Kronzeuge im Fall Lina E.: Weshalb er mit der Polizei kooperiert
Neue Erkenntnisse der Polizei bringen Bewegung in den Prozess gegen Lina E.: Das Gericht prüft, ob ein ehemaliger Vertrauter in der Verhandlung aussagen kann. Der Mann soll zur mutmaßlich linksextremen Gruppen gehört haben. Warum kooperiert er jetzt mit der Polizei?
Dresden. Seit September 2021 läuft der Prozess gegen Lina E. und drei Männer wegen Übergriffen auf Neonazis, mühsam war bislang die Aufarbeitung, doch nun kommt Bewegung in den Fall: Ein mutmaßliches Mitglied der Gruppe hat bei der Polizei ausgepackt und soll nun möglicherweise auch vor Gericht aussagen. Die LVZ hatte zuerst über neue Erkenntnisse in der Sache berichtet.
Die Leipziger Studentin Lina E. wird vorgeworfen, Kopf einer linksextremen Bande zu sein, die vermeintliche und tatsächliche Neonazis angegriffen und zum Teil schwer verletzt haben soll. Sie steht deswegen vor dem Oberlandesgericht Dresden. Mit ihr sind drei Männer angeklagt – aber die mutmaßliche Gruppe um Lina E. soll größer gewesen sein. Ermittelt wird unter anderem auch gegen einen jungen Mann. Der 30-Jährige soll an einem Übergriff auf einen rechtsextremen Kneipenwirt in Eisenach und an den Planungen eines letztlich abgeblasenen Angriffs auf den Leipziger Rechtsextremen und damaligen Jura-Studenten Brian E. beteiligt gewesen sein. Jetzt hat der Zeuge bei der Polizei ausgesagt – mehr als 20 Seiten soll die Niederschrift seiner Vernehmung umfassen. Ob er vor Gericht aussagen kann, soll nun geprüft werden.
Zeuge in der linken Szene geächtet
Diese Wendung im Prozess ist spektakulär, denn bislang ist es der Polizei kaum gelungen, über Zeugen aus dem inneren Kreis an Informationen aus der linksextremen oder linksautonomen Szene zu kommen. Bei dem jetzigen Zeugen ist der Fall besonders: Er ist im Oktober in der linken Szene wegen mutmaßlicher Übergriffe auf Frauen geoutet worden, unter anderen über Artikel auf sogenannten Szeneseiten im Internet. Eine Gruppe, die die mutmaßlichen Mittäter um Lina E. unterstützt, entzog ihm die Solidarität. Er war fortan ein Ausgestoßener – und für jemanden, der Teil von Strafermittlungen ist, kann das auch ein finanzielles Problem sein. Allerdings, so äußerte sich das Solidaritätsbündnis „Soli Antifa Ost“ im Januar, habe der Mann „bislang keine materielle Unterstützung“ von dem Bündnis erhalten.
Sollte er vor Gericht aussagen, dürfte das den Prozess maßgeblich beeinflussen. Während einige der Taten einzelnen Angeklagten vergleichsweise gut zuzuordnen sein dürften, etwa über DNA-Spuren oder die Festnahmen unmittelbar nach einem Angriff in Eisenach, war bislang vor allem eine Frage offen: Gab es eine kriminelle Vereinigung, so wie es die Anklage unterstellt? Gab es also das Konstrukt, das die umfassenden Ermittlungen der Polizei inklusive Abhörmaßnahmen in dem Fall überhaupt juristisch erlaubt?
Gab es wirklich eine linksextreme Gruppe?
Die Generalbundesanwaltschaft sah das bislang unter anderem durch zwei Dinge belegt: Einmal habe man ermitteln können, dass die Gruppenmitglieder konspirativ über spezielle Aktionstelefone miteinander kommunizierten. Zum anderen wurden abgehörte Gespräche angeführt, in denen Aussagen wie „Das waren wir“ in Bezug auf eine der Taten als Beleg für eine Gruppe herangeführt worden waren. Die Verteidigung stemmte sich bislang immer gegen diese Interpretationen: Aktionstelefone seien gerade bei Demonstrationen in der linken Szene üblich, um unberechtigten Überwachungsmaßnahmen zu entgehen. Und aus dem Kontext gerissene, einzelne Sätze könnten auch ganz anders gemeint sein: „Wir in Connewitz“ etwa statt „wir, eine bestimmte Gruppe“. Schon als der Zeuge als vermeintlicher Gewalttäter geoutet wurde, war die Sorge in der Unterstützerszene von Lina E. groß, was das für den Prozess bedeutet – gerade im Hinblick auf die von der Polizei ermittelte und vor Gericht verhandelte Gruppenstruktur.