Abschiebung nach 35 Jahren? Der fragwürdige Fall des Pham Phi Son aus Chemnitz

Pham Phi Son hat nach über 30 Jahren in Deutschland einen Fehler gemacht – er blieb vier Monate zu lange im Ausland. Nun droht ihm und seiner Familie die Abschiebung. Ist das gerecht und verhältnismäßig?

Immer wenn in seinem Leben eine neue Entscheidung anstand, hat Pham Phi Son sich für Deutschland entschieden. Zum ersten Mal 1987, da war er 29, als es nach seiner Zeit als Soldat in Vietnam darum ging, in welchen sozialistischen Bruderstaat er als Vertragsarbeiter gehen könnte. Die DDR lockte stärker als Sowjetunion oder Tschechoslowakei. Nach zwei Jahren im VEB Kammgarnspinnwerk Glauchau kam die Wende mit den Rufen „Wir sind das Volk“. Das „Wir“ meinte zwar die Vertragsarbeiter nicht mit, aber als man ihm eine Rückkehrprämie bot, schlug er, anders als zwei Drittel der Berechtigten, die 3.000 Mark in den Wind und entschied sich wieder für Deutschland.

Nun sieht es danach aus, als habe sich Deutschland gegen ihn entschieden. Denn Pham hat nach über 30 Jahren einen Fehler gemacht – er ist 2016 vier Monate zu lange im Ausland geblieben und hat deshalb seinen Aufenthaltstitel verloren. Seit fünf Jahren droht der Familie die Abschiebung, zeitweilig war sie untergetaucht. Ein Widerspruch, eine Klage, zwei Anläufe bei der sächsischen Härtefallkommission waren erfolglos. Zuletzt haben 80.000 Menschen eine Petition unterschrieben. Binnen weniger Wochen ist Phams Fall zum bekanntesten Beispiel für die Debatte über Verhältnismäßigkeit im Einwanderungsland Deutschland geworden.

„Wenn das kein Härtefall ist, dann weiß ich nicht, was einer sein soll“, sagt Stefan Taeubner, Jesuit und katholischer Seelsorger für Vietnamesen. Er hilft Pham, seit der in Schwierigkeiten steckt. An einem Nachmittag Anfang September sitzt er neben Pham auf dem Beifahrersitz, während der 64-Jährige geübt wie ein Taxifahrer zum Kindergarten seiner Tochter fährt. Chemnitz, seine Westentasche, seitdem er als Vertragsarbeiter herkam. Hier hat er den Großteil seines Lebens verbracht, hier wurde 2017 seine Tochter Emilia geboren.

Nach allem, was passiert ist, muss man es fast schon als Wunder bezeichnen, dass er sie jetzt – wer weiß, wie lange noch? – von einem Kindergarten abholen, dass sie dort Deutsch lernen, dass er mit ihr nach Hause fahren kann, zu seiner Frau, Nguyen Thi Quynh Hoa, 46, in eine Wohnung, zu der sein Schlüssel passt.

Dort duftet es nach vietnamesischer Suppe. Emilia stürzt sich auf den Spielteppich, während Nguyen in der Küche hantiert. Stefan Taeubner springt ein, wenn es sprachlich genau werden muss. Pham zieht derweil aus einer riesigen schwarzen Mappe ein Papier nach dem anderen und wirft die Dokumente auf den Tisch wie Trümpfe: hier die aktuellen Arbeitsangebote für ihn und seine Frau, hier die erloschene Niederlassungserlaubnis, der Sprachkurs-Beleg aus dem Jahr 1987, seine Arbeitsbeschreibung im Kammgarnspinnwerk, die beglaubigte Übersetzung des Abschlusses seiner Frau in Betriebswirtschaft …

Pham ist es gewohnt, sein Leben in gestempelten Papieren vorzuweisen, die zum Teil schon verblassen, aber seine Existenz belegen müssen: November 1987, Sprachkurs an der Volkshochschule Karl-Marx-Stadt: „Son bemühte sich wenig, seine Leistungen zu verbessern. Oftmals fiel er auch durch sein Kaspern negativ auf.“ Kaspern also. Karl-Marx-Stadt heißt jetzt anders, den ganzen Staat gibt es nicht mehr. Der Sprachkurs dauerte nur wenige Wochen, bevor der damals 29-jährige Pham umso sorgfältiger separiert wurde von der deutschen Bevölkerung – in einem Wohnheim mit anderen Vertragsarbeitern aus Kuba, Mosambik und Angola. Noch zwei Jahre bis zur Wende.

Pham blieb, führte ein paar Jahre einen Imbiss, arbeitete in Gelegenheitsjobs, häufig als Koch, seine Aufenthaltserlaubnis wurde entfristet. Im Dezember 2015 reiste er nach Vietnam. Als sich nach ein paar Monaten dort sein Knie, eine alte Kriegsverletzung, wieder meldete, musste er sich behandeln lassen. Seine Rückreise verzögerte sich bis Oktober 2016. Phams Frau zog, nachdem beide jahrelang eine Fernbeziehung geführt hatten, zu ihm nach Chemnitz, 2017 wurde die Tochter geboren. Pham schwante nichts.

Bis er für Emilia den Reisepass beantragen wollte. „Alles war schon fertig“, sagt er. Er hätte auf dem Amt eigentlich nur noch die Gebühren zahlen sollen, da habe sich jemand seinen Pass noch einmal ganz genau angesehen: Es gebe ein Problem. Hier, die Stempel bewiesen es, da sei er wohl länger als sechs Monate außer Landes gewesen? In dem Fall, sagte der Beamte, sei der Aufenthaltstitel weg. Pham befinde sich somit illegal in Deutschland. Und weil zum Zeitpunkt der Geburt seiner Tochter die Erlaubnis schon ungültig war, sei diese auch keine deutsche Staatsbürgerin.

Plötzlich ein Abschiebefall

Es ist der Moment, in dem für Pham alles zusammenfällt. Bis eben war er einer, der in Deutschland angekommen ist, seine deutsche Tochter anmelden will. Nun, nach mehr als 30 Jahren, ist er plötzlich ein Abschiebungsfall.

Pham sagt, er habe die Frist ja gekannt. Deshalb habe er in Hanoi bei der deutschen Botschaft angerufen, die ihn beruhigt habe: Er sei ja schon lange genug in Deutschland, hätten die gesagt, keine Sorge. Aber vermutlich wusste die Botschaft nicht, dass ein Unterpunkt der Regelung Pham betraf: Er hatte zum Zeitpunkt seiner Ausreise keinen Arbeitsvertrag. In so einem Fall darf er nicht länger als ein halbes Jahr im Ausland bleiben. Statt bei der Botschaft anzurufen, hätte er bei der notwendigen Behandlung eine Sondergenehmigung bei der Ausländerbehörde in Chemnitz beantragen müssen. Pham reist also ahnungslos und ungehindert wieder ein. Erst Monate später reißt es ihm auf dem Amt die Grundlage weg. Seinen Aufenthaltstitel. Sein Leben in Deutschland. Und das seiner Familie.

Rechtlich könne man da wenig machen, sagt Stefan Taeubner, der Anruf bei der Botschaft ist nicht zu beweisen, „deshalb ist es ja gerade ein Härtefall!“. Er betrifft das Leben eines Mannes, gegen den persönlich nach 35 Jahren in Deutschland nichts vorliegt. Die Polizeicomputer geben nichts her, das habe sogar der sächsische Innenminister bestätigt, sagt Taeubner. Fest steht: Pham ist nicht kriminell geworden. Zumindest bis er untertauchte, ist er durch nichts negativ aufgefallen, der Grund für das Erlöschen seiner Niederlassungserlaubnis liegt nicht in seiner Person begründet. Er hat eine Frist gerissen.

Ehrgeiz der Behörden in Chemnitz

Und natürlich könne ihm nun angelastet werden, dass er, als ihm die Abschiebung drohte, mit seiner Familie zunächst verschwand. „Aber was hätte er machen sollen?“, fragt Taeubner. Er wundert sich noch heute über den ungeheuren Ehrgeiz, den die Chemnitzer Behörde sogleich entwickelte, um Pham von seinem funktionierenden deutschen Leben „abzumelden“. Noch vor abschließender Klärung eines Widerspruchs und einer Klage habe die Stadt Chemnitz dafür gesorgt, dass Pham seinen Job und seine Wohnung verlor. Sie habe seinen Vermieter angerufen. Sie machte auch seinen damaligen Arbeitgeber darauf aufmerksam, dass der sich strafbar mache und mit einer Geldbuße von bis zu 500.000 Euro zu rechnen habe, sollte er Pham, der sich illegal in Deutschland aufhalte, weiter beschäftigen.

Pham hat das alles in seiner Mappe, den Brief an den Arbeitgeber vom 13. Juli 2017. Dann dessen erschrockene Kündigung, nur zwei Tage später. Taeubner bezweifelt, dass die Eile, Pham überall unmöglich zu machen, noch bevor der Fall vollständig geklärt war, überhaupt legal war. Er findet es perfide, wenn eine Behörde erst dafür sorgt, dass jemand seinen Job verliert, und dann erklärt, er könne sich ja nicht selbst versorgen. Warum diese Härte? „Es war das Kind“, vermutet Taeubner. „Sie wollten das Kind nicht.“ Da hätten sie sich den Stempeln in Phams Pass genauer gewidmet.

Als eines Morgens, 2017, es ist noch halbe Nacht, in Chemnitz Beamte vor der Wohnungstür stehen, ist Pham nicht da und entgeht so seiner Abschiebung. Zufällig ist er auf Einladung der Kirche unterwegs, die Wartburg zu besichtigen. Weshalb er heute glaubt, die heilige Elisabeth von Thüringen, die einst auf der Wartburg lebte, habe ihn beschützt. Danach, erzählt Pham, packte die Familie die Koffer und fuhr zu Bekannten nach Nordrhein-Westfalen. Sie tauchten unter, lebten in verschiedenen Städten, unterstützt von der vietnamesischen Community.

Pham, der vor der Polizei nie Angst gehabt hatte – warum auch? –, duckt sich noch heute in seinem Wohnzimmer, wenn er beschreibt, wie er jahrelang immer Ausschau hielt, Kontakte vermied, kaum rausging. Die drei lernten, wie man verschwindet. Emilia hatte keine Spielkameraden, denn es war unmöglich, ein „illegales“ Kind in einem Kindergarten anzumelden. Deutsch lernte sie kaum.

Etelka Kobuß, die Migrationsbeauftragte der Stadt Chemnitz, war es, die Kontakt gehalten hatte und Pham zuredete, sich den Behörden zu stellen und es in Chemnitz mit einem zweiten Antrag bei der Härtefallkommission noch einmal zu versuchen. Den unterstützten auch Seelsorger Stefan Taeubner und Frank Richter aus der SPD-Fraktion im sächsischen Landtag. Ohne sie säße Pham heute nicht hier. Kobuß wusste, dass die Stadt einer von Obdachlosigkeit bedrohten Familie mit kleinem Kind eine Wohnung stellen muss. Die Einstufung als Härtefall, schätzten die drei, sei eindeutig.

Als Pham im August zum zweiten Mal dort vorstellig wird, können sie schriftlich belegen, dass er wegen einer alten Kriegsverletzung am Knie im Krankenhaus behandelt werden musste. Er habe deshalb nicht früher zurückgekonnt.

Sachsens Ausländerbeauftragter sagt nein

Doch der Vorsitzende der Härtefallkommission ist Sachsens Ausländerbeauftragter Geert Mackenroth, CDU, bekannt als Hardliner. Er kann allein darüber entscheiden, ob die Kommission noch einmal berät. Und er sagt: Nein. Es habe sich ja rechtlich nichts geändert.

Der deutsche Staat wirkt auf Pham an dieser Stelle schläfrig und gnadenlos zugleich. Schläfrig, weil er zuerst, bei Phams Einreise nach dem langen Vietnam-Aufenthalt, die Übertretung der Zeit nicht bemerkte. Gnadenlos, weil er sie später, als das den Ausschlag geben kann, umso konsequenter ahndete. Pham empfindet das als Willkür. Manchmal träumt er, er sei schon abgeschoben.

Seit Wochen nun besuchen Journalisten den Mann, die Frau, das Kind, wälzen die Dokumente. Pham strengen die Interviews an, aber sie nähren seine Hoffnung. Er ist jetzt ein Politikum. Der Sächsische Flüchtlingsrat e. V. startet im August eine Petition, die innerhalb weniger Tage von 80.000 Menschen unterschrieben wird.

„Pham ist kein Superheld,“ sagt Taeubner. Eher einer, der sich durchschlägt im Leben. Aber wer sagt, dass nur Superhelden bleiben dürfen? Im Moment fehlt es an Personal in jedem Restaurant.

Wenn also rechtlich alles eindeutig ist, wenn sogar seine medizinischen Gründe nicht ausreichen sollten, um seine Abwesenheit zu rechtfertigen, wie das ein Gericht in Bautzen 2018 befand, so bleibt doch ein merkwürdiges Missverhältnis von Vergehen und Strafe, von Fehler und Folge. So empfinden das viele, die Pham in Chemnitz unterstützen. Sollte so ein Fehler die Entwurzelung einer Familie rechtfertigen, die ja in Deutschland sogar gebraucht würde? Es sind zwei Leute mit Arbeitsangeboten in der Gastronomie – und einer fünfjährigen Tochter, in deren Generation man sich um jede Arbeitskraft reißen wird.

Pham hat eine neue Anwältin. Für eine Abschiebung in diesen Tagen sei nun das öffentliche Interesse zu groß, sagt Taeubner. Sie hoffen, dass doch noch etwas geht. Der sächsische Flüchtlingsrat hat die Übergabe der Petition an den Landtag verschoben, denn eine laufende Petition schließe eine rechtliche Prüfung des Falles aus.