Bürgerrechtlerin Gesine Oltmanns über die Protestkultur von aktuellen Demos: „Falsch und gefährlich“
Am Sonntag jährt sich der historische 9. Oktober zum 33. Mal. Über eines der wichtigsten Daten der Friedlichen Revolution und die Protest-Kultur bei aktuellen Aufzügen äußert sich Bürgerrechtlerin Gesine Oltmanns im Interview. Sie warnt vor rechtsnationalen Gruppierungen und appelliert an ihre Generation, auf Gegendemos präsent zu sein.
Zu den wichtigsten Daten der Friedlichen Revolution 1989 gehört der 9. Oktober. 70 000 Menschen protestierten auf dem Leipziger Ring für den Aufbruch in die Demokratie. Die Slogans von damals werden auch bei aktuellen Demonstrationen benutzt, unter anderem von Rechtsradikalen. Darüber und über das Erbe der Wende vor 33 Jahren sprachen wir vor dem Lichtfest am Sonntag mit Bürgerrechtlerin Gesine Oltmanns.
Frau Oltmanns, am vergangenen Montag wollten Sie sich an einer Sitzblockade beteiligen, die Demonstrierenden gegen die Bundesregierung die Stirn bieten wollte. Warum ging das nicht?
Das habe ich mich auch gefragt. Die Blockade war als Sitz-Versammlung angemeldet, doch die Polizei hat untersagt, sich dazuzusetzen, weil es angeblich eine Ordnungswidrigkeit gewesen wäre. Dafür fehlt mir das Verständnis.
Eine knappe Woche vor dem Lichtfest diese andere Form von „Montagsdemos“ um den Ring zu erleben, „Wir sind das Volk“-Rufe zu hören – was empfanden Sie dabei?
Zu erleben, dass rechte Gruppierungen die Slogans von damals missbrauchen, entsetzt mich. Diese Aufzüge haben nicht im Entferntesten etwas mit unseren Forderungen von Presse- und Versammlungsfreiheit, mit Aufbruch in die Demokratie zu tun. Es ist tragisch und empörend, dass so viele Leute sich bedenkenlos zusammen mit Nazis die Straße teilen. Das und die Gewalt von rechten Schlägern bei der Montags-Demo davor bringen mich dazu, an Gegenprotesten teilzunehmen.
Die Forderungen „Freiheit, Freiheit“ und die angeblichen Parallelen zu 1989, weil Deutschland wieder am Ende sei …
… sind absurd. Wir haben sie doch, die außerparlamentarische Freiheit zu protestieren und uns gegen Zustände zu positionieren. Die komplexen Krisen wegen Energie, Klima und Krieg auf solche Formeln herunterzubrechen, ist falsch und gefährlich. Das sind Brücken zu Populismus und Rechtsnationalismus.
Werden es Schwurbler, Populisten und Nazis schaffen, die Kennzeichen der Friedlichen Revolution zu entwerten?
Das hängt von uns ab, von der Zivilgesellschaft, wie wir uns für den Erhalt demokratischer Werte einsetzen. Bei den Demos sind es weitestgehend die Jungen, die sich den gefährlichen Strömungen entgegenstellen. Dass Leute aus meiner Generation überwiegend zu Hause bleiben, finde ich fatal und alarmierend. Wir dürfen die Jüngeren nicht allein lassen. Der Spruch „Wir sind mehr“ ist nur glaubhaft, wenn man das auch zeigt.
Leipzig ist Sachsens Demo-Hauptstadt. Wie beurteilen Sie die aktuelle, breite Protestkultur zwischen zivilem Ungehorsam von Klimaschützern und Aufmarsch von Nazis? Wird das Demonstrieren durch eine Inflation entwertet?
Das glaube ich nicht, im Gegenteil. Das hat 1989 uns ja mitgegeben: sich zu solidarisieren, aufzustehen. Die vielen Proteste dokumentieren, dass die Gesellschaft lebendig ist, dass es viele Perspektiven auf die aktuelle Politik geben darf. Auf diese Meinungsfreiheit können wir stolz sein. Der Preis dafür ist, dass auch Nicht-Demokraten auf die Straße dürfen. Den zahle ich aber gern, schließlich kann ich ja ein Gegenzeichen setzen.
Sind Demonstrantinnen und Demonstranten inzwischen eher gegen etwas statt für etwas?
Auch das ist ein Unterschied zu 1989. Damals haben wir überlegt, was auf den Transparenten stehen soll und uns dafür entschieden, nicht bloß zu kritisieren, sondern Forderungen und Ziele zu zeigen. Wir haben demonstriert, damit die Hoffnung nicht verloren ging.
Christoph Wonneberger, ebenfalls Bürgerrechtler, hat sich auf Demos für „Querdenker“ engagiert …
Bei einer Demo haben wir deshalb wild kontrovers diskutiert, uns aber auch danach zum Gespräch getroffen. Einig wurden wir uns leider nicht. Das ändert nichts am großartigen Wirken Chistoph Wonnebergers gerade am 9. Oktober. Er hat uns als Pfarrer Türen geöffnet und den Rücken entscheidend gestärkt.
Die Protagonisten aus der Bürgerrechts-Bewegung sind sich auch nicht mehr einig, was die Deutung der Ereignisse von 1989 angeht. Was hat dazu geführt?
In der Anfangszeit haben wir uns der Aufarbeitung der Stasi-Geschichte und der Opferschicksale gewidmet. Da waren wir vereint. Leider haben manche von uns versäumt, im Lauf der Jahre andere Sichten zuzulassen, Geschichte und Gegenwart so zu verbinden, dass auch nachwachsende Generationen angesprochen werden. Die Stiftung Friedliche Revolution hat diese Rolle ganz bewusst übernommen und wurde von manchen kritisiert, sie würde Historie uminterpretieren. Inzwischen bekommen wir viel Wertschätzung. Aufarbeitung von DDR-Diktatur muss nicht nur auf alten Gleisen fortgeführt werden, sondern viele, auch neue Perspektiven zulassen.
Sie meinen damit das Bürgerkomitee, das unter anderem wegen fehlender moderner Vermittlung in der Kritik steht?
Ich ziehe den Kreis weiter. Es gibt in Sachsen viele Protagonisten und Einrichtungen mit großem Engagement, die neue Schritte scheuen und skeptisch sind. Neue Vermittlungsformen müssen vor allem finanziell gut ausgestattet werden. Das ist Aufgabe der Politik.
9. Oktober hat bundesweit kaum Bedeutung
Wird die Demo vom 9. Oktober heute noch genug wertgeschätzt?
In Leipzig schon, drumherum weniger. Bundesweit wird das Datum kaum wahrgenommen. Es hat eine stärkere Rolle verdient, doch es fehlt dafür noch der politische Wille. Vor allem im Westen Deutschlands wird nur auf den 9. November geschaut. Die Stiftung und ich haben uns leider bisher vergeblich für mehr Beachtung eingesetzt. Ich hoffe, dass das für 2024 geplante Freiheitsdenkmal in Leipzig etwas bewirkt. Wir arbeiten mit aller Kraft dafür.
Warum gehört das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und europäische Transformation aus Ihrer Sicht nach Leipzig?
Leipzig ist der perfekte Ort, denn die Stadt steht für Transformation und für Offenheit zu den europäischen Nachbarländern. Die Idee, nicht nur auf feste Bauten, sondern auf Mobilität mit so genannten Zukunftszügen zu setzen, hat die richtige Symbolik. Ich bin gespannt, ob sich Plauen und Leipzig gegen die Konkurrenz durchsetzen können.
Es wird viel über Pläne für den Leipziger Matthäikirchhof als Forum für Freiheit und Bürgerrechte diskutiert. Außenstehende blicken nicht mehr durch. Was sind Ihre Kenntnisse, wann aus Plänen Konkretes wird?
Zugunsten des Denkmal-Projekts habe ich mich aus der Arbeit für den Matthäikirchhof zurückgezogen. Das ist ein schwieriger Prozess, weil es viele Akteure und Interessen zu berücksichtigen gibt. Ich hoffe, dass es bald eine spürbare Entwicklung gibt. Dieses abgeschottete Areal ist historisch vielschichtig und wichtig und muss nach außen geöffnet werden.
9. Oktober ’89: „Unglaubliche Stunden“
Was werden Sie am Sonntag beim Lichtfest tun?
Ich freue mich sehr auf die Rede der Menschenrechts-Aktivistin Irina Scherbakowa. Ansonsten werde ich mir mit viel Neugier die Kunstprojekte anschauen und in der Denkmal-Werkstatt unserer Stiftung sein.
All das mit ungetrübter Freude oder Wehmut, weil die Gegenwart schon mal leichter war?
Das Heute tritt dann wirklich – außer im Gedenken an den antisemitischen Anschlag 2019 in Halle – ein wenig in den Hintergrund. Denn der 9. Oktober ist etwas Einzigartiges und für mich mit vielen Glücksmomenten verbunden, die meine Biografie geprägt haben. Egal, ob man damals auf dem Ring stand oder hinter der Gardine – es waren unglaubliche Stunden auf dem Weg hin zu unumkehrbarer Veränderung. Da werde ich gewiss auch mal ein bisschen sentimental.