nicht ein Schreckensszenario herbeiredet, um sich im Nachhinein als jene Schutzmacht präsentieren zu können, die das Schlimmste verhindern konnte. Man stehe vor einem „Schlüsseleinsatz“. Geplant wird mit Hubschraubern, Wasserwerfern, mindestens 2000 Einsatzkräften. Erstmals will der Polizeipräsident höchstpersönlich einen solchen Einsatz leiten. Außerdem heißt es, dass man potenzielle Ziele von Gewalt bereits sensibilisiert habe. Allerdings ist das bislang offenbar kaum geschehen. Erkundigt man sich etwa beim Škoda-Autohaus, das erst kürzlich Ziel eines Brandanschlags war, oder bei Institutionen, die entlang der Demo-Route liegen, hat man vom „Tag X“ meist noch nie etwas gehört.
Härte gegen Linksradikale, Milde gegenüber Rechten
Am besagten 3. Juni soll in Leipzig nicht nur die Demonstration, sondern auch ein Stadtfest mit Zehntausenden Besuchern stattfinden sowie ein sogenanntes Sicherheitsspiel: das „Sachsenpokalfinale“ zwischen den Clubs Lok Leipzig und dem Chemnitzer FC. Weswegen auch die Frage im Raum steht, ob das nicht einige Großereignisse zu viel sind. Diskutiert wird hinter den Mauern des Polizeipräsidiums auch darüber, ob ein sogenannter Polizeinotstand nötig werden könnte, was auch Einschränkungen für die „Tag X“-Demo nach sich ziehen würde. Aber ob das gewaltbereite Demonstranten wirklich davon abhält, zu tun, was ihnen vorschwebt?
Eine massive Mobilisierung aus dem Ausland, wie es sie etwa zu den Ausschreitungen rund um den Hamburger G20-Gipfel gab, ist für die Szene aber recht schwer zu organisieren und gilt als eher unwahrscheinlich. Zwar haben sich etwa Gruppen aus Griechenland, Italien oder Tschechien solidarisiert oder zur Anreise aufgerufen. Allerdings kann sich der Zeitplan des Gerichts jederzeit ändern. Und auch Linksradikalen schadet so etwas wie Planungsunsicherheit.
Viel wird wohl davon abhängen, wie sich diejenigen verhalten, die zwar mit der Gruppe um Lina E. sympathisieren, aber auf Demos nicht unbedingt selbst zum Pflasterstein greifen. Wirken sie mäßigend auf andere ein? Oder erschweren sie den Einsatz der Polizei?
Ein Besuch bei Juliane Nagel von der Linken. Sie wurde im Stadtteil Connewitz, dem traditionellen Zentrum der Leipziger Autonomen, in den Sächsischen Landtag gewählt. Hier hat sie, in einer Art offenem linken Treff, ihr Bürgerbüro. Nagel kennt Lina E., wenn auch flüchtig, wie sie beteuert.
Eins vorweg, sagt Nagel: „Gewalt ist für mich kein Mittel der politischen Auseinandersetzung. Antifaschismus ist nicht per se mit Gewalt verknüpft.“ Nagel versucht sich an einer Gratwanderung zwischen Solidarität und Verantwortungsbewusstsein. „Wenn man tiefer geht und sich die sächsischen Verhältnisse anschaut“, sagt sie, dann werde man sich mancher Argumentation nicht entziehen können. Mit sächsischen Verhältnissen meint sie, dass Linksradikale Repressionen erleiden müssten, während gegenüber Rechtsradikalen Milde herrsche.
Sie nennt mehrere Beispiele. Auch den gewaltbereiten Neonazi Leon R., der Nebenkläger im Prozess um Lina E. und eines der mutmaßlichen Opfer der Angeklagten ist. Man habe ihn – allerdings in Eisenach in Thüringen, nicht in Sachsen – lange gewähren lassen, man habe lange dabei zugesehen, wie er einen sogenannten „Nazi-Kiez“ aufzubauen versucht habe.
Mittlerweile jedoch ist auch Leon R. vom Generalbundesanwalt angeklagt worden: wegen der Gründung einer mutmaßlichen rechtsextremen Terrororganisation. Die Anklage wirft seiner Gruppe vor, sich auch die Tötung von Linksextremen zum Ziel gesetzt zu haben.
Juliane Nagel sagt, mit der Demonstration an „Tag X“ habe sie selbst nichts zu tun. Die Anmelder kenne sie nicht. Allerdings wird für das, womit sie nichts zu tun haben will, im Schaufenster ihres Büros mobilisiert. Dort hängt ein Plakat. „Free Lina“ steht darauf. Und: „Samstag nach dem Urteil ist Tag X“.