Angriff bei Chemnitzer Demos 2018: 27 Beschuldigte bis heute nicht vor Gericht

Nach dem Tötungsdelikt am Rande des Stadtfestes 2018 kam es in der Stadt wochenlang zu Demonstrationen und Kundgebungen. Ein junger Chemnitzer und seine Begleiter wurden damals von mutmaßlich rechten Tätern attackiert. Bis heute hat es kein Verfahren dazu gegeben. Warum nicht? „Freie Presse“ hat mit den Opfern, Behörden und Justizvertretern gesprochen.

Der Herbst 2018 ist bis heute eine offene Wunde. Für die Stadt Chemnitz, die sich noch immer mit dem Geschehen auseinandersetzt und versucht, Lehren daraus zu ziehen. Aber auch für einige Opfer von Angriffen, die noch immer darauf warten, dass ihre Fälle juristisch aufgearbeitet werden. So wie der heute 27-jährige Kai Schmidt* aus Chemnitz. Er und zwei Begleiter wurden damals von mutmaßlich rechten Tätern angegriffen. Bis heute hat es dazu keinen Prozess gegeben.Rückblick: Am Rande des Stadtfestes Ende August 2018 wurde der Deutsch-Kubaner Daniel H. von zwei Männern erstochen. Einen der beiden Tatverdächtigen, ein Asylbewerber aus Syrien, verurteilte das Landgericht später zu einer langen Haftstrafe, der andere ist bis heute nicht gefasst. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Tat begannen bundesweit rechte Gruppen zu mobilisieren. In den folgenden Tagen und Wochen fanden mehrere von ihnen organisierte Kundgebungen und Proteste in Chemnitz statt, an deren Rande es zu gewaltsamen Ausschreitungen und Übergriffen auf Migranten kam.

In einigen Fällen reagierte die Justiz schnell: Nur zwölf Tage nach seiner Tat wurde ein junger Mann zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Er hatte nach Überzeugung des Amtsgerichts am Ende mehrerer sich letztlich vereinender Kundgebungen von AfD, Pegida und Pro Chemnitz den Hitlergruß gezeigt. Es war eines von mehreren Schnellverfahren in jenen Wochen. Sie kommen eher selten zur Anwendung, vor allem bei sogenannten minder schweren Delikten und klarer Beweislage.

Angriff geschah nach „Herz statt Hetze“- Veranstaltung

Alles andere als schnell ging es im Fall von Kai Schmidt. Der Chemnitzer nahm am 1. September 2018 an der Kundgebung „Herz statt Hetze“ auf dem damals noch existierenden Parkplatz an der Johanniskirche teil. Zu der Veranstaltung mit allerlei Prominenz aus der Bundespolitik hatte ein Bündnis zivilgesellschaftlicher Akteure, demokratischer Parteien, Vereine, Unternehmen und Gewerkschaften aufgerufen. Parallel hatten die AfD und Pro Chemnitz zu Kundgebungen an anderen Orten im Zentrum geladen, die später zusammengeführt wurden.

Schmidt, seine Schwester und ein Freund blieben bis zum Schluss auf der „Herz statt Hetze“- Veranstaltung und machten sich dann auf den Heimweg, trugen dabei ein Schild mit der Aufschrift „Chemnitz ist weder grau noch braun“. Am Moritzhof trafen sie auf eine Gruppe dunkel gekleideter junger Leute. Aus der heraus wurden sie unvermittelt angegriffen. Schmidt wurde mehrmals im Gesicht getroffen, konnte dann aber wegrennen. Einer seiner Begleiter wurde eingekesselt und mehrfach geschlagen, seine Schwester eingekesselt und bedroht. Schmidt rannte zur Reitbahnstraße, wo er eine Polizeistreife antraf. Die Beamten begleiteten ihn zurück zum Ort des Überfalls, trafen die Schläger aber nicht mehr an. Schmidt und einer seiner Begleiter trugen Hämatome davon, ins Krankenhaus musste keiner. „Wir sind noch glimpflich davongekommen“, sagt er heute. Sie wurden mit aufs Revier genommen und befragt, die Polizei leitete Ermittlungen ein.

Die Polizei bestätigte die Angriffe erst Wochen danach auf Anfrage von „Freie Presse“. Etwa 30 Personen hätten insgesamt zehn Frauen und Männer attackiert, hieß es damals, Mitte Oktober 2018. Die Angreifer seien vermutlich dem rechten Spektrum zuzuordnen, die Opfer dem linken.

Schmidt hörte nach der Tat lange Zeit nichts von den Beamten, erst ein Jahr später wurde er erneut zu einer Zeugenvernehmung vorgeladen. „Wirklich ungewöhnlich“, nennt diese späte Befragung Anna Schramm von der Opferberatung. An das Projekt des Vereins Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA Sachsen) hatten sich Schmidt und seine Begleiter gewandt, um Hilfe zu bekommen. Allein sahen sie sich nicht in der Lage, ihr Recht einzufordern.

Opfer müssen um Prozesskostenbeihilfe kämpfen

Nach drei Jahren konstatiert Opferberaterin Schramm, dass ihren Klienten viele Hindernisse in den Weg gelegt wurden. So sei beispielsweise die Beantragung von Prozesskostenbeihilfe „ein Kampf“ gewesen. Schmidt und die beiden anderen Geschädigten wollen in einer möglichen Gerichtsverhandlung als Nebenkläger auftreten. Zwei von ihnen studieren, der Dritte hat einen Job. Die anwaltlichen Kosten – Schramm rechnet mit etwa 1000 Euro pro Verhandlungstag – können sie nicht aufbringen, sagt Schmidt. Unter Umständen steht ihnen finanzielle Hilfe vom Staat zu, die ein Gericht (in diesem Fall Amts- und Landgericht in Dresden) bewilligen muss. Bislang genehmigt wurde die nur für Kai Schmidt, für die anderen beiden wurde sie abgelehnt. Begründung: Sie könnten sich selbst vertreten und die Kosten selbst tragen. „Das Gericht macht es einem sehr schwer, eine richtige Nebenklage auf die Beine zu stellen“, meint Anna Schramm. Die Opferberatung hat deswegen nun ein Spendenaufruf für sie gestartet; rund 2500 Euro sind bislang zusammengekommen.

Staatsanwaltschaften in Chemnitz und Dresden haben gegen hunderte Beschuldigte aus dem Umfeld rechtsgerichteter Demonstrationen in Chemnitz im Herbst 2018 (vom 26. August bis zum 14. Dezember 2018) Verfahren geführt, unter anderem wegen Beleidigung, Körperverletzung, Landfriedensbruch, Sachbeschädigung und Körperverletzung. Das geht aus einer Antwort des sächsischen Justizministeriums auf eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Juliane Nagel hervor. Etwa jedes siebte dieser Verfahren endete mit einer Geldstrafe, ein Dutzend mit Haftstrafen (zum Teil zur Bewährung ausgesetzt). Der Großteil wurde eingestellt, meist, weil kein Täter oder keine Täterin ermittelt werden konnte. Oder weil die Taten nicht nachweisbar waren. Mittlerweile sind fast alle Verfahren abgeschlossen.

Zu den Angeklagten gehören Dortmunder Neonazis

Das gegen diejenigen, die Kai Schmidt, seine Schwester und einen Freund damals angriffen, läuft dagegen immer noch, mehr als vier Jahre nach der Tat. „Es wurde zu langsam ermittelt“, meint Kati Lang. Die Dresdner Anwältin vertritt Kai Schmidt. Sie kritisiert unter anderem, dass erst zwei Jahre nach der Tat, im Juni 2020, die personell besser aufgestellte Generalstaatsanwaltschaft Dresden die Ermittlungen übernommen hat. Bis dahin lagen sie bei Polizei und Staatsanwaltschaft in Chemnitz. Immerhin: Mit der Übernahme durch die Generalstaatsanwaltschaft kam etwas Bewegung in den Fall. Vor einem Jahr wurden die Ermittlungen abgeschlossen und gegen insgesamt 27 Beschuldigte Anklage wegen Landfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung erhoben, teilt die Generalstaatsanwaltschaft Dresden auf Anfrage mit. „Freie Presse“ liegen die Namen einiger der Angeklagten vor. Darunter befinden sich mindestens drei Neonazis aus Dortmund. „Die Dauer des Ermittlungsverfahrens war einerseits dem Umfang der Ermittlungen und andererseits auch der Vielzahl an Beschuldigten geschuldet“, sagt die Sprecherin der Generalstaatsanwaltschaft Sabine Wylegalla.

Seit einem Jahr liegen die Fälle nun aber beim Landgericht Chemnitz, aufgeteilt in drei Verfahren (darunter ein Jugendverfahren) mit jeweils neun Angeklagten. Verhandlungstermine gibt es bislang nicht. Gerichtssprecherin Marika Lang erklärt dazu, es müssten Termine gefunden, an denen alle Angeklagten und ihre Verteidiger Zeit haben. Außerdem werde für ein solches Verfahren wegen der großen Anzahl der Angeklagten der größte Saal des Gerichts gebraucht, der aber langfristig geblockt sei für Verhandlungen mit schwereren Tatbeständen.

Kati Lang, die Anwältin von Kai Schmidt, lässt dieses Argument nicht gelten: Das Gericht könne andere Räume anmieten oder in die Räume des Oberlandesgerichts Dresden ausweichen, das sei schon öfters geschehen, sagt die Dresdnerin. Ja, die Justiz in Sachsen sei überlastet und ja, Corona habe viele Verfahren verlangsamt, räumt Kati Lang ein. Eine Verfahrensdauer von mehr als vier Jahren sei aber nicht akzeptabel. Sie verweist darauf, dass die Verfahrensdauer beim zu fällenden Urteil zugunsten der Angeklagten berücksichtigt werden müsse. „Die lange Dauer spielt den Tätern in die Hände.“

Kai Schmidt wartet nun auf einen Verhandlungstermin, mehr als vier Jahre, nachdem er angegriffen wurde „Das macht einen wütend und lässt abstumpfen“, sagt der 27-Jährige und ergänzt: „Man hat das Gefühl, dass uns die Justiz nicht will. Und das ist ein fatales Zeichen für alle, die sich engagieren.“

*Name von der Redaktion geändert.