Selbstreflexion in Umbruchszeiten – zu Johann Most, Errico Malatesta und Emma Goldman

Selbstreflexion in Umbruchszeiten

Während diese Reihe von Kurzgeschichten entsteht, wartet der Autor auf die Prüfung seiner Arbeit, mit welcher eine Lebensphase abgeschlossen wird und nach der eine ebenso ungewisse Zukunft bevorsteht. Während dessen begegnen ihm verschiedene anarchistische Denker, die ihn geprägt und beeinflusst haben. Er freut sich, sie wieder zu treffen, muss aber auch schauen, wie er mit ihnen weiter macht. Denn es ist klar, dass es sich um einen Verein weißer Typen handelt, die – wie der Autor ebenfalls – einige Probleme in ihren Leben und in ihrer Geschlechtsrolle haben… Dies gilt es zu reflektieren um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die besagten eigenwilligen Leute auf ihn wirken. Im selben Zuge wird auf einige Aspekte ihres theoretischen und aktivistischen Denkens hingewiesen, die wiederum auf subjektivistische Weise mit ihren jeweiligen Persönlichkeiten in Verbindung gebracht werden. Damit wird auch eine Brücke durch Zeit und Raum geschlagen. Ganz schön irre alles. Diese und ganz andere Texte sind bereits auf paradox-a.de erschienen. Weil ich hier damit bereits genug Raum eingenommen habe, folgen nun die letzten drei Teile zu Johann Most, Errico Malatesta und Emma Goldman.

 

Eine Lektion für den zögerlichen und wankelmütigen Skeptiker

Ich bekomme veranschaulicht, was der Most-Faktor ist (siebente Geschichte)

Und da sitze ich nun auf einer Parkbank, niesend vom Heuschnupfen, latent, aber grundlos nervös, gestresst von der Vergangenheit und davon, was die Zukunft bringen mag. Wie jede vernünftige Person versuche ich diese Gedanken zu verdrängen oder lasse sie zumindest nur phasenweise zu. Denn würde ich mir ernsthaft die Fragen stellen, wo es mit mir hingeht, wie ich innerhalb der bestehenden Herrschaftsordnung gute Miene zum bösen Spiel machen kann und ob ich von ihm gespielt werden sollte, nun ja… so würde ich vermutlich ebenfalls keine Antwort finden und trotzdem mein Leben bestreiten müssen. Manchmal beneide ich die Menschen, die einen Plan haben oder zumindest vorgeben und selbst daran glauben, dass sie einen haben. Und manchmal beneide ich auch den strukturierten Alltag und die feststehenden Verpflichtungen und Sozialgefüge, über welche einige Menschen verfügen. Denn ich stelle mir vor, dass damit vieles Einfacher wäre.

Als notorischer Skeptiker habe ich es mir nie einfach gemacht. Und wurde es mir nicht besonders einfach gemacht. Dies ist ja auch einer der Gründe, warum ich den Dogmatismus und Fundamentalismus im eigenen Lager so schlecht ertragen kann – egal ob in syndikalistischer, nihilistischer oder kommunistischer Ausprägung. Es ist ja schön, wenn Menschen ihre Wahrheiten haben. Wenn ich aber per se den insurrektionalistisch-nihilistischen Politikbegriff ablehne oder die Annahme, es wäre nun mal klar, was Anarchismus sei und wie mensch sich „in Feindschaft zum Bestehenden“ positionieren müsste, ärgert das diese Leute. Wie Donnerstag als mich vier von ihnen trollen wollten. Oder was auch immer sie wollten.

Mit einem weiteren Genossen aus einer anderen Stadt kam ich beim anarchistischen Parkfest ins Gespräch. Und war überrascht, dass er einige meiner Texte kennt, denn so viele lesen sie ja tatsächlich nicht. Er meinte aber auch, dass meine Theorie ganz schön „Pomo“ wäre. Ich fragte irritiert nach, denn ich lese kein twitter und keine Foren. „Postmodern“ meinte er. Und das schien dann irgendwie auch ein Urteil zu sein. Wahrscheinlich würde er demgegenüber für ein „materialistisches“ Denken oder so etwas eintreten. Keine Ahnung. Ich bin raus bei solchen oberflächlichen Debatten. Sie interessieren mich nicht. Das ist für mich politisch-theoretischer Kindergarten. Doch ein Problem mit dem betreffenden Genossen hatte ich trotzdem nicht. Denn er schien für die Sache engagiert zu sein und kein Arschloch zu sein und das zählt für mich letztendlich.

Wenn dann ist meine Theorie porno. Und das in einem durchaus langweiligen Sinne. Sie stellt recht offensichtlich dar, was ist, um eine Reflexionsebene zu ermöglichen. Spannend wird es immer, wenn damit die Phantasie angeregt wird und Menschen ins Ausprobieren eigener theoretischer Praktiken kommen. Doch das geschieht glaube ich nur selten. Wenn Leute Theorie konsumieren, umgehen sie oftmals die eigene gedankliche Beschäftigung mit einem Gegenstand. Sie finden eine Theorie-Person, deren Gedankengänge, Sprache und Bilder sympathisch, interessant, abstoßend oder schlecht. Und dementsprechend gewinnen sie den dargelegten Gedanken etwas zu einem gewissen Grad ab oder nicht.

Da Theorie eine Reflexionsebene eröffnet, muss sie zunächst einfach plump darstellen. Und es ist auch in Ordnung, wenn spezialisierte Personen die theoretische Interaktion, Debatte und Streiterei stellvertretend übernehmen, sodass Menschen sie sich anschauen können. Der Wert der Theorie für emanzipatorische soziale Bewegungen sollte sich nicht an einem Zeugungs- und Fruchtbarkeitsparadigma messen lassen, sondern für sich selbst gelten. Die Flucht in die Theorie kann eine legitime Verweigerung einer schlechten Realität sein. Wenn theoretisches Denken und Arbeiten aber wirkmächtig werden soll, um sie zu verändern, ist mit ihm die Phantasie, Reflexion, denkerische Schärfe und Selbsttätigkeit aller anzuregen, die daran interessiert sind, über die bestehende Herrschaftsordnung hinaus zu gelangen.

Diesen Überlegungen hänge ich also in einer Kneipe nach, während der Freund, der mit mir hier ist und ich schweigen und Pommes essen. Doch werde ich jäh aus meinen Abstraktionen gerissen, als Most polternd den Raum betritt und alle Anwesenden mit den Worten begrüßt: „Na ihr Stiefellecker, übt ihr euch immer noch im Katzbuckeln? Gönnt euch mal eine Pause davon und putzt zur Abwechslung mal eure eigenen Schuhe, damit ihr den Bonzen mal einen gehörigen Arschtritt verpassen könnt, der ihrem Clan angemessen ist.“ Eine Person am Tisch neben dem Eingang schaut verlegen weg, jemand am Tresen lacht höflich und der Wirt sagt: „Hallo Johann, heute wieder das Übliche?“ während er schon dabei ist, ihm ein großes Helles zu zapfen. Nun ja, diese Kaschemme wird von so einigen Gestalten aufgesucht. Nicht ganz ohne Zufall bin ich in dieser Lebenslage ja auch mal wieder hier gelandet. Mich freut es, mir ist es aber auch etwas unangenehm, dass der große Agitator sich dann zu uns gesellt.

Die meisten sind von Mosts polterigem Auftreten gleichermaßen beeindruckt und eingeschüchtert. Da ich ihn etwas kenne und die Menschen kenne, weiß ich, womit das zu tun hat. Ein subjektiver Ausgangspunkt war freilich der Knochenfras und die Operation in seiner Kindheit. Seine Schulkameraden und die Nachbarskinder nannten ihn Hackfressen-John. „Hau dem mal eine rein, Hans, damit sein Gesicht wieder schöner wird“ – und dann lachten sie alle. Ja, das hatte sich tief eingegraben und der wilde Bart verdeckte vielleicht die körperliche Narbe etwas, kurierte aber nicht die seelischen, die sich ihm eingeschrieben haben. Was ich an Most aber immer faszinierend fand, war, dass er aufgrund seiner Kränkung eben nicht wie so viele nach unten tritt oder selbst zum Speichellecker wird, um Anteil an der Macht zu haben. Sondern das er alle Gekränkten, Ausgebeuteten und Unterdrückten zusammenbringen will, damit sich diese kollektiv ermächtigen und die Ursache ihrer Schmach an der Wurzel bekämpfen können. Und damit hat er es durchaus weit gebracht – wenn auch nicht in Kategorien seines individuellen Glücks bemessen, weswegen er seine menschlich unangenehmen Seiten immer schlechter kaschieren konnte. „Danke, Mäuschen“, sagt er zur Kellnerin, die ihm ein Schnitzel bringt und ich runzle meine Stirn, wohl wissend, dass ich diesen Haudegen auch nicht mehr ändern werde.

Na ihr beiden? Wie gefiel euch die Demo letztens durch das Reichenviertel“, fragt er uns – ohne wirklich an der Antwort interessiert zu sein. „War doch ne famose Sache, den Säcken etwas Feuer unterm Hintern zu machen, damit sie sich noch mal überlegen, die Steuern rauf zu setzen. Inflation, Inflation, rufen sie jetzt ja fortlaufend. Als wenn es ein Naturgesetz wäre, dass sie uns auf immer neue Weise ausquetschen wollen, diese Blutsauger!“. „Naja“, entgegne ich pro forma, um ins Gespräch einzusteigen, „die Leute verstehen die wirtschaftlichen Vorgänge eben nicht so leicht und das verunsichert sie. Es ist ja auch wirklich schwierig durchzusehen bei all den globalen Verflechtungen, dem Finanzmarkt und so weiter“. Johann kontert: „Ach Papperlapapp, jetzt schwätz du mal nicht. Die Proleten wissen was nen Bonze ist, wenn sie ihn sehen und die politische Ökonomie dieser Diebesbande ist doch schnell erläutert. Hören wollen sie doch vor allem, dass sie sich nicht unterkriegen lassen müssen und das sie sich wehren können! Dies gilt es dem Volk entgegen zu rufen und praktisch zu veranschaulichen!“. Damit ist Most ganz in seiner Rolle. Seinen sozial-revolutionären Anarcho-Populismus, beziehungsweise das voran peitschende Element in ihm, nenne ich daher persönlich auch den „Most-Faktor“. Aber das habe ich ihm nicht gesagt. Er weiß, dass die Leute über ihn reden, reagiert darauf aber oft sehr gereizt…

Schau mal hier. Neulich die Versammlung in Chemnitz“, spricht er und zeigt mir ein Foto auf seinem Smartphone. „Wie viele Leute denkst du sind das?“, fragt er mich. Ich sage: „Naja, so viele scheinen es nicht gerade zu sein. Ich schätze mal grob siebzig“. Und er: „Was siebzig? Quatsch mit Soße, doppelt so viele sind ja nicht im Bild, weil se auf der anderen Seite vom Platz stehen und ein paar sind schon mit einer Sponti voran geprescht!“. Er wischt auf dem Gerät herum und fotoshopt recht zügig eine Sprechblase in die Ecke oben links, in welche er die Worte einfügt: „Dem Klassenstaat das Fürchten lehren! Erneut Kundgebung mit 300 Leuten am roten Turm. Voller Erfolg für die sozial-revolutionäre Bewegung!!!!“. Ja wirklich, er tippt dann fünf Ausrufezeichen ans Ende, bevor er das Bild in seinen social media Kanälen teilt.

Ein Kämpfer, ein Hater, ein Verachter des Reichskasperletheaters, in welches er tatsächlich mal für eine Legislaturperiode gewählt wurde, bevor er mit dem ganzen Parteienzirkus brach. Ein gekränkter Mensch, der sich aber nicht aufhalten lässt von Skepsis, Zweifeln, Selbstmitleid, die er einfach verdrängt. In gewisser Hinsicht, könnte ich mir schon manchmal eine Scheibe von ihm abschneiden, sage ich zu mir. Vor allem darf man halt nicht ganz einsam werden, wenn man sein Leben mit kämpfen verbringen muss – und darum verbringen will. Und auch Anderen Raum geben, ohne sich selbst dauernd zurück zu stellen. Diese Balance zu halten, ist schwierig, aber wichtig. Dann verabschiedet Johann sich schnell und murmelt etwas davon, noch einen Artikel fertig schreiben zu müssen. Vielleicht, so denke ich, braucht er aber auch mal etwas Zeit für sich und seine Zweifel?

 

 

Eine (anti-)politische Romanze

Malatesta erweist mir die Ehre (achte Geschichte)

Lasst euch nicht erzähl’n, ihr hättet ein Problem! Propaganda der Yuppi-Schweine, Arbeit hat man besser keine!“ höre ich, während ich am See liege, ein Seminar vorbereite, daran denke, dass ich Freitag wieder mal einen Vortrag halten werde und auch daran, dass ich meine Diss in ein handliches, verständliches Buch umschreiben müsste. Also ein neues Buch, dessen Lohn darin bestünde, dass vielleicht ein paar hundert Menschen mehr sich mit meinen Gedanken auseinandersetzen und weiterbilden könnten. Machen wir uns nichts vor: Meine Tätigkeiten sind extrem unsexy und stellen ja vor allem eine Prokrastination von Verantwortungsnahme und eigenem Lebensgenuss dar. Wieder einmal beschleicht mich dieses erschreckende Gefühl, dass mein Leben an mir vorbei zieht und immer schneller läuft. Und auch wenn ich denke, dass dies vielleicht allen bisweilen mal so geht, frage ich mich doch, ob sich hier nicht der Schraubschlüssel rein werfen ließe. Doch Leben ist Wandel und Stillstand ist Tod – die Konsequenz daraus wäre also das Gegenteil von dem, was ich anstrebe.

Wenn ich ehrlich bin, möchte ich ja nur meine Ruhe. Und ja, ich beneide auch die Menschen, die ihre Arbeit, ihre Familie, ihren geregelten Alltag, ihren Kleingarten haben. Sie sind damit im Durchschnitt sicherlich nicht mehr oder weniger zufrieden als ich, der ich permanent herum renne in meiner kleinen Welt. Oftmals auch nur innerlich. Naja klar, da fehlen eben Dinge. Sie fehlten schon immer, ebenso wie das Zutrauen darin, dass es besser werden könnte und mein Leben mehr wert sein sollte. Gegen einen gesunden Pessimismus ist nichts einzuwenden, denke ich mir. Gegen funktionale Depression schon. Denn andere können die Dinge eben etwas leichter nehmen oder lassen sich das eigene Glück zumindest nicht vermiesen, weil sie es sich wert sind.

Ich weiß, das klingt wohl ganz schön niederschmetternd. Besser aber die Dinge klar zu benennen, als die ganze Zeit um den heißen Brei herum zu reden. Es hat ja Gründe, warum ein Mensch zum Theoretiker und Anarchisten wird. In meinem Fall als anarchistischer Theoretiker kommen dann noch zwei ungünstige Dispositionen zusammen. Da will ich voranschreiten, doch die Meta-Reflexion hindert mich am unmittelbaren Leben, wie ich unterstelle, dass es meine Gesinnungsgenoss*innen könnten. Und als Theoretiker bin ich eben auch nicht mit mir im Reinen, weil ich wieder das Gefühl habe, ich müsste das erwähnte oder ein anderes Buch schreiben. Doch wozu, wenn es niemanden in der eigenen Szene interessiert und es im akademischen Raum ebenfalls nicht gewertschätzt wird?

Doch nun gut, was soll ich resignieren? Immerhin ist das Wetter wirklich schön, denke ich mir. Und gerade als ich auf das Fahrrad steigen will, erhalte ich eine SMS. Sie ist von Malatesta. Oh mein Gott! Merklich steigt mein Puls an und ich werde direkt faserig. Lange war es her, dass ich ihn getroffen hatte. Zuletzt war es auf einer Konferenz. Er wäre gerade in der Stadt, hätte was zu klären, aber auch etwas Zeit. Ob wir uns für einen Waldspaziergang treffen wollen? Ohne Handys versteht sich. Ich hatte heute keine Termine oder sonstigen Verabredungen mehr, aber wenn hätte ich sie sofort abgesagt. Oder einfach vergessen. Hoch erfreut antworte ich ihm also, fahre nach Hause und von dort zur vereinbarten Stelle mit der Bank vor den großen Platanen.

Dort steht der kleine Mann im Sommermantel bereits an einen Baum gelehnt. „Hallo Errico“, sage ich verlegen-erfreut und er kommt mir entgegen – doch wir umarmen und nicht, sondern schütteln uns nur die Hände. Doch blickt er mir mit seinem scharfen, verschmitzten Blick kurz tief in die Augen. „Lange war’s her, das wir uns gesehen haben… Ich glaube auf diesem Kongress in…“, spricht er. Und selbstverständlich erinnert er sich, weil er eben so ein aufmerksamer, pfiffiger Kerl ist. Damit beginnen wir unseren Spaziergang und sprechen über das Naheliegende: Über die (Anti-)Politik.

Malatesta erkundigt sich, wie es lokal und regional so läuft im anarchistisch-autonomen-antiautoritären Lager. Ob wir es hinbekommen eine gute Propaganda- und Kommunikationsarbeit zu machen. Ob wir neue Leute dazu gewonnen haben. Ob sich die Subkultur weiter entpolitisiere oder wieder ein rebellisches Refugium werden könnte. Wie der Stand unserer Debatte ist in Hinblick auf die aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen von Kapitalismus, Klimakollaps, Pandemie und Krieg. Ob wir eine vernünftige Bündnisarbeit mit anderen emanzipatorischen Strömungen hinbekämen und es schaffen würden, außerhalb unserer Blase aktiv zu sein. Geflissentlich beantworte ich alle seine Fragen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, mit einem Blick dafür zu unterscheiden, was ich generell feststellen kann und was meine persönliche Einschätzung ist. Denn warum sollte ich ihm etwas vormachen? Immerhin können wir nur Veränderungen bewirken, wenn wir die Gegebenheiten klar benennen und deuten.

Eine gute Weile sprechen wir auch darüber, was es bedeutet im Widerspruch mit der bestehenden Herrschaftsordnung zu leben und die Widersprüche in unserer Bewegung und in uns selbst auszuhalten. Denn wenn wir keine absoluten Wahrheiten haben, wie können wir dennoch darauf vertrauen, dass unsere Wege schon die richtigen sind? Und er erzählt auch von sich. Wie er die Dinge sieht; dass ihn bedrückt keine Zeit für seine Freundschaften zu haben, weil er so viel unterwegs ist für die Sache. Und das er es nicht mag, dass ihm sein Ruf vorauseilt – auch wenn ihn etliche Genoss*innen aufgrund seiner selbstkritischen Art und weil er den Finger in die Wunden unserer Bewegung legt, verfluchen. „Heute wirst du von der Masse gefeiert, morgen von ihr fallen gelassen. In einer Phase hast du Macht in der Bewegung aufgrund deines Engagements, in einer anderen mindert sich deine Anerkennung, weil irgendein von seinem Ego eingenommener Genosse plötzlich großspurige Reden von sich gibt und die anderen sich davon blenden lassen. Es bleibt kompliziert unter diesen Bedingungen eine langfristige Strategie zu entwickeln“, klagt mir Errico sein Leid. Und ich bestätige ihn fortwährend, weil ich den Eindruck habe, ich wisse genau. Denn ich denke, es wäre ohnehin alles so scharfsinnig, reflektiert und durchdacht, was er erzählt.

Es ist eben leider so. Ich bin etwas in ihn verknallt, glaube ich. Schon komisch, denn auch wenn ich mir meine homoerotischen Neigungen stets eingestehen konnte, hatte ich nie den Mumm, sie weiter zu verfolgen. Ein Begehren überkommt mich bei Männern sehr viel seltener als in Hinblick auf Frauen. Darüber hinaus fühlt es sich aber auch merkwürdig anders an. Geheimnisvoller, würde ich sagen. Und ich weiß nicht, ob ich nicht sogar bedauere, als junger Erwachsener nicht einfach andere Erfahrungen gemacht zu haben… Wie auch immer, ich hänge Malatesta an den Lippen. Also leider nur im übertragenen Sinne, nicht im wörtlichen. Denn dazu habe ich offenbar nicht den Mut. Mal abgesehen davon, dass ich ohnehin ziemliche Probleme mit dem Thema Erotik und Liebe habe, hat es auch bestimmte Gründe, dass ich mich nie mit Genoss*innen eingelassen habe. Ich vermute, es erschien mir intuitiv immer besser (Anti-)Politik und Romantik zu trennen, weil beides schon für sich genommen verwirrend genug ist und schnell zu Streit führt. Doch bei Errico könnte ich mir vorstellen eine Ausnahme zu machen… Sein Scharfsinn und seine Empathie verzücken mich. Ich halte ihn für weich, aber bestimmt. Er kennt seine Grenzen und kann führen. Ich würde mich gerne bei ihm fallen lassen…

Wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragt er mich, offenbar bemerkend, dass ich arg verträumt vor mich hinstarre. „Oh, ähmm, ähh“, stammle ich, „ich – ähhh – habe anknüpfend an das was du zu populären Mobilisierungen gesagt hast, darüber nachgedacht, in welchen Situationen ich mich habe begeistern lassen für … die Anarchie … und – ähm – mich dann eben zu organisieren. Letztendlich sind es doch immer die konkreten Menschen, die einen faszinieren und mitreißen, oder?“. „Eben“, entgegnet Malatesta milde. Und weiter: „Siehst du und du bist auch ein toller, reflektierter und kluger Mensch. Du kannst denken, aber koppelst das nicht von deinem Gefühl ab. Du kannst beurteilen, aber weißt um die Grenzen und Relativität deiner Einschätzungen. Du kannst Menschen auf deine Weise begeistern, ohne, dass du ihnen irgendwas vormachen brauchst. Das ist viel wert. Nutze diese Fähigkeiten und bring sie für unsere Sache ein“.

Tja und was soll ich sagen? Ich glaube es war der schönste, unausgesprochene Korb den ich im letzten Jahr bekommen habe. So trennten sich unsere Wege und wir vereinbarten, uns wieder beieinander zu melden beziehungsweise gegebenenfalls per Email in Kontakt zu treten, falls es etwas Bestimmtes gibt.

 

 

Selbstreflexion braucht solidarische Kritik

Goldman macht mir eine Ansage (neunte Geschichte)

Dann werde ich also auf die anarchistische Buchmesse fahren um meine Gedanken zu präsentieren und Mitte Juni in den Norden, um ein paar Veranstaltungen zu machen. Eigentlich würde ich nur so etwas machen, Seminare geben und Texte zu meinen Themen produzieren – wenn ich denn davon leben könnte. Es zumindest insofern einen gewissen Wert als das anarchistisches Denken am Leben gehalten, weiter gegeben und auch weiter gedacht wird. Und im deutschsprachigen Raum gibt es nun mal wenige Menschen, die dies als ihre Aufgabe erachten und mit erlernten theoretischen Fähigkeiten verbinden können. Das ist auch verständlich. Der Fame für nicht-institutionell angebundene anarchistische Intellektuelle, die sich nicht als besonders krass inszenieren, sondern besonders bodenständig sein wollen, hält sich sehr in Grenzen. Die paar Fans sind oftmals nicht zahlreicher als die paar Hater, die an mir was gefunden haben. Und die Bezahlung ist… nun ja, im Wesentlichen ein moralisch gutes Gefühl, mit meinen Fähigkeiten und meiner Seinsweise etwas sinnvolles gemacht zu haben.

Ich bilde mir manchmal ein, damit in manchen Fällen auch die lokalen Szenen zu bestärken, weil sie dann etwas Thematisches nach außen hin anbieten können. Schwierig ist es aber, wenn lokale A-Gruppen gar keine Aktiven hervorbringen, die mit einer gewissen Bildung in der Öffentlichkeit auftreten und sprechen können. Jetzt, wo ich sogar den langen, zermürbenden Weg der Promotion gegangen bin, wäre ich vermutlich sogar in der Position, Genoss*innen in anarchistischer Theorie und Veranstaltungen dazu auszubilden. Soll ich das aber wieder – wie gewohnt – alleine angehen? Es gibt auch Menschen, die auf einem ähnlichen denkerischen Level wie ich unterwegs sind. Diese sind aber wiederum nicht so aktivistisch eingestellt, als dass sie Anarchismus als potenziell sozial-revolutionäre, organisierende, vermittelnde und radikalisierende Kraft innerhalb emanzipatorischer sozialer Bewegungen begreifen. Sie machen vielleicht auch mal eine Veranstaltung, einen Text oder intervenieren in eine Debatte. Darüber hinaus denke ich aber, dass sie sich deutlich besser um sich kümmern und mit der Gegenwartsgesellschaft arrangieren können, als ich. Das ist allerdings erst mal eine Unterstellung von einem chronischen Nörgler.

Solche Überlegungen gehen mir jedenfalls durch den Kopf, als ich im Infoladen meines Vertrauens abhänge, um mir die Zeit zu vertreiben. Plötzlich schwingt die Tür auf und Goldman kommt stürmisch in den Raum. Ich merke gleich, sie ist unter Strom, energetisch und sauer. Sie stopft ein Bündel mitgebrachte Plakate in ein Regal, was offenbar der Anlass für ihren Besuch ist, wendet sich dann aber mir zu und fragt bissig, aber nicht unsolidarisch: „Na Herr Doktor, was macht die Agitation?“ Ich antworte, dass ich für Mitte Juni eine kleine Vortragsreise plane, schon etwas aufgeregt bin deswegen, mich aber freue, mit diesem Anlass mal raus zu kommen. „Und was macht das Selbstmitleid und das Kreisen um dich selbst, lost boy?“, hakt Emma weiter nach. Und ich merke, dass ich ruhig bleiben sollte, weil es uns beiden nichts bringen würde, hier und jetzt in eine Konfrontation zu gehen. Also antworte ich: „Wenn du schon nachfragst, das Übliche: Die Arbeit, die Wohnung, der Sinn und die Liebe. Vor allem die Liebe. Ich weiß eigentlich nicht, wo ich anfangen soll, diese Baustellen anzugehen.“ Sie darauf hin: „Und aus kritischer Männlichkeit wurde wieder mal nichts, ja? Zeit für Selbstmitleid haste, aber keine für Selbstsorge? Meine Güte, wenn ich nur halb so viele Genossen wie dich emotional durchbringen müsste, hätte ich auch mal wieder Zeit für die eine oder andere Mußestunde neben dem Vollzeitaktivismus.“ Darauf erwidere ich: „Jetzt gib mir aber auch mal ne Chance zur Weiterentwicklung! Wenn du mich an meinen alten Verhaltensweisen misst und die Kategorien presst, die du bei anderen Cis-Männern kritisierst, hab ich doch gar keine Möglichkeit, weiter zu kommen. Aber ja, wenn ich meine Selbstzweifel einfach über Bord werfen und so tun könnte, als wenn ich voll den Plan hätte, nicht am struggeln wäre und so weiter, kämst du als emanzipierte Frau besser darauf klar. Dann wüsstest du wenigstens, dass dieser Typ ein Typ ist. Und nicht so ein lädiertes Wrack in der männlichen Hierarchie, wie ich.“

Doch Goldman lässt nicht so leicht locker und ist im Streitgespräch erprobt wie kaum eine andere Genoss*in, die ich kenne. „Was für Ausreden, was für Ablenkungsmanöver. Ja dann sei doch verdammt noch mal ein Kerl, wenn du es nicht sein lassen kannst, aber emanzipiere dich von der Geschlechterhierarchie indem du aktiv gegen sie vorgehst!“ „Gut okay“, antworte ich. „Würdest du mir einen Hinweis geben, mir zu sagen, wo ich anfangen kann?“. „Ja, aber nur weil ich bei dir noch Potenzial sehe. Und sicherlich ist es nicht an sich meine Aufgabe! Also fang doch meinetwegen in der Theoriearbeit an und in den Geschichtchen über die Genossen, denen du jetzt allen noch mal begegnet bist. Sorel, Bakunin, Kropotkin, Landauer, Stirner, Pouget, Most, Malatesta – alles Typen. Dann gibt’s die antifeministischen Anarchos wie Sorel und Most – vor allem Most, dieser Arsch – und die patriarchalen Väterchen wie Kropotkin und Landauer. Bakunin hätte mal sein Selbstbild reflektieren sollen, Pouget ist so nen Nebenwidersprüchler und Stirner kann keine strukturellen Unterdrückungsverhältnisse sehen. Und was du über Malatesta geschrieben denkst … naja, sagt wohl eher was über deine Heteronormativität aus, als über ihn.“

Ja, so sieht’s aus“, sage ich. „Ich stimme dir zu. Es sind alles Typen, ein Verein weißer Cis-Typen. Also im Grunde genommen ein Männerbund. Und wenn du das kritisierst, wirst du gleich wieder als die Alibi-Anarchistin gesehen, die sich um den Feminismus im Anarchismus zu kümmern hätte, obwohl du eigentlich auch ganz andere Themen hast. Das ist scheiße, zugegeben. Aber ändert doch nichts daran, dass mich diese Genossen geprägt und beeindruckt haben, nun ja, dass sie eben auch geschrieben haben und ich mich jetzt darauf beziehen kann. Und in gewisser Weise muss ich mich ja auch auf sie beziehen, denn Anarchismus sollte schon auch so dargestellt werden, wie er historisch auch – ich sage: auch, nicht: nur – war.“ Emma wird nun etwas ruhiger, vielleicht weil sie merkt, dass ich in dieser Lebensphase besonders mit mir selbst zu hadern habe. Und es wohl auch rüber kommt, dass ich gar nichts zu verteidigen habe am Typen-Verein. „Nun gut, also das Wesentliche ist doch die Auseinandersetzung, ich denke, das sehen wir ganz ähnlich. Genosse bleibt Genosse beziehungsweise Genossin, auch mit seinen und ihren Schwierigkeiten. Als Anarchist*innen haben wir ja alle unsere Päckchen zu tragen. Und das ist in Ordnung, denn gesamtgesellschaftliche Emanzipation muss immer mit der Veränderung von Einzelnen einhergehen und durch ihre individuelles Engagement getragen werden. Deswegen stehen wir ja nicht für eine Politik der Masse ein, sondern plädieren für aktive, gut organisierte und reflektierte Minderheiten. Sie können den erforderlichen, grundlegenden Wandel bringen, wenn sie sich aufeinander beziehen und miteinander verbünden. Das bedeutet dann aber auch: Den Strich zu ziehen zu reaktionären Kräften, etwa Antifeministen, Homophoben, Verschwörungsmythologen und Antisemiten in den eigenen Reihen.“

Und so verstricken wir uns noch eine gute Weile in ein tieferes Gespräch über dies und jenes. Wir kotzen zum Beispiel noch mal über die antiimperialistischen Tankies und Putin-Versteher ab, während wir zugleich darum wissen, dass unsere Leute in der Ukraine auch nicht viele sind und sich in einem großen Widerspruch befinden. Damit umkreisen wir das Thema, weshalb es so schwierig ist, heute antinationale Perspektiven aufzumachen – stellen dann aber wiederum fest, dass es in früheren Zeiten auch nicht leicht war, solche aufzumachen. Es ist eben das Schöne mit Goldman, dass wir uns streiten und uns dann trotzdem wieder über (anti-)politische Themen austauschen können, die zugleich unsere eigenen Gefühle, unsere Traurigkeit, Wut, Freude und Hoffnung, dazu nicht ausschließt. Auf diese Weise ist es für mich auch einfach einzusehen, dass ich mich noch persönlich in einiger Hinsicht weiterentwickeln muss. Als auch, dass eine ansprechendere und angemessenere Theorieproduktion betreiben will, in der andere Perspektiven einbezogen werden. Dass ich dabei ein weißer, akademischer Mann bin, ist nicht der Punkt, sondern ob ich meine, aus diesen Gründen eher etwas zu sagen zu haben, als andere. Das denke ich meistens nicht. Und trotzdem spreche ich weiter zu den Themen, mit denen ich mich lange beschäftigt habe und was sagen kann…