Linksextreme machen Jagd auf Neonazis: »Der Tod der Opfer wird billigend in Kauf genommen«

Schlagstöcke, Baseballschläger, Brandanschläge: In Sachsen und Thüringen gehen linke Kommandos mit äußerster Brutalität gegen Rechte vor. Eine 26-jährige Pädagogikstudentin soll in einer der Gruppen eine Schlüsselrolle spielen.

Von Jörg Diehl, Sven Röbel und Wolf Wiedmann-Schmidt

Die Täter rückten im Morgengrauen des 28. Mai an. Verkleidet als Polizisten eines Spezialeinsatzkommandos, brachen sie mit einer Ramme die Tür einer Wohnung im thüringischen Erfurt auf und überraschten die Bewohner im Schlaf. Die vermeintlichen Polizisten überwältigten den 25-jährigen Julian F., ein Mitglied der örtlichen rechtsextremen Szene. Eine mit Sturmhaube vermummte Frau führte seine im neunten Monat schwangere Partnerin in den Flur.

Dort, so ermittelte das Landeskriminalamt später, musste sie sich auf den Boden legen, während die Täter mit einem stumpfen Gegenstand auf ihren Lebensgefährten eindroschen. Er erlitt mehrere Platzwunden am Kopf und eine mehrfache Fraktur des Fußknochens. Anschließend flüchteten die Angreifer, F. und seine Partnerin ließen sie gefesselt zurück.

Noch am selben Tag bekannte sich ein linksextremes »Kommando« zu der Tat: Julian F., so hieß es in einer im Internet verbreiteten Erklärung, sei ein »jahrelang aktiver und gewalttätiger Neonazi«, der sich an Angriffen im linksalternativen Leipziger Stadtteil Connewitz beteiligt habe. »Kommt ihr zu uns, kommen wir zu euch!«, drohten die Urheber des Bekennerschreibens.

Der Überfall von Erfurt markiert den bisherigen Höhepunkt einer Reihe offenbar aufwendig geplanter Attacken gegen Rechtsextremisten in Ostdeutschland. Neben Überfällen in oder vor Privatwohnungen häufen sich Angriffe auf rechte Kneipen und ähnliche Szeneimmobilien. Nach einer Serie von Brandanschlägen in Thüringen hat Generalbundesanwalt Peter Frank die Ermittlungen an sich gezogen.

Spirale der Vergeltung

Die Eskalation linksextremer Gewalt sorgt bei den Sicherheitsbehörden für Alarmstimmung. Die Angriffe, so befürchtet eine hochrangige Beamtin, könnten Racheaktionen von Neonazis provozieren – und eine Spirale der Vergeltung auslösen. »Irgendwann bleibt einer tot am Boden liegen«, fürchtet ein Staatsschützer.

Die offenbar klandestin und in kleinen Gruppen agierenden selbst ernannten Neonazijäger zu ermitteln, stellt die Behörden bislang vor erhebliche Probleme. In einem internen Lagebild beklagen Sicherheitsbehörden die geringe Aufklärungsrate von 25 Prozent bei linksextremen Straftaten.

Eines der roten Rachekommandos aber glaubt die Bundesanwaltschaft ausfindig gemacht zu haben. Eine zentrale Rolle in der Gruppe soll eine Studentin der Erziehungswissenschaften gespielt haben, Lina E., 26. Von nächster Woche an muss sie sich vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Dresden verantworten: als mutmaßliches Mitglied einer kriminellen Vereinigung.

Laut Anklage ist Lina E. in die linksextreme Szene in Leipzig-Connewitz eingebunden. Ihr untergetauchter und inzwischen von Zielfahndern gesuchter Verlobter, Spitzname »Gucci«, hat sich den Hass auf Polizisten auf seine Fingerknöchel tätowiert: »Hate Cops« steht dort.

Die Ermittler halten Lina E., die sich in ihrer Bachelorarbeit mit dem Entstehen der Neonaziterrorzelle NSU befasst hat, für eine militante Antifaschistin. Spätestens im Sommer 2018 tat sie sich laut Anklage mit mehreren Mitstreitern zusammen, um Jagd auf Neonazis zu machen. Zwei mit E. angeklagte Männer sind Kampfsportler. Einer von ihnen nennt sich »Nero«.

Ihre Opfer sollen die Linksextremisten vor den Angriffen penibel ausgespäht und sich mit Perücken, Brillen und Mützen verkleidet haben. Absprachen sollen sie über »Aktionstelefone« getroffen haben, deren SIM-Karten auf falsche Namen registriert waren.

Einer der ersten Angriffe, die die Bundesanwaltschaft der Gruppe um Lina E. zuschreibt, richtete sich gegen Cedric S., einen rechtsextremen Aktivisten der NPD-Jugendorganisation »Junge Nationalisten« aus dem sächsischen Wurzen. Am Abend des 30. Oktober 2018 sollen fünf Vermummte ihn auf dem Weg zum Fußballtraining abgepasst haben. Laut der Ermittlungen traktierten sie ihn mit Tritten, Faustschlägen und einem Teleskopschlagstock. Das Opfer blutete am Kopf und erlitt zwei Wirbelbrüche. Ein Zeuge hörte jemanden »Scheißnazi!« brüllen, als die Angreifer flüchteten. Laut Anklage hätte die Attacke tödlich enden können.

Wer genau damals zugeschlagen hat, ist unklar. Allerdings fanden die Ermittler bei Lina E. auf einer Speicherkarte Fotos, die zwölf Wochen vor der Tat aus einem Auto heraus aufgenommen worden waren. Sie zeigen den Rechtsextremisten Cedric S. um 19.03 Uhr auf dem Weg von seiner Wohnung zum Fußballplatz, am selben Wochentag und zur selben Uhrzeit wie beim späteren Angriff.

Cedric S. war einer von 214 Männern und einer Frau, die als mutmaßliche Teilnehmer des »Sturm auf Connewitz« im Januar 2016 im Netz geoutet wurden. Damals marschierten Rechtsextremisten und Hooligans teils mit Latten und Eisenstangen bewaffnet durch das linksalternative Viertel, demolierten Autos und Kneipen und zündeten einen Sprengsatz in einem Döner-Laden. Man habe die »Leipziger Hurensohn-Antifa plattgemacht«, jubelten Neonazis hinterher. Auf einer linksextremen Internetseite drohte daraufhin ein anonymer Verfasser: »Freut euch nicht zu sehr, ihr dreckigen Faschisten. Der feige Angriff wird auf euch zurückkommen.« Unter dem Beitrag postete jemand ein Foto von Cedric S.

Der Rechtsextremist blieb offenbar nicht das einzige Opfer. Nach Ermittlungen der Bundesanwaltschaft soll die Gruppe um Lina E. auch einen militanten Neonazi aus Thüringen angegriffen haben, und das gleich zweimal. Leon R. betreibt in Eisenach den rechtsextremen Szenetreff »Bull’s Eye« und mischt in der Neonazikampfsportgruppe »Knockout 51« mit.

Im Oktober 2019 stürmten den Ermittlungen zufolge rund ein Dutzend Vermummte R.s Kneipe, bewaffnet mit Baseballschlägern und Schlagstöcken. Darunter soll laut Anklage Lina E. gewesen sein, sie habe in dem Neonazitreff Pfefferspray oder Reizgas versprüht. Fensterscheiben gingen zu Bruch, mehrere Gäste wurden verletzt.

Zwei Monate später sollen die roten Rächer dann Leon R. um 3.15 Uhr nachts vor seiner Wohnung abgepasst haben und unter anderem mit einem Hammer und einem Radschlüssel auf ihn losgegangen sein. Der Neonazi, so ermittelte die Polizei, zückte jedoch ein Teppichmesser, worauf die Angreifer von ihm abließen und stattdessen R.s Begleiter attackierten und deren Auto zertrümmerten.

Lina E. und ein weiterer Verdächtiger wurden in derselben Nacht von der Polizei in Eisenach gestoppt, in einem Wagen mit offenbar gestohlenen Nummernschildern. Die echten Schilder des auf E.s Mutter zugelassenen VW Golf lagen auf dem Rücksitz.

Die Studentin blieb zunächst auf freiem Fuß – und soll nur wenige Monate später in Leipzig mit ihren Mitstreitern das womöglich nächste Opfer ausgekundschaftet haben. Laut Ermittlungsakten habe sie dabei zur Tarnung eine Rothaarperücke getragen.

Der Mann, der ins Visier der Truppe gerückt sein soll, ist eine Hassfigur der linken Szene: Brian E. Der rechtsradikale Kampfsportler war ebenfalls 2016 am »Sturm auf Connewitz« beteiligt. Und durfte trotz einer Verurteilung wegen besonders schweren Landfriedensbruchs sein Rechtsreferendariat fortsetzen. Im Juni 2020, am Tag seiner Zivilrecht-Klausur für das zweite Staatsexamen, so vermuten die Ermittler, sollte er zusammengeschlagen werden. Doch dazu kam es nicht: Das sächsische Landeskriminalamt hatte die Gruppe um Lina E. inzwischen observiert – und warnte Brian E.

Die Verteidiger von Lina E. bezeichneten die Anklage im Frühjahr als »mit heißer Nadel gestrickt«, nach ihrer Einschätzung werde sich ein »erheblicher Teil der Vorwürfe« nicht belegen lassen. Aktuell wollten sie sich nicht zu den Anschuldigungen gegen ihre Mandantin äußern. Die Anwälte der drei mit ihr angeklagten Männer ließen Anfragen unbeantwortet.

Auch nach Auffliegen der Gruppe riss die Serie von Angriffen auf Neonazis in Sachsen und Thüringen nicht ab. Mehrmals suchten offenbar linksextreme Kommandos ihre Opfer dabei zu Hause auf.

Im März überfielen sie am frühen Morgen den Bundesvorsitzenden der NPD-Jugendorganisation Paul Rzehaczek in dessen Wohnung im sächsischen Eilenburg. Wie beim Angriff auf Julian F. in Erfurt sollen die Täter Polizeiwesten und Sturmhauben getragen haben und als vermeintliches Einsatzkommando ins Haus gelangt sein. Den Ermittlungen zufolge schlugen sie mit Hämmern auf Rzehaczeks Fußgelenke ein und verletzten ihn schwer.

Bis heute nicht aufgeklärt ist auch ein Angriff im Juli 2020. Ein vermeintlicher Paketbote klingelte an der Wohnung eines vorbestraften Rechtsextremisten in Dresden-Leuben. Als der damals 22-Jährige öffnete, griffen ihn im Treppenhaus mehrere Täter mit einem Schlosserhammer an.

»Im Linksextremismus ist eine neue Qualität der gewalttätigen Übergriffe zu beobachten«, sagt der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang. »Es sind mehrere klandestine Kleingruppen entstanden, die sich vom Rest der Szene abschotten und gezielt ihre politischen Gegner angreifen. Hemmschwellen sind gefallen, und teilweise wird der Tod der Opfer billigend in Kauf genommen.«

Das konzertierte Eindringen in Wohnungen, in der Szene bisweilen als »Hausbesuche« verbrämt, ist nicht die einzige Form mutmaßlich linksextremer Gewalt, mit der sich die Sicherheitsbehörden derzeit auseinandersetzen. Erst kürzlich hat die Karlsruher Bundesanwaltschaft die Ermittlungen zu einer Serie von Brandanschlägen auf rechte Szene-Immobilien in Thüringen übernommen. Den bislang unbekannten Tätern werden die Bildung einer kriminellen Vereinigung sowie Brandstiftungsdelikte vorgeworfen.

Es geht um fünf Anschläge im April und Mai. Zu den angegriffenen Zielen gehörten eine für Rechtsrockkonzerte genutzte Baracke in Ronneburg, ein von rechten Kampfsportlern frequentiertes Fitnessstudio in Schmölln, ein Szene-Treffpunkt in Sonneberg und ein für rechtsextreme Tagungen bekanntes Rittergut in Buttstädt.

Der bislang letzte Brandanschlag, den die Bundesanwaltschaft der Serie zurechnet, richtete sich gegen die Gaststätte »Goldener Löwe« in Kloster Veßra. Sie wird von dem bundesweit bekannten Neonazi Tommy Frenck betrieben, der zu Hitlers Geburtstag mitunter Schnitzel für 8,88 Euro anbietet.

Die Reaktionen der rechtsextremen Szene auf die Angriffe und Anschläge lassen Schlimmes befürchten. »Wenn der Erste von uns tot auf der Straße liegenbleibt«, drohte ein Neonazi bei einer Demo, »dann gnade euch Gott.«

Foto: Marcus Scheidel (Brennender Rechtsextremisten-Treff im thüringischen Guthmannshausen

gefunden auf https://www.spiegel.de/panorama/justiz/sachsen-und-thueringen-linksextreme-kommandos-ueberfallen-neonazis-a-18dae584-a61f-4497-afb9-0c68e4f171b8 am 03.09.2921