Bergauf im Hamsterrad der Politik
Am 5.9.2022 wurde uns bei der Demonstration „soziale Kälte. Heißer Herbst“ folgendes Flugblatt zugesteckt:
Bergauf im Hamsterrad der Politik
Hamster können die ganze Nacht im Rad rennen – und immer bergauf. Denken sie. Sie bewegen sich bis zur Erschöpfung – und bleiben doch an Ort und Stelle. Hamster können auch zusammen rennen, sogar in der gleichen Richtung, am ansehnlichsten ist das dann in derselben Richtung. Ansonsten prallen sie aufeinander, überschlagen sich – wenn das Rad schon lief, und das tut es.
Hamster können auch nebeneinander rennen – jeder in seinem eigenen Rad, aber rennen tun sie alle – und zwar im Rad der Politik samt dem Protest für eine andere Politik. Das Hamsterrad: Es ist die Sonne, die über dem Reich der modernen Passivität nie untergeht. Es bedeckt die ganze Oberfläche der Welt und badet sich endlos in seinem eigenen Ruhm.
Weil die Politik die Qualität ist, das Rad, die Form, schlägt sie alles zur reinen Quantität. Nun sind wir zum Rennen bestimmt, durchs Rad, doch selbst Hamster können aufhören, denn selbst die Wissenschaft sagt: Laufen ist kein Suchtverhalten – und wir sind nicht mal nur Viecher, wie es Hamster sind.
Im Rad kann quantitativ geregelt werden, Krücken können verteilt werden, nur die Regelung von Kapital und Staat, vom Staat des Kapitals, die bleibt gesetzt. Ordnung herrscht. Vom Protest auf der Straße für die schönen Bilder und die großen Zahlen, bleibt am Ende die Forderung an den Staat und die Hoffnung auf die Kanalisierung der Stimmen und des Menschenmaterials für die eigenen Räder von Partei, Gewerkschaft und anderen Banden.
Doch Hamster können laufen, Menschen können rennen – weg sogar, vom Rad, außerhalb des Rads weiter, anders. Abseits vom Sporn, der in Form und in der Form hält, die das Rad ist. Denn unser Problem ist nicht rein quantitativ, sondern die Qualität von Politik und Ökonomie. Es ist die Enteignung der Welt, die wir produzieren, die Form der Enteignung, die jeden Ausdruck von Leben ins Rad zu sperren sucht. Ordnung herrscht.
Wir produzieren die Ordnung, die Krisen produziert, doch was hat sie uns anzubieten, in der Krise? 300 Euro, verbilligtes Bahnfahren, ominöse Preisdeckel und das Versprechen, mit dem Aushalten der erhöhten Preise die Freiheit aufrecht zu erhalten helfen; den Zusammenschluss von Gewerkschaften, „Arbeitgeberverbände“ und Kanzleramt in der Konzertierten Aktion, um mit steuerfreien Einmailzahlungen die Tarifverhandlungen zu unterminieren und Streik gleich vorab zu desavouieren; die inoffizielle Ankündigung, dass man den Standort Deutschland schon gegen andere zu halten weiß, die dann eben wirklich kein Gas mehr kriegen, was unter der geforderten europäischen Solidarität mit Deutschland längst durchgesetzt wird. Also, die Drosselung der Mengen an Gas, die durch und über Deutschland in andere Länder im Westen von Europa gehen. Kurz gesagt, das Modell Deutschland: sozialpartnerschaftliche Befriedung des Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital und Export der größten Krisenlasten in andere Länder durch die Hegemonie innerhalb der EU.
Und die Linke? Wie bei den Hartz 4 Protesten ist deren Ziel freilich auch diesmal die Kanalisierung der Verzweiflung in Wählerstimmen für den eigenen Apparat. Dass man sich dort schon seit langem selbst als Kümmerer bezeichnet und die Menschen abholen möchte, verschweigt deren Begriff des Menschen – zumal des Ostdeutschen -, lediglich ein passives Objekt zu sein, um das man sich eben zu kümmern hat, um Stimm/gewinne zu erzielen. Weiter links steht man dem letztlich um nicht viel nach, wenn die Mikropolitiker von IL nach Protesten lechzen, um ihre Kampagnenmaschine anzuwerfen und aufzusammeln, was nicht abgeholt wurde. Ordnung herrscht. Die Spezialisten brauchen die Teilung, wie das Rad seinen Hamster. So denn er bleibt, in der Ordnung, im Rad.
Und die Rechten? Die hatten zur Enteignung der Welt nie etwas zu sagen, solange die richtigen am Drücker waren. Die Armen hatten sie schon immer zu fürchten – nicht nur die sogenannten Fremden. Kein Programm, das nicht deren eigenen Zynismus verrät.
Doch jedes Rad und noch das Hamsterrad der Politik, das aus dem Ruder gerät, verrät Fliehkräfte. Für die Manager des Protests sind diese Fliehkräfte eine Gefahr. Sie werden rhetorisch noch die spektakulärsten Pirouetten wagen, um ihre Rolle nicht zu verlieren und die Menschen bei der Stange zu halten. Denn der Protest braucht die Massen für das: „seht her“.
Die Menschen brauchen den Protest nicht unbedingt. Als Produzenten der Welt, die uns enteignet wird – wie als Spektakel des Protests – können sie wirken, eben auch außerhalb des Hamsterrads. Freilich können wir uns auch dort finden, gemeinsam dem Hamsterrad fliehen. Wer sagt, dass man mit einer positiven Forderung auf die Straße muss? Wer sagt, dass man auf die Gewerkschaften hören muss, wenn sie uns befrieden wollen?
Der politische Streik in den Betrieben ist ohne die Agenten der Ordnung a lá DGB – höchstwahrscheinlich sogar nur gegen sie möglich. Der Streik muss sich aber nicht auf den Betrieb beschränken: warum sollte nicht auch die Strom- und Gasrechnung bestreikt werden, samt des verhinderns, vom Netz genommen zu werden? In Italien nannte man dies Autoriduzione, Selbst-Reduktion, und wurde in den 70ern von vielen Tausenden zusammen praktiziert.
Die Welt, wie sie ist, ist in der Form der Quantität nicht umzustürzen, weil die Qualität die Form ist, die uns hält. Sie hält uns als Staatssubjekte, Objekte der Politik und Arbeitskraftbehälter. Als wären Kapital und Staat nicht im Bunde nur zu Haben. Und die Welt der Politik und des Protests, der sie anruft, nicht immer nur das Hamsterrad. In dem man meint bergauf zu laufen, doch rennt immer nur an Ort und Stelle.
Den Pessimismus organisieren
Gruppe Spiegelschrift