„Gewalt von Männern ist ein blinder Fleck an Familiengerichten“

Wenn sich Eltern um das Sorgerecht für ihre Kinder streiten, dann sitzen die Frauen meist am längeren Hebel, oder? Das Gegenteil ist der Fall, kritisiert die Soziologin und Autorin Christina Mundlos. Die Familiengerichte würden Frauen und Kinder nicht ausreichend vor der Gewalt von Vätern und Ex-Partnern schützen. Was muss sich ändern?

Frau Mundlos, Sie berichten, dass Frauen, deren Ex-Partner gewalttätig sind, bei Verfahren vor Familiengerichten in ganz Deutschland strukturell benachteiligt werden. Wie sind Sie auf dieses Problem aufmerksam geworden?

Als Coachin berate ich seit 15 Jahren Mütter, die verschiedene Formen von Diskriminierung, Gewalt oder Benachteiligung erlebt haben. Dabei sind mir immer wieder Fälle untergekommen, in denen Gewalt vom Vater der Kinder ausgeht und die Mütter sich selbst und ihre Kinder nicht davor schützen können, weil das Familienrechtssystem das unmöglich macht. Auf diesen Missstand möchte ich aufmerksam machen.

Wie muss man sich diesen fehlenden Schutz vor Gewalt vorstellen? Was passiert dort in den Familiengerichten?

Das größte Problem ist die generelle Grundannahme von Verfahrensbeteiligten, dass häusliche Gewalt von Männern gegen Frauen und Kinder extrem selten ist. Das ist ein großer blinder Fleck an vielen Familiengerichten. Obwohl wir aus Studien wissen, dass über 90 Prozent der häuslichen Gewalt von Männern ausgeht und dass nur etwa ein bis 3 Prozent der Frauen im Gerichtssaal falsche Angaben machen, wird den Frauen häufig nicht geglaubt. Das geht so weit, dass teilweise schriftliche Morddrohungen oder Polizeiberichte über Gewalt im Verfahren nicht ernst genommen werden. Die Konsequenz: Das Umgangsrecht der Väter wird schwerer gewichtet als das Recht von Müttern und Kindern auf Schutz vor Gewalt.

Wer noch nie etwas mit einem Familiengericht zu tun hatte, kann sich das wahrscheinlich kaum vorstellen. Insgesamt hält sich eher die Annahme, das Mütter bei Sorgerechtsstreitigkeiten die besseren Chancen haben. Wie kommt es dazu, dass die Gerichte oft gegen die Mütter entscheiden?

Es gibt frauenfeindliche Narrative, die sich in Entscheidungsmustern an den Familiengerichten niederschlagen. (https://www.familienrecht-in-deutschland.de/studie/) Frauen, die lügen, die nur das Geld der Männer wollen – einerseits sind das alte Stereotype, die es auch anderswo in der Gesellschaft gibt. Andererseits werden diese Vorstellungen aber vehement von radikalen Väterrechtsvereinigungen wie etwa dem „Väteraufbruch für Kinder“ propagiert. Sie wirken seit ungefähr 30 Jahren stark in die Institutionen hinein – indem sie zum Beispiel Fortbildungen für Richterinnen und Richter und andere Verfahrensbeteiligte anbieten.

Dort wird gelehrt, dass Gewalt und Missbrauch durch den Vater unwahrscheinlich seien und Mütter solche Vorfälle häufig erfinden würden, um die Kinder vom Vater fernzuhalten. Es findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt, in der die gewalttägigen Väter als Opfer der Frauen dastehen. Wenn man das so gelernt hat als Gutachter, als Verfahrensbeistand oder Jugendamtsmitarbeiter, hat man eine vorgefertigte Brille auf und nimmt alles andere nicht mehr wahr.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Ein typisches Schlagwort, das wirklich fast alle Mütter, die ich berate, an irgendeinem Punkt im Gerichtsverfahren zu hören bekommen, ist die angebliche Bindungsintoleranz oder Eltern-Kind-Entfremdung. Den Frauen wird unterstellt, sie seien kontrollsüchtig, würden ihre Kinder als Besitz erachten und deshalb den Kontakt zum Vater verhindern. So entsteht folgende Logik: Wenn ein Kind nicht zu seinem Vater will, ist das die Schuld der Mutter, die das Kind manipuliert. Die Angst des Kindes vor dem Vater wird nicht als mögliche Reaktion auf eine Gewalterfahrung in Betracht gezogen. Das kann zur Folge haben, dass das Gericht den Kontakt mit dem Vater erzwingt oder sogar der Mutter den Kontakt mit dem Kind verbietet.

Was muss passieren, damit sich das ändert und die Gerichte die Fälle differenzierter betrachten?

Um den Gewaltschutz zu verbessern, sind einige Gesetzesänderungen nötig. Etwa muss Gewalt klar als Kindeswohlgefährdung anerkannt werden – das ist aktuell nicht immer der Fall, so verrückt es klingt. Es muss klar sein, dass bei Vorliegen von häuslicher Gewalt kein gemeinsames Sorgerecht mit einem Täter möglich ist. Und Kinder dürfen auch nicht zum Umgang mit einem Elternteil gezwungen werden, das schon einmal gewalttätig war.

Außerdem wäre es sinnvoll, wenn wir gesetzlich regeln, dass Gutachter und Verfahrensbeistände nach einer Liste zugeteilt und nicht mehr von den Richtern selbst bestellt werden. Das würde helfen, Klüngelei zu vermeiden. Die Einschätzungen von Verfahrensbeiständen wiegen vor Gericht sehr schwer und können für das Verfahren entscheidend sein. Im Moment ist es so, dass eine Richterin oder ein Richter immer die gleichen Sachverständigen mit einer bestimmten Meinung oder Einschätzung bestellen kann. Umgekehrt stehen diese Sachverständigen unter Druck: Wenn sie Aussagen treffen, die der Einschätzung des Richters widersprechen, müssen sie fürchten, beim nächsten Fall nicht mehr beauftragt zu werden.

Und wie kommt man gegen die Vorurteile gegenüber Frauen an?

Zuallererst müssten dringend die Inhalte dieser Aus- und Fortbildungen für Verfahrensbeteiligte verbessert werden. Da müsste man einmal genau schauen: Was sind aktuell die Inhalte und wer sind die Ausbildungsinstitute?

Und dann braucht es dringend mehr Wissen im Umgang mit traumatisierten Menschen. Das ist in unserem Justizapparat noch überhaupt nicht angekommen. Zum Beispiel ist es typisch bei Traumata, dass Menschen manchmal lückenhaft erzählen oder sich an bestimmte Situationen partout nicht erinnern können, weil die Psyche das wegschließt, als eine Art Schutzmechanismus. In den Befragungen werden aber genau diese Verhaltensweisen oft als Anhaltspunkt dafür ausgelegt, dass eine Frau lügt.

Außerdem müssen Richterinnen, Gutachter oder Verfahrensbeistände in Kinderpsychologie geschult werden, denn es gibt häufig direkte Befragungen der Kinder. Ich höre sehr oft, dass die Menschen, die dort die Fragen stellen, den Kindern Druck machen. Sie fragen dann zum Beispiel: „Glaubst du nicht, dass dein Papa sehr traurig wäre, wenn du ihn nicht mehr siehst?“ Jeder, der das Kindeswohl im Blick hätte, weiß, dass Kinder sich sehr schnell schuldig fühlen und man alles dafür tun muss, dass sie nicht auch noch die Verantwortung der Erwachsenen übernehmen. Hier muss auf jeden Fall etwas passieren, weil ansonsten mehr Schaden angerichtet wird, als dass den Kindern geholfen werden kann.

Was raten Sie betroffenen Frauen?

Auch wenn es schwierig ist: Das Wichtigste ist, die Nerven nicht zu verlieren. Sonst hat man noch schlechtere Chancen, die eigene Position glaubhaft zu machen.

Außerdem rate ich Frauen, sich vor Gericht nicht zu einer Einigung drängen zu lassen. Denn wenn man sich einigt, hat man kein Rechtsmittel mehr, um dagegen vorzugehen. Deshalb ist es im Zweifel besser, auf einem Beschluss durch den Richter zu bestehen. Auch wenn dieser Beschluss dann negativ ausfällt, kann man wenigstens noch Widerspruch dagegen einlegen. Dann geht der Fall ans Oberlandesgericht.

Außerhalb des Gerichtsverfahrens ist es wichtig, sich mit anderen Betroffenen zusammenzuschließen. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Fälle und auch die Vorgehensweisen von Vätern, die gewalttätig sind, oft sehr stark ähneln. Deshalb kann man von anderen betroffenen Frauen oft etwas lernen. Und der Austausch mit anderen schafft ein Bewusstsein dafür, dass man kein Einzelfall ist, sondern dass die Sache System hat.


Jutta Rinas RND 04.04.2022

Ergebnis neuer Studie – Miss­stände an deutschen Familien­gerichten: „hand­fester, rechts­staatlicher Skandal“
Mangelhafte Gutachten und Begutachtungen von Kindern in Sorge­rechts­streits, Ignoranz von Gewalt­hinter­gründen, Falsch­beurteilung von Mutter-Kind-Bindungen: Eine neue Studie zeigt eklatante Miss­stände an deutschen Familien­gerichten auf.

Ein Vater wird wegen Körper­verletzung und versuchter Vergewaltigung rechts­kräftig verurteilt. Stunden­lang hat er die Mutter seines Sohnes ins Gesicht geschlagen, gewürgt und versucht, sie zu vergewaltigen. Für den 13-jährigen Sohn will er ein gemeinsames Sorge­recht, sie will es aufgrund der Vorfälle auf keinen Fall. Sogar das Attest einer Psychiaterin bringt sie bei, das belegt, dass sie Angst vor jeder Begegnung mit ihrem Peiniger hat. Das zuständige Familien­gericht jedoch droht ihr, dass man ihr die mangelnde Kommunikations­fähigkeit mit dem Ex-Partner als Erziehungs­unfähigkeit auslegen könne. Eine mögliche Konsequenz: der Verlust des Sorge­rechts, für sie, nicht für ihn.

Ein Mann will seine zehn­jährige Tochter nicht mehr unter Aufsicht, sondern im sogenannten unbegleiteten Umgang sehen. Er ist zum wieder­holten Male wegen des Besitzes von kinder­porno­grafischen Schriften verurteilt worden, darunter Video­dateien, die den schweren sexuellen Miss­brauch von Mädchen unter 14 Jahren zeigen. Das zuständige Familien­gericht verwehrt ihm den unbeaufsichtigten Kontakt nach mehreren Gutachten ausdrücklich nicht wegen seiner Neigungen, sondern nur weil zu erwarten wäre, dass die hoch­belastete Mutter den „wichtigen und guten Kontakt“ des Vaters zur Tochter dann komplett boykottieren würde. Eine Gefahr für das Mädchen sieht es nicht.

Alarmierende Schief­lage an deutschen Familien­gerichten

Die beiden Fälle gehören zu den bedrückendsten Beispielen für eine alarmierende Schief­lage an deutschen Familien­gerichten. Sie belegt eine neue Studie des Soziologen und Kinder­schutz­experten Wolfgang Hammer. Hammer, früher Abteilungs­leiter der Kinder- und Jugend­hilfe im Hamburger Sozial­­ministerium, hatte schon 2019 mit einer Fall­analyse zu sogenannten Inobhut­nahmen bundes­weit für Aufsehen gesorgt. Er zeigte damals, dass Jugend­ämter Mütter von ihren Kindern trennten und ins Heim gaben, weil deren Beziehung angeblich zu symbiotisch gewesen sei. Faktisch gab es dafür zumeist keine Belege.

Seiner neuen Studie liegen rund 1000 Fälle zugrunde, Hammer wertet zudem 92 Fälle aus, die vor dem Bundes­verfassungs­gericht und Bundes­gerichts­hof anhängig waren. Seine Stich­proben sind nicht repräsentativ. Sie machen dennoch schlag­licht­artig sichtbar, dass deutsche Familien­gerichte Kinder aufgrund struktureller Probleme in einer alarmierenden Zahl an Fällen gefährden, statt sie zu beschützen – und dass vielfach Mütter Opfer frag­würdiger Verfahrens­praktiken sind.

Bis zu 86.000 Kinder jährlich an hoch konflikt­haften Verfahren beteiligt

Das gilt für die sogenannten hoch konflikt­haften Fälle unter den im Schnitt rund 148.600 Verfahren zum Umgangs- und Sorge­recht jährlich. Man muss dazu sagen, dass Eltern sich in 85 bis 95 Prozent aller Fälle einvernehmlich trennen. In welchen Größen­ordnungen sich Mängel am Familien­gericht dennoch auswirken können, zeigt eine andere Zahl: bis zu 86.000 Kinder sind laut Hammer jährlich an hoch konflikt­haften Verfahren beteiligt. Es gibt zudem ein deutliches Ost-West-Gefälle. Während West­deutschland von 2010 bis 2019 laut Statistik einen Anstieg von Verfahren zur elterlichen Sorge von 23,6 Prozent aufweist, sind es in Ost­deutschland 53,8 Prozent.

Lange Verfahrens­dauern und vielfache Begutachtungen der Kinder führen zu hohem Leidens­druck. In Hammers Studie sind sie beim ersten Verfahren zumeist noch im Säuglings- oder Klein­kind­alter, die längste Verfahrens­dauer beträgt zwölf Jahre. Oft seien gravierende Verhaltens­auffälligkeiten, seelische Verletzungen die Folge. Dazu komme, dass situations- und alters­gerechte, verbindliche Kriterien bei den Begutachtungen zur Ermittlung des Kindes­willens fehlten, kritisiert Hammer. Er zitiert den Fall eines achtjährigen Jungen, der innerhalb eines Jahres so oft im Kinder­zimmer befragt wird, dass er dort nicht mehr schläft, nur noch hinein­geht, wenn er etwas holen muss. Es handele sich, so heißt es in der Studie, nicht um einen Einzel­fall.

Kontroll­instanzen fehlten nahezu komplett

Ins Negative verkehrt habe sich auch, dass Familien­gerichte immer häufiger Sach­verständige mit Gutachten beauftragten. Kontroll­instanzen, verbindliche Qualitäts­kriterien für Gutachten fehlten aber nahezu komplett. Es habe sich eine regel­rechte „Gutachten­industrie“ gebildet, kritisiert Hammer, die mit Familien­gutachten einem Jahres­umsatz von über 2 Milliarden Euro (Durchschnitts­preis aktuell circa 8000 Euro pro Gutachten) erwirtschafte. Hammer stützt seine Rechnung auf die statistische Angabe von 270.000 Familien­gutachten pro Jahr aus dem Jahr 2015. Aktuellere Zahlen gibt es nicht.

Schon Hammers Fallzahl­analyse von 2019 zeigte einen weiteren bedrückenden Trend. Gesunde, sozial gut integrierte Kinder wurden Müttern wegen einer zu engen Mutter-Kind-Bindung weggenommen und zum Vater oder ins Heim gebracht. 692 derartige Fälle untersucht Hammer in seiner neuen Studie, die angeblich symbiotische Beziehung von Mutter und Kind ging ihm zufolge in zwei Drittel der Fälle auf haltlose Anschuldigungen zurück. Zum Teil begünstigten ideologische Leitbilder Entscheidungen von Familien­gerichten und Jugend­ämtern, die nicht auf das Kindes­wohl im Einzel­fall ausgerichtet seien. Hinter dieser Entwicklung stünden mehrere Narrative: Mütter würden Kinder entfremden; nur eine 50:50-Aufteilung der Betreuungs­zeit würde Kinder gesund aufwachsen lassen; Mütter erfänden Gewalt und Missbrauch. Sie würden allesamt in Schulungs­konzepten für Verfahrens­beteiligte vermittelt, obwohl sie fachlich nicht haltbar seien.

Am beunruhigendsten sind die von Hammer aufgezeigten Mängel in Verfahren, in denen psychische oder physische Gewalt oder Missbrauch eine Rolle spielt. Hammer zeigt an zahlreichen Beispielen, dass Familien­gerichte und Jugend­ämter sie bei ihren Entscheidungen nicht nur nicht berücksichtigen. Es kommt trotz Gewalt­hintergründen dazu, dass die Kinder von der Mutter zum Vater umplatziert, ins Heim gebracht oder gerichtlich sogenannte Wechsel­modelle herbei­geführt werden (die Kinder also zu jeweils 50 Prozent bei Mutter und Vater leben). In einer Akte steht Hammer zufolge folgender Satz: „Pädophile Neigungen des Vaters oder der begründete Verdacht des sexuellen Missbrauchs rechtfertigen nicht von sich aus einen Ausschluss des Umgangs.“

Hammer fordert, dass seine Erkenntnisse bei der geplanten großen Familien­rechts­reform der Ampel­koalition Berücksichtigung finden müssen. „Wir haben es mit einem hand­festen rechts­staatlichen Skandal zu tun, der sofortiges Handeln der politischen Verantwortungs­träger erforderlich macht“, lautet sein Fazit.