Sachsens Gesichtserkennungs-Profis: So arbeiten die Super-Recogniser der Polizei

Diese Menschen sind Ausnahmetalente: Super-Recogniser können Gesichter unter vielen Tausenden wiederkennen. Mit ihrer Hilfe fahndet die sächsische Polizei neuerdings nach Straftätern. Hier berichtet einer dieser Profis von seiner besonderen Fähigkeit.

Ein einziger Blick genügt. Der Mann, der im Folgenden Herr Schmidt heißen wird, braucht nur wenige Sekunden – schon hat sich ein Gesicht in seinem Gehirn eingenistet. Auch am nächsten Tag und in vielen Jahren wird er genau diese Mimik, diese Augen oder diesen Mund unter Tausenden Menschen wiedererkennen können. Herr Schmidt kann Gesichter einfach nicht vergessen. „Das ist mir schon als Kind aufgefallen. Doch ich wusste eine sehr lange Zeit nicht, was es bedeutet. Es war eher eine Last“, erzählt der Mann, der mittlerweile in den Vierzigern ist und als Polizist in Chemnitz arbeitet.

Scotland Yard hat die Spezialisten als erste Polizei eingesetzt

Genau dort nahm vor gut einem Jahr eine Geschichte ihren Anfang, die Herrn Schmidt zu einem gefragten Profi gemacht hat: Er ist ein sogenannter Super-Recogniser – ein Super-Gesichtserkenner. Oder, wie die Polizei in Sachsen formuliert, ein Wieder-Erkenner. Diese Ausnahmetalente können sich Gesichter, Gesten und Körpermerkmale so gut einprägen, dass sie die entsprechenden Personen auch in Menschenmassen identifizieren können. Eine Fähigkeit, die sich seit wenigen Jahren nun auch Sicherheitsbehörden zunutze machen.

Die erste Einheit wurde bei Scotland Yard in London gegründet. Sie hat unter anderem die Männer gefunden, die 2018 hinter der Vergiftung des Ex-Spions Sergei Skripal und seiner Tochter steckten. Sachsen hat im Herbst 2021 als erstes ostdeutsches Bundesland nachgezogen: In der Polizeidirektion Chemnitz begann ein Pilotprojekt, um unter den rund 2000 Beamtinnen und Beamten solche Super-Recogniser herauszufiltern.

Das Wieder-Erkennen lässt sich nicht erlernen

Was für viele Menschen eine kaum zu bewältigende Aufgabe darstellt, wurde für Herrn Schmidt zu einem Kinderspiel: „Endlich verstand ich, woran es liegt, dass mir Gesichter nicht nur bekannt vorkommen – sondern dass ich diese Leute tatsächlich wiedererkenne.“ Er berichtet von Urlauben und früheren Klassenfahrten, von simplen Einkäufen und von Zugfahrten – überall sieht dieser Mann ihm bekannte Menschen. „Wenn ich beispielsweise mit meiner Familie durch die Chemnitzer Innenstadt bummele, begegnen mir Dutzende, die ich schon mal gesehen habe.“

Wohlgemerkt, es geht nicht um Freunde, Bekannte oder gar irgendwelche Tatverdächtige aus seiner Arbeit, sondern um Fremde, die ihm irgendwann mal über den Weg gelaufen sind. Man kann sich ausmalen, dass das Leben dadurch nicht unbedingt einfacher wird. Zumal die „Festplatte“, wie er sein Gehirn nennt, permanent mit neuem Stoff versorgt wird: „Das lässt sich nicht abstellen. Nie.“ Selbst zu Hause nicht, wenn auf der Couch gemütlich ein Film geschaut wird. Ein Reset-Knopf ist bei ihm nicht eingebaut.

Nur wenige Menschen verfügen über dieses Ausnahmetalent

Dass Herr Schmidt heute überhaupt von seinem Ausnahmetalent weiß, hat er dem britischen Psychologen Josh Davis zu verdanken: Der Wissenschaftler beschäftigt sich an der Greenwich University in London seit gut zehn Jahren mit diesem noch jungen Forschungsfeld und hat einen speziellen Test entwickelt (https://greenwichuniversity.eu.qualtrics.com/jfe/form/SV_0wkAa97GeC3ABUO). Es wird davon ausgegangen, dass ein bis maximal zwei Prozent der Menschen über die besondere Fähigkeit als Super-Recogniser verfügen, die angeboren wird und nicht erlernt werden kann. Im Gegensatz zu Gedächtniskünstlern, die häufig mit bestimmten Techniken agieren, lässt sich dieses Können nicht antrainieren. So bekennt Herr Schmidt: „Ich habe kein besonders gutes Gedächtnis, kann mir nicht so viel merken. Das Wieder-Erkennen ist eher eine Inselbegabung.“

Weshalb bestimmte Menschen über ein solches Talent verfügen, liegt noch im Dunklen und wird weiter erforscht. Aktuell spricht wohl einiges dafür, dass bei ihnen gleich mehrere Prozesse im Gehirn etwas anders ablaufen als bei „herkömmlichen“ Menschen, lautet ein vereinfachter Erklärungsansatz. Egal, ob die Menschen geschminkt, verkleidet oder sich auf andere Art und Weise verändert haben – der Super-Recogniser erkennt eine eingeprägte Person wieder.

Erstes Testprojekt begann im Herbst 2021 in Chemnitz

An den ersten, freiwilligen Testläufen der sächsischen Polizei haben sich in Chemnitz insgesamt 832 Beamtinnen und Beamte beteiligt. Das Auswahlverfahren umfasst stets drei Stufen, angefangen von einem relativ einfachen Filter mit 14 Fragen über Bild-zu-Bild-Vergleiche (zehn Sekunden für acht Personen) bis zur hohen Schule, einer dreistündigen Prüfung in der Praxis. Letztlich haben 23 Bedienstete der Polizeidirektion Chemnitz ein Zertifikat als Wieder-Erkenner erhalten. Derzeit fahnden neun Frauen und 13 Männer als Super-Recogniser nach Straftätern, zwei von ihnen hauptamtlich, die anderen werden bei Bedarf eingesetzt.

„Sie haben bereits an mehr als 400 Ermittlungsverfahren mitgewirkt und entscheidende Hinweise gegeben. Beispielsweise bei Ladendiebstählen, Körperverletzungen oder Raubüberfällen – überall da, wo Videomaterial vorlag“, sagt Jana Ulbricht, die Sprecherin der Polizeidirektion Chemnitz. Und Kameras gibt es reichlich: an Tankstellen, in Straßenbahnen, in Einkaufsmeilen oder bei den Blitzern am Straßenrand. „Wir können auch private Aufnahmen verwenden, etwa Handyvideos oder von Kameras auf Grundstücken, die zum Beispiel Einbrecher aufgenommen haben“, erklärt Ulbricht.

Super-Recogniser überführen Fußball-Gewalttäter

Eine Sternstunde seien die Ermittlungen nach den Hooligan-Ausschreitungen vom Mai 2021 in Dresden gewesen, berichtet Sandra Sekula, die Leiterin der Koordinierungsstelle der Wieder-Erkenner in Chemnitz. Im Rahmen einer Amtshilfe wurden für die „Soko Hauptallee“ insgesamt 82 Stunden Bild- und Videomaterial durchgesehen – nach vier Monaten waren 42 bis dahin unbekannte, teilweise vermummte Tatverdächtige ausgemacht worden, 38 von ihnen sogar namentlich. „Dabei hat sich gezeigt, wozu die Wieder-Erkenner in der Lage sind. Es ist einfach unglaublich“, staunt Sekula noch immer.

Gerade die Ermittlungen im Fußballumfeld – aber auch im rechts- und linksextremistischen Bereich – sind der Grund, weshalb der wahre Name und das Gesicht von Herrn Schmidt nicht in der Öffentlichkeit auftauchen dürfen. Denn der Super-Erkenner sitzt nicht nur vor seinem Rechner und lässt im Normalfall 1500 bis 2000 Bilder pro Fall vor seinen Augen durchlaufen.

Wieder-Erkenner: „Plötzlich macht es Klick im Kopf“

Nein, Herr Schmidt geht auch in die Stadien oder taucht in andere Menschenansammlungen ein, um Verdächtige zu suchen und zu identifizieren. Während der Ermittlungen zu den Dynamo-Randalen ist er beispielsweise mehrmals im Rudolf-Harbig-Stadion zu Heimspielen gewesen. „Das ist schon irgendwie seltsam: Man schaut über die Blöcke oder steht auf den Gängen – und plötzlich macht es Klick im Kopf, da sieht man einen Menschen vom Bild oder Video wieder. Dann kommt immer noch ein starkes Bauchgefühl dazu“, verrät der Mann ein Geheimnis seiner Arbeit.

Wie er das macht, lässt sich nicht sagen: „Es sind keineswegs nur die Augen, die Nase oder der Mund, was mir auffällt. Jeder Mensch hat eindeutige Gesten, einen eigenen Gang oder Bewegungsmomente und Wesenszüge, die kaum jemand sonst auffallen. Das lässt sich oftmals sogar auf Hunderte Meter erkennen.“ Herr Schmidt selbst nennt seine außergewöhnliche Begabung „Instinkt“ und bezeichnet sich als „Fährtenhund“ der wohl etwas anderen Art. Als solcher war er auch nach den Ausschreitungen beim Leipziger Fußball-Stadtderby zwischen der BSG Chemie und dem 1. FC Lokomotive vom Mai 2022 häufiger in den Stadien der Regionalliga-Vereine unterwegs. Im vergangenen Jahr hatte es dazu ebenfalls eine Öffentlichkeitsfahndung mit Fotos gegeben.

Bei Ermittlungen gilt immer das Vier-Augen-Prinzip

Wichtig sei, sagt Koordinatorin Sekula, dass die Ergebnisse jeweils lediglich „ein Baustein“ in den Ermittlungen seien – wenn auch nicht selten ein wesentlicher, um überhaupt auf die Spur von Verdächtigen zu gelangen: „Es schließen sich stets noch weitere Ermittlungen an. Dafür geben die Super-Recogniser die Hinweise.“ Kommt ein Fall schließlich vor Gericht, muss alles felsenfest nachweisbar sein: Sich allein auf die Wieder-Erkenner zu stützen, genüge in den Verfahren nicht. Zudem gelte stets das Vier-Augen-Prinzip: Wird eine Person identifiziert, muss ein weiterer Profi den Fall noch einmal separat durchlaufen. Über allem stehen letztlich Sachverständige für Lichtbildvergleiche im Landeskriminalamt.

Die Einsatzkoordinatorin nennt noch einen weiteren Pluspunkt der Super-Recogniser: „Wenn die bislang zur automatischen Bildauswertung eingesetzten Programme nicht weiterkommen, weil beispielsweise der Blickwinkel ungünstig oder die Qualität zu gering ist, können häufig unsere Kolleginnen und Kollegen helfen.“ Das habe sogar in Zeiten der Corona-Pandemie geklappt, als Masken getragen wurden. Eines liege ihr noch am Herzen, meint Sekula: „Der unbescholtene Bürger hat nichts zu befürchten. Wir scannen jetzt nicht alle Menschen.“

Sachsens Polizei weitet Einsatz in diesem Jahr aus

Aufgrund der Ermittlungsergebnisse der Wieder-Erkenner soll nun in der sächsischen Polizei nach weiteren dieser Spezialisten gesucht werden. „Es ist vorgesehen, den Einsatz von auf die Polizeidirektionen Dresden und Leipzig auszuweiten. Dafür sollen die Tests der Bediensteten noch in diesem Jahr beginnen“, teilt das Innenministerium jetzt mit. Wie viele Profis künftig auch hier auf die besondere Jagd gehen, steht noch nicht fest.

Für Herrn Schmidt war das Chemnitzer Projekt jedenfalls ein Glücksfall, wie er sagt. Fragt man den Profi noch nach seinen Lieblingsgesichtern, muss er nicht lange überlegen: „Kontraste helfen. Und schöne Gesichter, da reicht eine halbe Sekunde.“ Doch es gebe auch, meint der Experte, viele nichtssagende Gesichter – „da hat man es dann nicht ganz so einfach, aber das Wieder-Erkennen funktioniert trotzdem“.